Heidewitzka, wer kommt denn da durch das Unterholz gekrochen? Das ist doch Familie Mhor. Mal genauer hinsehen, auch wenn es die Augen schmerzt, die sich erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen. Tatsächlich! Das sind sie ja. Ganz vorne Retep Mhor, dahinter Adreg, sein geliebtes Weib, die ihren Sohn Odiug anstachelt, voran zu gehen, da man nicht weiß, was die Fremde offenbaren wird.
„Kauf, du undankbarer Sohn meines Mannes!“, herrscht die Mutter den Sohn an. Erschrocken zuckt sie zurück, wollte sie doch herrschen: „Lauf, du undankbarer Sohn meines Mannes!“
Odiugs Augen blitzen auf. Kaufen, hat sie gesagt. Und schon zischt er davon, hin zum nächsten Kiosk, das nicht weit entfernt auf Kunden wartet.
Familie Mhor kroch durch das Unterholz, das sich neben dem Spielplatz befindet.
Odiug ist Kaufsüchtig. Hätte er genug Geld, nichts wäre vor ihm sicher, nicht einmal die Katze des Kioskbesitzers Herr Schaft, der auf eine lange Ahnenreihe von Kioskbesitzern zurückblicken kann. Schon sein Vater besaß eins. Sein Großvater. Sie alle standen hinter dem kleinen Tresen, der sie von den Normalsterblichen trennt.
„Was darf es sein?“, fragten sie alle.
In manchen stillen Abendstunden kann Herr Schaft ihn hören, den großen Chor, der aus Vergangenheit dröhnt und fragt: „Was darf es sein?“
Die Katze des Kioskbesitzers trägt den Namen Kater. Kater ist den ganzen Tag auf der Mäusejagd. Mäuse sind seine Bestimmung. Gott, wie er sie liebt.
Eben gerade, da Odiug den Laden betritt, hat sie sich hinter einer Maus aufgebaut, um sie, wenn möglich, mit einem gezielten Prankenschlag zu erlegen.
Das sind die Gesetze der Kiosknatur. Hier überlebt der Stärkere, weshalb Herr Schaft gewaltbereiten Kunden auch gerne mal etwas schenkt. Ein Colafläschchen oder auch zwei.
Odiug zittert am ganzen Leib.
„Ja, was ist denn mit dir, mein armer, kleiner Junge?“, fragt Herr Schaft, ganz erstaunt, dass er nicht gefragt hat, was es sein darf.
Bemächtigt sich da etwa eine menschliche Regung seines Dasein. Er will es nicht hoffen, denn so tickt er nicht. Er ist Kapitalist, mit Herz und Hand, die er nun ausstreckt.
Odiug blickt in die geöffnete Hand. Ob er sie schütteln sollte? Er könnte auch einschlagen. Das ist cooler, das hat er von seinen Schulkameraden gelernt.
Odiug entschließt sich, zuerst die Frage zu beantworten, die man an ihn stellte. Immerhin ist er gut erzogen.
„Ich zittere, weil ich Kaufsüchtig bin“, sagt Odiug.
Herr Schafts Augen glänzen bei dem Wort KAUFSÜCHTIG. Solche Menschen wünscht sich sein Kapitalistenherz.
„Dann lass dich nicht aufhalten“, rät Herr Schaft Odiug.
Jetzt fällt es von Odiug ab. Er kann es nicht länger halten. Bisher hatte er sich noch im Griff. Hemmungslos weint er los und klagt: „Ich habe gar kein Geld, aber meine Mama hat mir befohlen, ich müsse kaufen!“
„Eine gute Mutter“, sagt Herr Schaft.
Er überlegt. So schlecht, wie er bisher annahm, scheint es um die Erziehung des Menschengeschlechts noch nicht bestellt zu sein, wenn Mütter ihre Kinder dazu anhalten, Geld auszugeben. Die Kauflust, denkt Herr Schaft, sie ist es, die uns von den Tieren unterscheidet. Tiere kaufen nicht, das ist ja das Widerliche an ihnen. Darum töten und essen wir sie auch. Niemals würde man so mit potentiellen Kunden verfahren.
„Wenn du kein Geld hast“, sagt Herr Schaft, „musst du eben welches verdienen!“
Odiug blickt erstaunt auf. Verdienen? Irgendwo hat er dieses Wort doch schon mal gehört.
„Du verdienst Prügel!“
Jetzt fällt es ihm ein. Sein Vater benutzt das Wort, wenn der Fernseher wieder mal nicht richtig funktioniert. Erbost steht der Vater davor und drohte dem Gerät, es aus dem Fenster zu werfen, wenn es nicht bald die gewünschten Bilder auszuspuckt.
Odiug blickt hinauf ins Antlitz des Kioskbesitzers und fragt: „Geld kann man verdienen? Was muss ich dafür tun? Etwa streiken?“
„Nur, wenn du Mitglied in einer Gewerkschaft bist.“
Odiug sinnt. Nein, Mitglied in einer Gewerkschaft ist er nicht, dafür aber in einer Bande, die er mit seinem Freund Xela dereinst vor vielen wilden Wintern gründete. Sie nannten sich Familien-Bande.
Odiug steht mitten im Kiosk und erinnert sich. Xela war mit seinem unsichtbaren Pferd angeritten gekommen. Sie alle besaßen solche unsichtbaren Pferde. Wild aufbäumend, kaum zu bändigen. Wie oft war er abgeworfen worden? Bestimmt siebenundfünfzigmal.
Sie waren Kauboys. Die einzigen im Viertel, die sich aufs Saufen, Kauen und den Viehtransport verstanden.
Nachts schliefen sie zu Hause, auch wenn sie sich einbilden konnten, unter den Sternen zu nächtigen, was sie ja auch irgendwie taten, rechnete man die Decke und das Dach mal ab, die sie vom Universum trennten.
Der Tag, an dem sie die Bande geründet hatten, war ein heißer Tag gewesen. Die Sonne hatte den ganzen unbarmherzig am Himmel gestanden und gestrahlt, als hätte sie am Morgen eine frohe Botschaft erhalten.