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Das linke Ohrläppchen des Satans

Freitag

Wieder einmal herrscht in der Villa helle Aufregung. Arbeiter (solche aus der Arbeiterschicht, also Proletarier, echte dazu, mit rotgeäderten Nasen vom Saufen und Muskeln, die dünn wie Stemmeisen sind) eilen durch den Park, um sich später auch das Haus anzusehen. Überprüfte rasch den Sitz meines federgeschmückten Huts, soll man mich doch nicht für einen Barbaren halten, der sie nicht auf sein Äußeres versteht. Ich weiß gar nicht, was sie hier wollen. Es ginge um das Wasser, erklärte mir meine Frau Bärbel-Cordula (Name geändert). Wasser, Wasser, Wasser. Immer geht es um das Wasser. Und was ist mit dem Wein? Meinem Sherry? Stimmen tönen in diesem Augenblick bereits durch den Hausflur, tollwütige Stimmen, die sich auf Lautstärke und Unverständlichkeit verstehen. Ich werde die Arbeit an meinem neuen Gedicht „Im Angesicht des Sensenmanns“ unterbrechen müssen.

Für den frühen Abend hat sich eine Internetbekanntschaft angekündigt, ein Musiker mit zweifelhaftem Ruf und einer – wie ich vermuten muss – Drogenvergangenheit, derer ich mich vielleicht mit einem Sonett annehmen werde. Hoffe, es handelt sich bei ihm nicht um einen Serienkiller. Sollte ich mich bewaffnen? Der kleine perlmuttbesetzte Damenrevolver, den ich vor einigen Jahren von meiner geschätzten Kollegin Barbara Cartland geschenkt bekam, dieser großen Literatin des Nebulösen, dieser Erotomanin des Todes, könnte mir geeignete Dienste erweisen, ist er doch in der Lage, kleinste Kratzer zu verursachen. Wir werden sehen, ob ich den Tag überstehe.

Guten Abend, Welt!

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Donnerstag

Es gibt diese Leser, die unbedingt wissen wollen, was ich verdiene.

„Na, sag mal, Guido, wir sind doch unter uns. Was verdienst du denn mit deinen Büchern so?“

Das ist natürlich geschickt von diesen Schergen des Finanzamts. Aber stets schweige ich wie ein Grab. Nicht mit mir, denke ich, während Bedienstete die Koffer mit Geld in meinen Tresor neben der Küche schleppen. Lastwagenweise kommen die Scheine hier an, sie werden am Hintereingang vom Personal gewogen und für gut befunden, um dann in die stählerne Höhle verbracht zu werden, die mein Hab und Gut vor fremden Händen beschützt.

Dort befinden sich viele Dinge, über die ich nie reden würde. Etwa das Bernsteinzimmer. Der Heilige Gral. Alles Dinge, die man während einer wilden Party gut und gerne mal herzeigen kann. Das entzückt die Leute, vor allem die Damen mit und ohne Hut. Die wollen das alles anfassen, vor allem die Vorhaut Jesu Christi, die ich erst vor wenigen Wochen von einem Reliquienhändler kaufte. Was der alles anbot, ich wusste gar nicht, was ich zuerst erwerben sollte. Holz aus dem Holzauge des Ungläubigen Thomas, Haare von allen dreizehn Jüngern, sogar eine Häutchen der „Jungfrau“ Maria. Und alles befindet sich seit Kurzem in meinem Besitz.

Ich bin kein besonders gläubiger Mensch und habe schon so einigen Religionen angehangen, so dem Glaube, dass Geld glücklich macht, dem Glaube, dass es morgen nicht regnet, später bin ich auch noch dem Glauben an die Allmacht des Finanzmarkts verfallen. Hat mich das glücklicher gemacht? Reiner? Besser? Nichts davon.

Ich sitze in meiner Villa, ein verwöhnter Erfolgsautor, der, selten gibt es das, nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Kritikern geliebt wird.

Diese Liebe nimmt zum Teil seltsame Formen an, etwa wenn junge Frauen mit riesigen Spiegeln am Horizont auftauchen, auf die sie mit eigens für diesen Tag hergestellten Lippenstiften ihre Liebesbekundungen malen. Meine Frau Verona (Name geändert) sieht das nicht gern und lässt in diesem Fall die Hunde von der Leine. Bösartige Biester, mit Zähnen wie Dolche, die sie in den Körpern meiner Anhänger versenken, wieder und wieder, sodass ich nachts Albträume von den Massakern habe.

„Ja, muss das denn sein?“ frage ich meine Frau, die nickt, ja, es müsse sein, und dann geht sie wieder in den Keller hinunter, um mit dem Flammenwerfer zu üben.

Es ist alles nicht so einfach. Nicht so, wie Sie sich das in Ihren neidvollen Träumen ausmalen. Auch als Autor hat man Sorgen, etwa ob PUSCHI, unsere Katze, wieder von ihren nächtlichen Touren zurückkehrt. Die Stirn in Falten geschlagen, so sitze ich auf dem höchsten Aussichtsturm und rufe in die Nacht hinaus: „PUSCHI!“ Aber PUSCHI will nicht kommen, und vielleicht hat sie recht, vielleicht bietet ihr ein Leben außerhalb der Villa die Freiheit, die hier nur ein schales Wort ist, geschrieben in meine zahllosen Romane.

Wer weiß!

Sinnkrise?

Warten wir es ab!

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Mittwoch II

Ich schreibe, wie Sie vielleicht wissen. Um nicht immer dasselbe zu schreiben, schreibe ich in verschiedene Richtungen. Heute z.B. schrieb ich meinen Verlag an, einfach so, um mal zu hören, was da so los ist, und ob sie mein neues Manuskript „Groklk“ schon gelesen haben. Man schrieb mir zurück, dass es ein gewagtes Stück Literatur sei. Gewagt? Dass ich nicht lache! Immer die gleiche Scheiße mag doch niemand lesen. Also habe ich einen Roman geschrieben, in dem die Buchstaben wild durcheinander gewürfelt wurden. Das liest sich dann so: Hflöop glülsrt, hwrta – hajtfa Hjkkl Rtttlö – diednb hdbb!

Das eröffnet dem Leser ganz neue Spielräume, es kann zu Gedankenexperimenten kommen. Wie mir ein beteiligter Arzt versicherte, kann ein solcher Text bei dafür empfänglichen Personen sogar Schizophrenie auslösen. Ein Text, der also direkt ins Leben eingreift. Und glauben Sie mir, die 700 Seiten lesen sich weg wie nix. Man wird sich nicht mehr davon lösen, geschweige denn erholen können. Endlich bin ich einmal in die Vollen gegangen, keine Rücksichtnahmen, wie noch bei meinem Megabestseller „Untat“, der momentan übrigens in die 47. Auflage geht.

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Mittwoch

Es hatte in der Nacht geregnet.

Zuerst hatte es platsch gemacht, dann platsch, platsch, platsch, platsch.

„Der verfluchte Regen!“, rief ich. „So kann ich nicht schlafen!“

Ich rief bei meinem Sonnenanbeter an, der sich normalerweise um das schlechte Wetter kümmert. Was war da los? Der Kerl war nicht da! Vielleicht ausgewandert, dachte ich. Kann ihm auch niemand verübeln, bei diesem verfluchten deutschen Sommer.

Um mich abzulenken, schritt ich die Längsseite des Ehebettes ab. Hin und her. Drehung am Bettpfosten. Zurück. Drehung. Zurück. Ich kam mir wie ein gefangens Tier vor. Wie der Graf von Monte Christo in einem Regengefängnis. (Sie erinnern sich sicherlich an den Roman.)

„Was hat du denn?“ fragte meine Frau.

„Der Regen“, gab ich zurück, „der Regen macht mich wahnsinnig.“

„Ach so!“

Und schon schnarchte Wilhelmine (Name geändert) wieder. Sie schnarcht, wenn es zu entscheidenden Momenten in meinem Leben kommt, wie damals, als sie mir den Nobelpreis zum fünfzehnten Mal vorenthielten. Es war einfach kein Verlass auf sie. Frauen sind anders. Sie sind wie ein anderes Geschlecht, als ob ihnen geile, dicke Brüste wachsen würden, die man wollüstig in seine schmierigen zwei Hände packen möchte. Ich betrachtete sie von oben bis unten.

Der Regen hatte indes nicht nachgelassen. Trübsinn lief in langen Schlieren über meinen Körper, über dieses eingeölte, gestählte Ding auf zwei Beinen. Um mich abzulenken, machte ich ein paar Turnübungen. Hand auf. Hand zu. Hand auf. Hand zu. Erschöpft brach ich diesen barbarischen Akt der Selbsterniedrigung ab. Ein Schweißfaden seilte sich auf meine Unterlippe ab. Noch einige Nächte in der Art und ich würde meinem Doppelgänger Bertram (Name geändert) die Kugel geben. Schlaflosigkeit ist das Joch des 21. Jahrhunderts. Die Schlaflosigkeit wird jene Bestien gebären, denen wir jetzt schon so viele Filme widmen: Zombies. Sie werden kommen und uns in unseren Schlaflosigkeitskammern, die in Kürze auf den Markt kommen werden, überfallen. In die Nacken und in die Zehen werden sie uns beißen, sie werden ganze Stücke aus unseren durchtrainierten wunderschönen Körpern reißen. Wie Wölfe werden sie nicht heulen, wohl aber wie kleine Schweine grunzen. Herz- und Hirnlos werden sie sich zur herrschenden Spezies entwickeln. Sie werden … Irgendwie kam mir die Beschreibung bekannt vor. Ein gewisser Typ des westeuropäischen Politikers müsste sich darin wiedererkennen.

Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, schaltete ich den überdimensionalen Fernseher ein. Nichts! Keine Befreiung meiner angespannten Nerven. Ich könnte etwas lesen. Ich griff nach den Büchern, die meine Tochter aus der Fuldaer Kinderakademie, auf der sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr studiert, mitgebracht hatte. Romane, die für den Jugendliteraturpreis nominiert waren. Ich las, noch stehend, Bilder aus Ägypten im Rücken und kochte vor Wut. Das war gut geschrieben. Sehr gut sogar! Was bildeten die sich denn überhaupt ein, diese Kinder- und Jugendautoren! Wunderbare Bilder, wie man sie kaum in einem der Bücher von Rüdiger Selbiger und Nathan Weizenbier fand. Großartige Literatur. Angewidert warf ich den Brocken, der mit so viel Schönheit gefüllt war, weit von mir, direkt hinaus aus dem Fenster in den Vorgarten, der Statue auf die Nase, die man zu Ehren von Daniel Meistermann, meinem Lieblingsschriftsteller, vor Jahren dort errichtet hatte. Der Regen weichte das Buch in wenigen Sekunden ein. Wie eine Primel ging es ein, wie ein Pullover, der zu heiß gewaschen worden war. Und das nur, weil man mich echauffiert hatte. Die Nacht, sie schien kein Ende nehmen zu wollen, auch wenn sie es heute Morgen doch tat.

O Wunder der Zeit!

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Dienstag II

So ein Sonnentag ist ein Tag zum Rumliegen! Sich mal nicht rühren. In der Totenstarrposition verharren. Mal zum Möbelstück werden. Zum Sekretär. Zum Tisch. Zum Vorleger. Den anderen vorliegen, wie man richtig liegt. Aufliegen muss der Körper. Ganz flach auf dem Sofa aufliegen. Und dann mit den Gedanken fliegen. Hoch hinaus. Mindestens bis zur Sonne. Links daran vorbei. Und dann Richtung Unendlichkeit. Und drüber hinaus, weil die Unendlichkeit noch nicht weit genug ist. Man hat ja Zeit. Abendessen gibt es noch nicht. Nicht mal eine Zwischenmahlzeit. Dafür eine Zwischenlandung, eine hirnmäßige, auf dem Planeten der Geräusche. Da bekommt man einen satten Rausch von all den Geräuschen. Mähdreschergeräusche. Und die vom Vogel, der im Zimmer in seinem Käfig sitzt. In der Küche rührt die Frau in einer Schüssel. Die elektrische Pfeffermühle quickt. So ist das, wenn man aufliegt und via Kopf zum Geräuschplaneten gereist ist. Eine Menge an Geräuschen. Keine Menschenseele zu sehen. Auch keine von einem Außerirdischen, der dort ein Innerirdische ist, während du ein Außerirdischer bist. Das Leben dort besteht aus eine schier unsinnig großen Ansammlung von Geräuschen. Da sind welche, die sich waschen. Und welche, die sich für die Arbeit fertig machen. Das muss schon sein. Man kann nicht an die Arbeit, ohne sich fertig gemacht zu haben. „Drecksau! Nichtswürdiger! Unhold! Sträfling! Arschloch!“ Immer schön drauf. Immer schön fertigmachen. Ist das geschafft, geht es ab an die Arbeit, während man selbst aufliegt. Auf dem Sofa. Was will man denn sonst an einem solchen Tag machen? Einem solchen Sonnentag. Sich ausstrecken. Zur Strecke werden. Zur Fahrbahn für Gedanken und Träume. Zur Start- und Landebahn für Worte. Probeliegen für den Sarg. Für das endgültige Aus! Abschalten. Totstellen. In der Sonne liegen und die Leber beweinen. Mengen von Wein, damit man wächst und gedeiht.

Und aufs Hirn schlägt sie auch, die Sonne. Klar!

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Dienstag

Ich müsste unbedingt mit einem neuen Roman beginnen, aber weil sich die bereits erschienenen so gut verkaufen, zögere ich vor dem Moment zurück, der mich wieder für Jahre an ein Manuskript binden wird, der mich darin verschwinden lassen wird, der mich anketten wird, sodass meine Frau mich nur zu Gesicht bekommt, wenn sie meinen Kopf vom Bildschirm wegreißt und mir Brei in den Mund stopft.

Bin ich erst am Romanschreiben, bin ich für die Welt nicht mehr zu gebrauchen, ich werde zu einem abwesenden Etwas, das keuchend und knurrend ganz in dem Geschehen, das beschrieben und durchlitten werden muss, verschwindet, bis kaum noch etwas von mir übrig ist, bis Suchtrupps zusammengestellt werden müssen, mit Fackeln, die das Arbeitszimmer Meter für Meter abschreiten, weil sie wissen, dass ich irgendwo in der Tiefe dieses Gebiets verschollen bin. Das Romanschreiben ist etwas, das mich auffrisst, zunächst knabbert es am linken, dann am rechten Ohr, es beißt ein Stück Backe aus meinem Gesicht, von der mein Lektor sagt, man solle sie Wange nennen, aber nein, ich bleibe bei der Backe, denn fehlt sie erst, ist es einem einerlei, dass es zu Verwechslungen des Lesers mit der Arschbacke kommen könnte.

Da ich um die Nöte dessen weiß, der sich an ein Romanprojekt setzt, zögere ich den Moment heraus, der mich abermals für siebzehn bis achtzehn Jahre der Familie entreißen wird. Die Kunst des Romanschreibens ist die Kunst des dauerhaften Tauchens, man muss den Mut haben, die Luft anzuhalten, um in die Tiefe zu steigen, nicht für ein oder zwei Minuten, sondern eventuell für ein ganzes Jahrzehnt oder länger.

Meine Frau schläft noch. Ich denke über die Geschichte nach, die ich gestern schrieb und die sich um ein Schaf dreht, das gern Tänzer in einer Disco werden will, das aber an den Türstehern scheitert, die es wegen seiner fehlenden Schuhe und Beziehungen nicht einlassen wollen, sodass es schließlich einen eigenen Club eröffnet, der so erfolgreich wird, dass alle anderen schließen müssen. Ein Hohelied auf die Selbstständigkeit und auf den Kapitalismus, und gerade deshalb so revolutionär. Truman Capote hätte seinen Spaß daran gehabt. Wir saßen oft in New York herum und ich sagte: „Truman, ich habe da diese Idee für eine Schafstory.“ Truman nickte, er bat mich, sie unbedingt aufzuschreiben, aber ich zögerte es Jahr für Jahr hinaus. Nun ist er tot und kann sie nicht mehr lesen.

Manchmal widert einen das Leben, dieses hinausgezögerte Sterben, an.

Guten Morgen, Welt!

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Montag II

Die Sonne ist zurück. Ein Comeback der Extraklasse! Da steht sie und reißt ihre strahlend-goldenen Arme empor. Wer hätte das gedacht?!

Ich nicht. Ich habe den ganzen Tag im Schatten gelegen, unten im Kohlekeller und habe über die Kohle nachgedacht. Über den Geldfluss sozusagen. Wo geht die Kohle hin? In was wandelt sie sich, wenn wir sie erst verfeuert haben?

Sind wir doch mal ehrlich: Im Grunde haben wir alle zu viel Kohle. Wir stopfen unsere Bettdecken damit aus, weil wir den Banken nicht mehr trauen. Wir kaufen uns unsinnige Dinge wie Deo- und Motorroller davon.

Ich habe dem Heizer gesagt: „Pass ja auf meine Kohle auf! Ich habe sie gezählt! Sollte ein Stück fehlen, dann gnade dir Gott!“

„Das wär ja prima“, sagte er. „Auf die Gnade Gottes spekuliere ich schon seit Jahren!“

Der Heizer ist ein unanständiger und dreckiger Mann, der seine Frau, wie er mir erzählte, im Nachbarkeller kennenlernte. Sie ordnete gerade die Einmachgläser nach ihrer Größe, da sprach er sie unzüchtig von hinten an.

Die Tage in der Villa verfliegen wie Sand im Stundenglas, das Gevatter Tod einem am Ende seines Daseins überreichen wird; manchmal verfliegen die Tage auch wie Pollen, die einen zum Niesen bringen oder wie Vögel, die sich in der Gegend geirrt haben. Es ist kaum auszudrücken, obwohl ich für meine bildhaften Vergleiche berühmt-berüchtigt bin.

Guten Abend, Welt!

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Montag

Ich beginne den Tag grundsätzlich mit einer Pfeife, die von vier, fünf Leuten gehalten werden muss. Das ist gar nicht so unkompliziert, wie es sich im ersten Moment anhört. Die drei ausgebildeten Stopfer haben eine Menge zu tun und leben äußerst gefährlich. Es kommt schon mal vor, dass einer von ihnen in den Pfeifenkopf fällt und spurlos verschwindet. Und dann? Eine Menge Geschrei! „Mann über Pfeifenrand!“ Sofort wird der eine oder andere Suchtrupp losgeschickt, um den Verschollenen aufzuspüren. Ich sitze derweil da und studiere die Fernsehzeitung. Das ist nicht einfach, bei dem doch eher fragwürdigen Programmangebot. Mein Seitenumblätterer Jorge, ein guter Mann aus Zürich, beobachtet genaustens mein Gesicht, um die Anzeichen abzulesen, die ihn seinen Finger anfeuchten und die Seite umschlagen lassen. Werbung vertrage ich gar nicht. Von der bekomme ich Ausschläge. Widerlich, was die einem heute alles verkaufen wollen. Kleine Kinder auf einer Schaukel. Frauen mit einem Springseil. Der Menschenhandel sollte verboten werden, aber die Regierung unternimmt nichts.

Wenn ich genug von der Morgenzeitung und der Pfeife habe, kann es sein, dass ich meinen Morgenmantel glatt streiche. Immer so von oben nach unten, damit keine neuen Falten in das Gewand geraten. Morgenmantelstreichen … Ha! Das hat schon mein Vater, der berühmte Busfahrer, gemacht. Saß da und strich sich den Morgenmantel gerade, bis man ihn, ohne ihn aufhängen zu müssen, in die Ecke stellen konnte.

Und nach dem Morgenmantelstreichen? Meistens schicke ich die Pfeifenjungs nach Hause und hau mich noch eine Runde aufs Ohr. Oder ich schreibe einen kleinen Artikel für die FAZ oder die TAZ oder den Spiegel. Leserbriefe sind wieder im Kommen!

Meine Frau Beate (Name geändert) ist ebenfalls eine Frühaufsteherin. Sie raucht zum Glück keine Pfeife. Das würde hier sonst etwas eng.

„Moin!“ sage ich zärtlich zu ihr, wenn sie in ihrem Nachthemd wie ein Nachtgespenst vorüberhuscht!

Weil sie ein Morgenmuffel (korrekt muss es Morgenmuffelin heißen) ist, grüßt sie mich nicht. Sie hat jeden Morgen schlechte Laune, ich bin das schon gewöhnt.

„Ja, ja“, sage ich dann. „Du und deine schlechte Laune, ihr wart auch schon mal besser gelaunt!“

Der Witz zieht nicht, egal wie oft ich ihn erzähle. Ich konzentriere mich weiter auf meinen Artikel für die FAZ oder TAZ oder den Spiegel. Das Ding muss heute noch unter den Bericht über den amerikanischen Geheimdienst. Ich schlage darin vor, dass sich alle Beteiligten des Abhörskandals bei mir treffen, um mal – Karten auf den Tisch – über alles zu sprechen. Offen und ehrlich. Mal sehen, was die vom Spiegel zu meinem Artikel sagen werden.

Guten Morgen, Welt!

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Sonntag III

Ich habe schon wieder den ganzen Tag mit dem Drehen diverser Filme verbracht. Jetzt bin ich ziemlich erschöpft, habe aber keine Zeit, mich auszuruhen, weil soeben Gauß, der blondgelockte Mathematiker aus Bad Homburg, eingetroffen ist. Gauß, der ein verschlagenes Genie aus den Kreisen um die Deutsche Bank ist, kommt soeben aus Mallorca, wo er als Hütchenspieler seinen Urlaub verlebte. Millionäre sind eben Exzentriker. Er, der eigentlich eine sie ist, die sich nicht entscheiden kann, welche Geschlechterrolle sie am liebsten spielen möchte, hat sich mein gesamtes Filmschaffen angesehen. Sie-Er meint, es könnte gut sein, dass ich mit dem einen oder anderen Kurzfilm einen Oscar gewinne. Wir haben dann zusammen laut gelacht.

Gauß, das ist mir schon eine(r).

Guten Abend, Welt!

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CELAN-FELD – Folge 74

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Ankündigung

Schon mal zum Vormerken: Teil III meiner Tagebücher wird LESEREISE DES GRAUENS heißen!

Hier die bisher erschienenen Bände im Überblick:

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Sonntag II

Mama war da, zurück aus dem Urlaub, den sie mit ihrem Manager Udo K. im Süden verbrachte, in einem Hotel, das so teuer war, dass sie es nie verließen, unter keinen Umständen, weil sie nichts, was dort geboten wurde, versäumen wollten. „Guido!“ rief sie . – Und ich schrie: „Mama!“ – Und sie: „Guido!“ – Und ich: „Mama!“ – Das ging so eine halbe Stunde, unsere Lippen waren schon ganz trocken und spröde geworden. Sie packte die mitgebrachten Geschenke nicht aus. Und was sie nicht alles eingekauft hatte: Mäntel, Augenklappen, Steuerbescheide, Regierungssitze, Ventilatoren. Nichts davon, und ich wollte sie schon fragen, warum sie uns das nicht geschenkt habe, da sprang sie bereits wieder von ihrem Stuhl auf und galoppierte wie ein junges Reh die Treppen hinab, weil sie nach Hause müsste, um sich um das Beet zu kümmern. „Welches Beet?“ fragte ich noch, aber da war sie schon meinen Augen und Ohren entkommen.

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Sonntag

Meine literarische Laufbahn fing, glaube ich, so genau weiß ich das ja nicht, weil die Erinnerung so ein Ding ist, bei dem man aufpassen muss, an was sie einen erinnern lässt, die Erinnerung, die sich beständig neu bearbeitet, die Film und Cutter und Regisseur in einer Person ist, also nicht in einer Person, sondern in einem Zustand, sie fing also, um auf den Anfang zurückzukommen, mit fünf oder drei Jahren an.

Ich schrieb damals eine Menge Texte mit Kreide auf die Straße, riesige Gedichte, lange Monstergedichte, die sich durch die Straßen der ganzen Stadt zogen, also von Fulda, denn hier bin ich geboren, und hier werde ich wohl auch sterben, auch wenn ich zwischenzeitlich schon in ganz anderen Städten wie Berlin, Mailand, Alaska, Mars-City, Köln usw. war. Die Literaturkritik, die sich gerade mit den neusten Texten, die auf der Straße und an Häuserwänden entstanden, zu beschäftigen begann, schickte ihre besten Leute, um sich anzusehen, was ich da in schweißtreibender Arbeit auf die Straßen gemalt bzw. geschrieben hatte, wie dieses Langgedicht, das später Eingang in „Gedichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ fand, und über das sich Sigrid Löffler und Marcel Reich-Ranicki in ihrer Sendung „Die Wahrheit über dich, mich und die deutsche Literatur“ in die Haare bekamen, bis sie, Höhepunkt der Peinlichkeiten, vor den Kameras lagen, direkt vor ihnen auf dem Boden und sich bissen und an den Haaren zogen, dass es eine wahre Freude für jeden literaturbegeisterten jungen Mann und jede literaturliebende junge Frau war, die an diesem Abend das Glück hatten, vor dem Fernseher zu sitzen. Sie wollten sich gar nicht, und mein Vater, der sich während der Sendung ein Marmeladenbrot schmierte, mit Erdbeer- oder Nussmarmelade, quittierte es mit einem seligen Lächeln, einkriegen; sie schrien sich an, dass man sich für sie schämte, weil Frau Löffler behauptete, mein Gedicht sei kein Gedicht, weil ein Gedicht dicht sein müsse, es müsse die Worte auf engstem Raum unterbringen, sodass sie bald platzen, weil sie keine Luft bekommen und ihre innersten Geheimnisse verraten, die sie sozusagen mit Schnappatmung dem Leser vor die Füße husten, während Reich-Ranicki auf Uwe Johnson und auf Thomas Mann hinwies, und darauf, dass die nie Straßengedichte geschrieben hätten, und dass die schon gewusst hatten, warum sie nur Weltliteratur fabriziert hätten. Einig waren sich die beiden Kontrahenten darin, dass meine Straßengedichte, vor allem dieses eine große Straßengedicht mit dem Titel „Achim ist doof“ keine Literatur sei, obwohl ich rückblickend behaupten würde, dass meine einmalige Karriere in diesen Tagen ihren Anfang nahm, auch wenn das heute – vor allem für meine Biografen Böhmer und Hagewald – kaum noch recherchierbar ist, weil alle, die dabei waren, sich entweder nicht mehr daran erinnern wollen oder erklären, da hätte auf den Straßen nie etwas gestanden, und wenn ich es dennoch behaupte, müsse es daran liegen, dass mir der Ruhm und der Rum zu Kopf gestiegen seien.

Wie auch immer … Damals begann sie, meine unverzeihliche Laufbahn, die mich in den letzten Jahren an die Spitze der Bestsellerlisten geführt hat.

Unglaublich – aber wahr!