Wenn es mich überkommt, dann singe ich meine Erzählungen zur Melodie von Helge Schneiders „Katzeklo“. Wie man an der jungen Dame vorne sehen kann, goutiert man meine Darbietung mit dem Abschatten der Augen. (In Fulda ist dies die höchste Form der Beifallsbekundung.)
Monat: November 2012
Über meine Missgeburten
Lese ich in meinen eigenen Texten, blicke ich ihnen ins Gesicht, später, nach einem Tag, einer Woche, dann wundere ich mich manchmal. Komm mal her, sage ich zu dem einen oder anderen von ihnen, betaste seine Stirn, die aufgebläht wirkt, die Augen, die zu klein, nichts sehen können, die nahezu in seinem unförmigen Kopf verschwinden, die von ihm verschluckt werden, als würde er sich ihrer schämen.
Hässliche Textkinder tummeln sich zuhauf in meinem Haus. Sie sabbern und können nicht richtig sprechen. Ihre Gliedmaßen sind gebrochen, wirken verrenkt. Meine Natur hat es nicht gut mit ihnen gemeint. Sie sind die Früchte eines schnellen Schreibficks. Nach einer Schwangerschaftszeit von etwas zwanzig Minuten wurden sie von meinen Fingern in die Tastatur gepresst. Ein rasches Überlesen, dann wird die Nabelschnur zerschnitten. Die Copyandpasteamme trägt sie ins Säuglingszimmer meines Notizbuches. Dort wachsen sie auf, unbeachtet von mir, der ich längst andere Kinder zeuge. Kind auf Kind entsteht so, also auch die hässlichen Bälger. Hin und wieder verirrt sich eines von ihnen in meinem Blick, irrt umher, erkennt mich, will mich ansprechen, der es mustert, von oben bis unten, sich wundernd, wie mir derlei Geschöpf aus dem Füller laufen konnte.
Aber keines von ihnen wird abgetrieben oder später ersäuft, niemals. Sie sind auf der Welt und dürfen leben, auch wenn sie alleine durchkommen müssen, wenn sie sich durchschlagen müssen, irgendwie.
Und umso öfter ich sie betrachte, meine missgestalteten Texte, desto mehr Freude bereiten sie mir. Eben weil sie nicht geraten sind, wohnt ihnen ein ganz besonderes Geheimnis inne. Etwas, das man nicht verstehen kann. Nicht restlos deuten. Ihre Augen sind schwarze Seen, die weder Tiefe noch Leben erahnen lassen, sonder nur eine Dunkelheit, die kein Licht einlässt. Alles und jeden sperren sie aus, meine behinderten Textkinder, die kaum stehen können, geschweige denn einen graden Satz zuwege bringen. Sie wohnen in sich, bleiben tief in ihrem Selbst. Dort harren sie der Welt, die sie nicht verstehen. Kein Gespräch entsteht. Der Leser bleibt außen vor. Ein Zaungast, der in einen Zoo blickt, der mit Freaks bald überlaufen wird.
Ich werde mich nicht um all meine Missgeburten kümmern können, aber ich werde keines von ihnen, tippt es mich zaghaft an, zupft es mich am Ärmel, von mir stoßen. Ich werde es in den Arm nehmen und wiegen, werde ihm ein Schlaflied summen. Und dann werde ich an ihm riechen, werde ich es fühlen; abtasten werde ich es, werde wissen, dass es eines meiner zahlreichen Textkinder ist.
Es gehört zu mir, weil ich es zeugte. Es ist einzigartig. Das sollte es nie vergessen.
Warnung vor der Warnung
Eine Warnung
Es sind die Warnungen, die sich verkleiden und abhalten wollen. Sie schlüpfen in die verschiedensten Rollen, füllen alles aus. Hören Sie lieber nicht zu! Lauschen Sie ihnen nicht! Denken Sie nicht darüber nach! Die Warnungen beugen sich mit einem Lächeln zu unseren Köpfen hinunter und flüstern. Niemand, der sie aus der Ferne sieht, würde vermuten, dass sie tun, was sie tun. Meist sind die Warnungen noch mit etwas anderem beschäftigt. Mit unterrichten. Mit regieren. Mit dem Setzen von Steinen. Normal wirken sie, unscheinbar. Sie führen Leben, die wie Tropfen im Gesellschaftsmeer aufgehen, die darin verschwinden. Sie sind das Meer. Behaupten es von sich. Deshalb, weil sie die große Wassermasse zu vertreten meinen, warnen sie ja auch. Sie beobachten unablässig. Das Beobachten ist ihnen kein beobachten, sondern ein hinsehen. Wie sollten sie wegsehen, so argumentieren sie, wo die Augen doch auf die Dinge fallen. Die Ohren auch. Alles an ihnen fällt nicht auf, aber auf die Gegebenheiten, um sie bald schon mit einem Warnschild zu besetzen. Da die Warner vor allem warnen, warnen sie auch vor Warnschildern. (Dieses und jenes könne nicht sein, es ginge nicht an. Wo käme man denn hin, wenn Brachland zur Verbotszone würde, und dies nur eines Warnschilds wegen.) Sie warnen davor, sich vor der Warnung abschrecken zu lassen, denn die Warnung ist dem Warner kein Beruf. Sie ist seine Lebensaufgabe, sein Steckenpferd, seine Leidenschaft, sein Leben. Der Warner atmet die Warnung. Sie fliegt aus seinem Mund, nicht, weil sie einen Sinn ergeben, sondern weil sie ausgesprochen werden muss. Was bliebe vom Warner übrig, könne er nicht mehr warnen? Nichts! (So sieht es der Warner und warnt davor.) Ein Kellner, ein Lehrer, ein Politiker, ein Schriftsteller. Er wäre nur einer von vielen. Ein Opfer. Er weiß es. Was mit ihm geschehen könnte, dürfte er nicht mehr warnen, liegt ihm klar auf der Hand. Es ist ihm eine Warnung, die er so nicht stehen lassen kann.
Gewarnt sollte man sein, wenn man auf Menschen trifft, die einen warnen wollen.
Eine Anklage
Das Leben führt Klage, die Literatur hätte es beschrieben. Abgeschrieben habe es. Das käme einer Todeserklärung gleich. Derart verkäme die Literatur zum Totenschein. So könne, so dürfe man nicht mit ihm umgehen, nicht mit ihm: dem Leben.
Das Gegenteil des Todes wäre es. Eine Gegenerklärung zum Tod. Totenscheine seien da überflüssig. Und somit auch die gesamte Literatur. Ein Widerruf sei nötig. Sei zu erwarten. Das Leben verlange ihn. In schriftlicher Form habe selbiger zu erfolgen. Erzählen solle sie, beschreiben und berichten, wie und wann es zum Abschreiben gekommen sei. Denn wenn, so wie gesichtet, die Literatur das Leben abgeschrieben habe, dann läge der Verdacht des Betruges nahe. Es könne eine Klassenkonferenz einberufen werden. Die Literatur würde wiederholt werden müssen, denn so könne man die vorliegende Arbeit nicht anerkennen. Dies alles sei kein Kavaliersdelikt. Ein Delikt in jedem Fall. Ein Verbrechen. Ein Klassenbucheintrag müsse folgen, wenn nicht gar ein Verweis.
Das Leben will es sich nicht länger gefallen lassen, Objekt der Literatur zu sein. Wie käme man sich denn da vor? Wie ein Gebrauchsgegenstand, ein Ding, das von jedermannfrau beschrieben werden darf. Eine Vergewaltigung sei es. Ein Missbrauch im Hinterzimmer der Zeit, die, so das Leben, auch bereits über eine Klage nachdenke, da sie, so höre man, zu oft schon von der Literatur ins Seitenbett gezerrt worden sei.
Und die Zeit, so das Leben weiter, sei noch minderjährig, bei der kleinen Menge an Jahren, die sie auf dem Kinderbuckel habe, müsse man hier, das Leben ziert sich einen kleinen Augenblick, das Wort Pädophilie ins Feld führen.
Wie man hört, sind alle Klagen beim Obersten Gedichthof eingereicht worden.
Die Dinge, die hinter mir liegen, verschwinden im Abendrot. Sie liegen auf einer Bank, vergessen, während ich auf der Pritsche eines Lastwagens sitze und mir den Kopf halte, durch die Nacht brausend, dem Morgen entgegen. Wind schlägt mir, der ich der Abwechslung wegen manchmal stehe, ins Gesicht, ein Wind, der von vorne kommt, aus der Zukunft, in die wir rasen. Straße ist ein Stück Zeit. Autos sind Zeitmaschinen. Ich holpere über die Zeit, werde von der Maschine, die jede Zeitunebenheit zur Kenntnis nimmt, die sie aufnimmt und weiterleitet, durchgeschüttelt. Die Zeitmaschine, auf deren Pritsche ich lebe, ist alt. Der Rost hat sich in sie verbissen wie ein stürmischer Liebhaber, der seine Geliebte zum Fressen gern hat. Müllreste (dies könnte ein ehemaliger Müllwagen sein) verkümmern in den Ecken. Dort, eine Brotscheibe ohne Belag, die aussieht, als wäre sie vom Teller ihres Besitzers gerissen worden, einfach so, man mag sich gar nicht vorstellen, was geschah. Vielleicht wurde er verhaftet, vielleicht traf ihn der Tod, bevor er sein Frühstück angehen konnte. In der Zeitmaschine finden sich allerlei Dinge, die ich nicht gebrauchen kann, die aber etwas mit ihren Vorbesitzern zu tun haben müssen, und die mir etwas erzählen wollen, dass ich nicht verstehe. Zu abstrakt sind ihre Geschichten. Ein Gürtel liegt dort. Ein halbe Packung Tempos. Ein Buch ohne Titel und Inhalt. (Ja, es sind tatsächlich leere Seiten, drum stecke ich das Buch ein, in der Hoffnung, bald noch einen Stift ergattern zu können, um die Seiten bei Gelegenheit zu füllen. Ich könnte aus dem Buch ohne Inhalt ein Notizbuch machen. Ein Notizbuch wäre eine feine Sache, denke ich, denn dann fänden all die Gedanken und all die Sachen, die ich hier hinten auf der Pritsche dieses Zeitmaschinenlastwagens noch finde oder bereits geortet habe, ein neues Zuhause. Ich könnte den Dingen, die scheinbar keine Geschichte haben, eine Geschichte schenken.)
Der Wagen donnert weiter, direkt in den neuen Tag hinein, immer weiter Richtung Zukunft. Ich halte mir weiterhin den Kopf und genieße die aufkommende Morgenbrise.
Alles Lüge
Ein Vorstellungsgespräch mit dem Selbst
Jetzt regiert wieder die Vorstellung über die Vorstellung. Ich stelle mir vor, was alles geschehen könnte, aber noch nicht passiert ist. Ungeschehenes wird in den Kopf fantasiert, wird in ihm produziert. Ein kleines Filmstudio wird im Hirn errichtet. Das Grau dort oben wird mit Tischen und Stühlen bestückt. Scheinwerfer werden errichtet. Kameras aufgestellt. Schaufensterpuppen auf Stühlen platziert. Kerzen werden entzündet. Alles andere wird verdrängt. Die Vorstellung über die Vorstellung füllt alles aus. Sie verdrängt die Restgedanken, die sich in den Keller zurückziehen, die im Unterbewusstsein hocken, bis der Fliegerangriff der momentan herrschenden Vorstellung vorüber ist. Gewaltsam schreitet sie. Nimmt Platz an einem Tisch und liest das bereits Geschriebene. Merkwürdig leise ist sie, die herrschende Vorstellung. Anderes hätte man von einem Diktator erwartet. Vielleicht tut er aber auch bewusst, was er tut. Angst will er mir einjagen, will sie in meiner Vorstellung detonieren lassen, um so die Realität, die der Vorstellung auf dem Fuße folgt, zu verwüsten. Die Fantasie müht sich darum, die realen Vorgänge bereits jetzt zu ordnen. Nicht zu meinen Gunsten, wie ich vermute. Auch dies nur eine weitere Vorstellung, eine Wahnbildvorstellung, die mir etwas einreden will, von dem ich nicht weiß, ob es so oder so (oder ganz anders) ist (oder werden wird). Die Wahnvorstellung ist meine Lieblingsvorstellung, weil sie der Fantasie Flügel verleiht. (Achtung: Eben saßen Sie einer versteckten Werbung auf!) Ist die Wahnvorstellung erst aktiviert, ist alles zu spät. Sie galoppiert mit meinen Kopfgegebenheiten auf und davon. Meist ist sie in der Ferne noch wahrzunehmen. Um sie zu deuten, sie zu interpretieren, bedienen ich mich einer weiteren Vorstellung. (Was für ein Vorstellungsalat!) Ich stelle mir dann also vor, was die Wahnvorstellung sich vorstellen könnte. Wirrwarr entsteht, den ich aufschreibe, so wie in diesem Fall. (Dies ist ein Notizzettel. Hier darf es stehen.)
Nichts ist wirklich, weil da Gedanken sind, die sich Gedanken über Gedanken machen, so wie an diesem Morgen, da ich mir meine Abendvorstellung bereits am frühen Morgen vorstelle. Nichts wird so kommen, wie es von mir in den Kopf gestellt wurde.
Es wird meine Nachstellung sein, die das Geschehene nachspielt, um feststellen zu müssen, dass auch meine Erinnerung ein Lügenbaron ist, der mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Vergangenheit ans Fantasielicht zieht.
Alles Lüge, aber dies zumindest scheint mir wahr zu sein.
Der Zuhörer, bewaffnet mit einer Fotokamera, mit Block und Stift, sitzt mir gegenüber. Ich erzähle ihm, was ich von mir hören möchte. Die Worte springen aus meinem Mund wie kleine Hundertmeterläufer. Schweiß steht ihnen auf der Stirn. Der Atem will ihnen ausgehen. Der Atem wird zu einer Ware, die nur begrenzt vorrätig ist. Der Zuhörer nickt meine Worte in seinen Schoß. Dort verliert sich sein Blick, den er nicht mehr zu finden scheint. Ausdruckslos sieht er mich an, während ich die Worte in seine Richtung wedele, damit er, wenn er sie schon nicht fassen, die Worte wenigstens riechen kann. Er verzieht sein Gesicht. Keine Ahnung, ob mein Gesprochenes riecht, stinkt, ob es ihm Übelkeit bereitet. Ich schnüffele den Sätzen hinterher, erhasche aber nichts, dessen ich mich schämen müsste. Die eine oder andere Zugabe hätte ich mir ersparen sollen. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Was aber, wenn man bereits in der Not spart? Für welche noch folgende Zeit spart man an? Für die Notnotzeit? Die Unternotzeit? Der Zuhörer erhebt sich, nicht über mich, sondern nur von seinem Stuhl, den er von sich schiebt, leicht angewidert, als handele es sich um ein schmutziges Kind, auf dessen Hände er achten muss. Ich solle mich in Positur setzen, sagt der Zuhörer. Ich bin erstaunt, dachte ich es doch hier nur mit einem Zuhörer, nicht aber auch noch mit einem Zuschauer zu tun zu haben. Der zum Zuschauer mutierte Zuhörer will mich betrachten. Durch den Fotoapparat sichtet er mein Gesicht. Neuland, auf das er sich retten könnte? Nein, nein, beruhigt er mich. Er mache nur ein Foto. Dann ist die Zusammenkunft beendet. Der Zuhörerzuschauer schüttelt meine Hand, wild und ungezügelt, als würde er auf einen Zuritt spekulieren.
Nicht lange später geht er, nicht ohne sich noch kurz nach mir umzusehen, stumm, bis ich mich ihm anschließe, bis auch ich verstumme, bis ich in sein Stummsein einstimme und wir zusammen seinen Abschied verschweigen.
Dies ist der Tag vor dem Tag. Tage folgen sich unaufhörlich. In einer langen Kette stehen sie vor unserem Grab. Manche Tage klopfen sich auf die Schulter. Rechts zumeist. Würde man sie darauf ansprechen, warum es ausgerechnet die rechte Schulter ist, würden sie schweigen, weil sie nicht wissen, was sie tun. Tage werden hauptsächlich getan. Das ist ihr Los, dem sie sich beugen. Missbrauchte Geschöpfe sind sie, die von uns mit Unsinn und Tränen, mit Lachen, mit Intrigen, mit Kämpfen gefüllt werden. Ist man nicht vorsichtig, wird der Tag dicker und dicker, fett wird er und muss am Ende eine Diät machen. Andere Tage wiederum sind zu dürr. Zwanghaft versuchen die Menschen, die einen dürren Tag an der Hand halten, ihn aufzupäppeln. Sie füttern ihn mit Vormittagsfernsehen, mit Romanen, mit einem Attentat. Es gibt Tage, die werden zu Verbrechern erzogen.
Die Anzahl der Tage, die sich für uns am Friedhof anstellen, ist errechenbar, wenn man im Sarg liegt. Leider tut man sich im Tod schwer mit Mathematik, auch mit anderen Denksportaufgaben. Sonst wäre es möglich, die genaue Anzahl der Tage zu bestimmen, die eine Schlange bildeten, die anstanden, um uns ans Lebensende zu transportieren.
Die Tage sind LKWs, die uns über die Schnellstraßen, die Nebenstraßen, die Hauptstraßen des Lebens zum Enddiscounter liefern. Wir sind nichts anderes als Fleischstücke, die sich frisch zu halten versuchen, um irgendwann gepflegt verrotten zu dürfen.
Merkwürdig sind sie, diese Tage, die Anhänger für uns sind, die wir nicht nur bewohnen, sondern auch ausstatten wollen. Drum tapezieren wir die Tage. Schleppen Sessel in sie rein. Hängen Fotografien an ihre Wände. Wir schreien uns in ihnen an, während sie darauf warten, ans Ende einer Schlange zu kommen, deren Biss tödlich ist.
Heute ist also der Tag vor dem Tag. Morgen kommt ein anderer Tag, der hinter einem Tag steht, der wiederum hinter einem Tag steht, bis wir erschrocken feststellen, dass kein Tag mehr vor dem Tag heute steht.
Ich habe mir eine gewisse Ruhe erlesen, habe sie mir aus einer Geschichte auf den Körper gelesen. Der Takt, den die Worte schlagen, den sie vorgeben, hat sich in mein Gesicht gesetzt, auf meine Nase. Dort sitzt der Takt, einen Stock in der Hand und klopft seinen Namen auf das Nasenbein, mich fragend, wo Nasenkopf und Nasenarme seien. Ein armes Schwein sei das Nasenbein, sagt er. So allein auf einem Bein. Nein, nein, erwidere ich dem Takt, der mir taktlos scheint. Das Nasenbein bildet den größten Teil des Nasendachs. Drunter liege die Nasenhöhle. In die könne er sich begeben, wenn es ihm auf dem Nasenbein nicht länger gefalle. Der Takt schüttelt verneinend den Kopf: Hier sei er, hier bleibe er.
Mir soll es recht sein. Der Takt, den ich mir auf die Nase gelesen habe, ist zwar naseweis, entbehrt aber nicht einer gewissen unterhaltsamen Ader, die mich von den nervösen Zuckungen, die mich momentan ausschlagen lassen, ablenkt. Weil er mir auf der Nase hockt, stehe ich nun vor dem Spiegel und beobachte ihm beim Schwingen. Hoch fliegt der Stock, nieder saust er, bis meine Nase schmerzt und ich mich genötigt sehe, ihn auf sein fehlendes Taktgefühl hinzuweisen. Der Takt verdreht die Augen, trampelt auf meinem Nasenbein herum, bis es gebrochen ist.
Froh wäre ich inzwischen, würde man mir fehlenden Takt unterstellen.
So aber sitzt er weiterhin in meinem Gesicht. Momentan in der Ohrmuschel, forschend, ob die Geräusche ferner Urlaubsstrände, jener meiner Kindheit, darin zu erlauschen sind.
Zeichnung: Alfred Harth
Wir Hyperventilatoren
Meine Wohnung läuft mit Menschen über. Sie säuft ab. Die Menschen ergießen sich arm- und beinweise in die Zimmer. Kein Platz für mich, der in diesem See aus Fremden untertauchen soll. Ich muss die Luft anhalten, weil durch die unzähligen Sauerstoffsäufer kaum noch etwas vom kostbaren Gut übrig ist. Schwindelig wird es mir, der ich mich an einem Hosenbein abstoße und mich treiben lasse. Ein Schwarm teilt sich, damit die Rechnung aufgeht. Ich schwimme mit dem Strom, um überhaupt voran zu kommen. Will ich an meine Kaffeemaschine, muss ich auf ein Riff aus Stühlen und einem Tisch achten, darauf schon manch Hungriger auflief. Die Zigarette wird am Balkonstrand geraucht, auf dem ich, so der Hinweise der Wohnungsfischbewohner, verenden werde, findet sich kein Retter, der mich ins Raum-Zeit-Kontinuum zurückzieht. Wie soll man in einer Wohnfläche, die mit Menschen ausgefüllt ist, Platz für die eigenen Bedürfnisse finden? Das wäre noch gar nichts, erklärt mir einer, der es nicht wissen muss, es aber mit einem Pappkarton, auf dem steht, er wisse alles, von sich behauptet. Panik sei nicht zu entwickeln, denn die stelle sich schon selbst ein, wenn ich erst meines Schlafzimmer ansichtig würde. Ich solle mich nicht so haben: Hyperventilation sei nicht tödlich.
Vor der Bühne des eigenen Lebens sitzen. Mit einer Brezel. Einer Limo. Sich beim Aufwachen beobachten. Den ersten zarten Flügelschlag der Lider. Die Lider strecken sich. Probieren sich. Die Augen schlüpfen. Plumpsen ins Nachtschwarz. Fallen in die Dunkelheit. Leise, mit einem Geräusch, das wie das Tapsen auf Samt klingt. Die Hände schlagen die Decke, die sich nicht wehrt, die in einem Kampf bereits besiegt wurde. Der Schlaf wiegt schwer. Die Füße wedeln über dem Abgrund. Sie können nicht fliegen. Aufsitzen. Sich das vermeintliche Rund des Schädels streicheln.
Derweil gähnt man vor der Bühne. Das Stück könnte ein paar Kalauer gebrauchen. Einen handfesten Skandal. Wer will schon einem beim Aufstehen zusehen? Einer, der sich probiert, als wäre er von den Toten erwacht. Drei Akte hat das Stück. Morgen, Mittag, Abend. Wenn das so weiter geht, wird man gehen müssen. Wird man das Theater anzünden. Wird man sich nach der ersten Pause sehnen.
Jetzt wankt das Ungetüm, das uns gibt, durch den Flur. Ein aus den Gedanken von Toten zusammengenähtes Monster. Die Leute werden sich vor ihm fürchten. Zum Glück für die Welt und das Geschöpf, ist die Welt nicht anwesend. Man sitzt allein im Zuschauerraum. Kein Wunder. So ein Stück wird nie und nimmer ein Hit. Ein Rohrkrepierer. Das wird man vom Spielplan streichen. Ein Wunder müsste geschehen.
Licht. Immerhin das kann das Ding. Licht machen, wo vorher kein Licht war. Schlurft nun in Zombiemanier zur Kaffeemaschine. Dem Reaktor des Morgens. Dort fließt das dunkle Blut, nach dem es ihn dürstet. Das schwarze Gold ächzt sich in die Kanne. Dass der keine Angst hat, denkt man noch. Aber weit und breit keine US-Amerikaner zu sehen. Dabei fielen doch die magischen Worte. Da hätte ein Einfall Pflicht sein müssen. Besetzung der Küche.
Inzwischen ertönen aus dem Zuschauerraum die ersten Buhrufe. Man pfeift sich aus, verlangt den Kopf des Autors. Gottmörder will man werden. Dann gerät wenigstens das Zuschauerraumstück zu einem Krimi.
Trostlos diese modernen Stücke, murmelt man. Schüttelt den Kopf und lässt sich nicht weiter vom eigenen Leben langweilen.
Die Wohnung lebt. Arme und Beine hat sie bekommen, die über die Wände streichen, über den Fußboden laufen. Hände greifen aus der Tischplatte nach Kuchenstücken und reiben, bis das letzte Stück von der Haut aufgenommen wurde. Münder erscheinen, die laut und grell lachen. Lachschlucker lachen, vor denen man sich hüten muss, denn kommt man in ihre Nähe, kann es geschehen, dass eines der Lachen einen packt und in die Tiefe zerrt. Tief im Lachschlucker, so die Sage, herrschen abertausend Lacher aller Stärken, die einen zerreißen. Helle Lacher, glucksende Lacher, tiefe Lacher; Lacher, die an ein Erbrechen, andere die an ein Verbrechen erinnern. Lacher, die wie ein Hilferuf klingen. Lacher, deren Kanten scharf wie die einer Klinge sind. Rasiermesserlacher. Ein Lachen, das verhöhnt. Eines, das aburteilt. Tiere können sie imitieren, die Lacher. Manche Lacher klingen nach einer Waschmaschine im Schleudergang. Andere nach stumpfen, ungefärbten Lederriemen, die man über den Rücken gezogen bekommt.
Lachschlucker sind zu vermeiden. Sie rollen, hat man sich ein solches Wesen in den Wohnungspelz gesetzt, hat es einen angesprungen wie ein Floh, unaufhörlich von Zimmer zu Zimmer; durch all jene Zimmer, die sich des Irrsinns wegen, der ausgebrochen ist, bereits im Kreis drehen.
Und so tappt man durch die Wohnung, die in fremden Händen und Beinen ist, die von einem Lachschlucker befahren wird, sich ängstlich umsehend, denn ist die Gefahr eingezogen, kann sie sich überall befinden. Sie sperrt sich im Klo ein und kichert. Sie hat ihren Spaß daran, den Leidensausdruck in der Visage auszumachen, sie zu erspähen wie ein Wild in weiter Ferne. Die Gefahr steht auf ihrem eigenen Hügel, den sie sich erschaffen hat und sucht einen in den Tiefen des Wohnzimmers, das man mit gesenktem Haupt durchquert, auf der Suche nach einer Fernsehstelle, einem Weinloch, will man doch nicht im Nirgendwo zwischen Sessel und Sofa verrecken, während die Lampe unbarmherzig das ausgemergelte Gesicht ausleuchtet.
Wenn die Wohnung zu einem eigenständigen Land, einem Körper, der einen verdauen will, geworden ist, dann ist es Zeit zu fliehen, auch einschlafen kann man, so wie ich es tat, der sich in seinen Schlaf flüchtete, in das Dunkel, das nur Teil eines weiteren Dunkel zu sein scheint, das wiederum Teil eines weiteren Dunkel sein könnte, weil alle Dunkeltöne sich im Schlaf befinden. Der Schlaf ist wie eine Zwiebel aus Dunkelhäuten.
Und erwacht man dann, denn sicher ist so etwas nie, kann es sein, mir geschah es, dass die Wohnung wieder ohne Arme ist, ohne Beine, ohne Lachschlucker, auch die Gefahr hat sich aus dem Staub. Ist vielleicht in sich selbst umgekommen.
Aufatmen heißt nun das Tun des Tages.
Siri hat sich eine Warze ins Gesicht operieren lassen. Dunkel, mit drei Haaren in der Mitte, thront das Ungetüm auf der linken Backe. Seit Siri die Warze trägt, ist sie das Gespräch an ihrer Schule. Die anderen Mädchen tuscheln hinter ihrem Rücken. Bewunderung mach sich breit. Schon sparen die ersten von ihnen, um sich auch eine Warze leisten zu können. HATE bietet Warzen in jeder Größe an. Man kann sich auch die Ohren „abstehen lassen“. So nennt das Boris, der bei HATE arbeitet. Segelohren kämen bald in Mode, erklärt er. Dann zeigt er seinen Buckel und sein Holzbein. Das war keine einfache Entscheidung, murmelt er. Amputationen bleiben. Er grinst. Da muss man wissen, was man tut, sagt er und zündet sich eine Pfeife an, während eine junge Frau den Laden betritt. Sie hat sich für eine Hasenscharte entschieden. Boris führt sie nach hinten. Er ist ein verantwortungsvoller Operateur. Das Aufklärungsgespräch vom Band muss sich das Mädchen anhören. Ob sie will oder nicht. Denn sonst, so Boris, können sie gleich wieder gehen.
Siri spielt inzwischen mit dem Gedanken sich eine zweite Warze zuzulegen. Bald schon, so fürchtet sie, wird sie nicht mehr einzigartig sein.
Ihr Blick schweift in die Ferne. Später, so verrät sie uns noch, würde sie sich gerne Arme und Beine entfernen lassen. Das wäre der ultimative Kick. Der letzte Schritt in Richtung einer totalen Individualität.
Foto: Alfred Harth