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Funkenmariechen des Todes

Samstag

Auf den Treffen der Gruppe 47 saß ich meist hinten. An meinem Handgelenk trug ich einen Gummiring. Ich benutzte ihn, um kleine Papierkugeln abzufeuern. Meine beliebtesten Opfer waren Grass und Richter. Ich zielte! Zack! Das war der Hinterkopf von Reich-Ranicki gewesen. Seine flache Hand patschte sich in den Nacken, weil er wohl dachte, er wäre von einer Stechmücke erwischt worden. Er sah sich grimmig um. Er ahnte, dass es sich um einen Anschlag gehandelt hatte. Ich lächelte ihn an. Zeigte vorsichtig auf Handke, der sich sein Haar über die Augen bog, um schlechter sehen zu können. Reich-Ranicki bedanke sich mit einem angedeuteten Nicken. Wenn sie über die vorgestellten Textauszüge diskutierten, rief ich manchmal: „Langweilig!“ Die Runde stockte. Erzürnt sah man sich nach dem Störenfried um. Als sich ihre Blicke auf mich hefteten, murmelte ich gelangweilt: „Jens war es!“ Walter Jens sprang wie von der Tarantel gestochen auf und beteuerte seine Unschuld. Reich-Ranicki zuckte mit den Schultern und meinte, ihn auch gehört zu haben. Im nächsten Augenblick lagen sie sich bereits in den Haaren. Endlich war bei diesen drögen Treffen etwas los. Wir anderen umringten die Streithähne und forderten sie auf, sich an den Ohren zu ziehen. Einzig Handke blieb sitzen, gähnte und sah auf seine Schuhspitzen. Es gäbe hier eine gewisse Diskussionsimpotenz, erklärte er mir später. Er warte nur noch das Treffen in Princeton ab, dort werde er sich endgültig einmischen. Er werde eine spontan gehaltene Rede halten, die längt geschrieben sei. Hatte sich erst alles wieder beruhigt, lasen sie sich wieder ihre Texte vor. Öde! Ich spielte mit meinem Gummi herum, bis ich einen Hinterkopf gefunden hatte, der nach einer Papierkugel förmlich schrie. Hans Mayer hob den Arm und zeigte in meine Richtung. „Der da, der schießt mit Papierkugeln!“ Ich zeigte erstaunt auf mich. „Ich? Ich war das nicht!“, rief ich. „Das war Martin!“ Ich sprang empor! Mein gestreckter Arm beschuldigte Martin Walser. Der bekam es aber gar nicht mit, weil er schlief. Seine Lippen bebten. Er schien zu lächeln. Und weiter ging es. Sie wissen ja, wie das damals war. Blablablablabla! Nur einmal hielten wir alle zusammen, das war, als Celan die „Todesfuge“ vortrug. Da kannten wir keine Gnade! An diesem Tag war ich nicht der einzige, der mit Papierkugeln schoss. Später tat es mir leid. Meine Teilnahmen wurden seltener. Und als ich aus „Lampenschirm der Eitelkeiten“, meinem damaligen Roman, vorlas, verließen die meisten Kollegen aus Protest den Lesesaal. Nur Handke blieb sitzen und rückte seine Brille zurecht. Ich mochte ihn, auch wenn er mir überhaupt nicht zuhörte. Er schien so abwesend, vor allem, wenn er mit seinen langen Haaren beschäftigt war. Lesung Herbst_Rohm 010 Als ich aus „Lampenschirm der Eitelkeiten“, meinem damaligen Roman, vorlas, verließen die meisten Kollegen aus Protest den Lesesaal.

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