Ich bin vom Heuschnupfen geplagt. Es ist eine verfluchte Quälerei. Und ist der Sommer erst vorüber, befällt mich meist eine Erkältung. Ich bin unentwegt am Niesen. Naseputzen ist für mich die normalste Handlung der Welt. Ständig zücke ich eines meiner Taschentücher, groß wie Tischtücher, um meinen Naseninhalt in selbiges zu entleeren. Ströme ergießen sich aus meinen beiden Nasenlöchern, die wie Löcher in einem Berg sind, durch den ein geheimer Fluss fließt. Es kommt mir vor, als sei mein Kopf nur geschaffen worden, um all die Flüssigkeiten, die ein Zuhause benötigen, für eine kurze Zeit zusammenzuhalten. So erfahren sie, was es bedeutet, wenn man eine Heimat hat. Wenn auch nur für kurze Zeit. Das Flussbett ist kein Ort des Schlafs, der Ruhe. Unablässig rennt sein Bewohner. Ein Gehetzter.
Seien wir mal ehrlich: Rotz hat es auch nicht einfach. Erst wird er gebildet, also geboren, schon muss er aus dem Haus, in dem er sich wohlfühlte, in dem er so ausgelassen lebte und tanzte, in die weite Schneeunendlichkeit eines Taschentuchs ziehen. Ein Verlorener, dem nichts erspart bleibt. Ein Getriebener, der im Taschentuch bleibt, bis er eintrocknet wie eine Pflaume, der dort verharren muss, bis man ihn im Müll entsorgt.
Stofftaschentücher gibt es kaum noch. Alles in der Welt ist darauf getrimmt, dass man es wegschmeißt. Wir sind eine Wegwerfgesellschaft. Das ist so traurig, man müsste, besäße man noch eine Seele, weinen. Wir werfen Bälle weg, uns, wenn wir einen guten Witz gehört haben, die Packungen, in denen unser Essen wohnte, die Tempos, die Mitmenschen. Es ist grauenhaft, nicht zum Aushalten.
Und auch an diesem Morgen liegen wieder diverse Papiertaschentücher neben meiner Tastatur, wie abgestürzte Vögel liegen sie dort, tot, ausgenutzt, dem Himmel fern, der ihnen eine bzw. meine Nase war. Zusammengekrümpelt wie ein mit einem schlechten Text beschriebenes Papier.
Wäre es nicht an der Zeit, Beerdigungsriten für Taschentücher einzuführen? Gönnen wir ihnen das tiefe Grab, den langen Abschied. Lassen wir sie hinab, während wir am Rand des Loches stehen, in dem sie verschwinden werden. Ein letzter Gruß. Ein letzter Griff an die Nase. „Leb wohl, oh mein Taschentuch.“ Und Tränen werden rinnen, nach denen es uns so lange schon verlangte. Wir werden sie mit einem neuen Taschentuch vom Gesicht wischen, mit einem, das ein Bruder oder eine Schwester ist. Denn sie alle sind miteinander verwandt. Sollte es einen Himmel geben, wird es auch einen Ort für all die missbrauchten und erniedrigten Taschentücher geben. Ich bin mir sicher. Es muss so sein. Sie werden auf ihren Wolken sitzen und nach oben sehen, hin zu Gott, der für sie ein großes Taschentuch ist.
Guten Morgen, Welt!