Monat: Oktober 2013
Hauptsache leben. Das war stets die Devise meines Vaters, jenes merkwürdigen Herrn aus Brügge, der es sich nicht nehmen ließ, überquerte eine alte Dame die Straße, sie daran zu erinnern, fleißig von links nach rechts zu sehen, zumal bei dem Verkehr. „Sie wissen ja, gnädige Frau, was da alles passieren kann.“
Das Leben war ihm ein wundervoller Ort für die Lebenden. Tote konnte er nicht ausstehen, im Gegenteil sogar. Er jagte sie mit einer Leidenschaft, die fast schon krankhaft genannt werden muss, also jene Toten, die es sich nicht hatten nehmen lassen, als Untote auf die Welt zurückzukehren. Mit einem Kruzifix, diversen Weihwasserspritzpistolen und einer silbernen Kugel ging er Nacht für Nacht auf die Pirsch. Er versteckte sich in der Nähe des Dorfplatzes, jenes Versammlungstreffpunkts, der am Tag von Hausfrauen und trunksüchtigen Jugendlichen frequentiert wurde, um die Untoten von ihrem schäbigen Dasein zu erlösen. Geschickt wie er war, trafen seine Weihwasserschüsse direkt ins Schwarze und enttarnten die von einem Dämon heimgesuchten Besessenen. So konnte er es z.B. verhindern, dass die Frau des Doktors von einer jenseitigen Version unseres Bürgermeisters geschändet wurde, was diese ihm mit Schimpf und Schande vergolt.
Ja, er war ein großer Geisterjäger, mein Vater. Gedenken wir seiner an diesem Donnerstag.
Guten Morgen, Welt!
Ich bin der Autor eines unabgeschlossenen Gesamtwerks. Frühs in der Küche beginnt es, mein Werk. Mein Finger tippt auf den Schalter, der den Mechanismus der Kaffeemaschine aktiviert. Rasch notieren meine eilfertigen Finger mit Hilfe eines Füllers den Sachverhalt auf ein Blatt Papier. „Kaffeemaschine eingeschaltet“. Ein weiterer Schritt in meinem Gesamtwerk. So geht es Schlag auf Schlag. „Mein Brot wurde geschmiert. Beäugte es.“ Das Gesamtwerk nimmt mich voll und ganz in Anspruch. Als Gesamtwerker verlange ich einen Stundenlohn von 150 Euro inklusive Mehrwertsteuer, der mir seit Jahren vorenthalten wird. Jeder Schritt vervollständigt mein Gesamtwerk, das ich demnächst an die Stadt Fulda übergeben werde. Man wird es, so versprach man mir, auf einem Hügel aufbauen lassen. Alles, was mit mir zu tun hat, soll zukünftig im Städtischen Gesamtwerk zu finden sein, so etwa meine Hausschuhe aus erster Ehe.
Eben duscht meine Frau. „Frau duscht.“ Ich reiße den Zettel vom Block und lege ihn zu den anderen Notizen. Die Archivierungsarbeiten fressen meine Familie allmählich auf. „Angst.“ Und wieder eine Notiz.
Guten Abend, Welt!
Mittwoch
Ich wuchs am kältesten Fleck Osthessens auf. Oft war es so kalt, dass wir an den Möbeln, die aus Schnee waren, festfroren. Wir hatten das Material für unser Haus aus einem nahen Eisbruch geschlagen. Wir fuhren mit unserem Familienhundeschlitten hin, samt Anhänger, den wir beluden. Den Anhänger hatten wir in der Nähe einer Kreuzung aufgegabelt. Er wäre ein Anhänger der Werke meines Vaters, erklärte er. Das verwunderte uns, weil mein Vater weder schrieb noch malte. Er stellte nichts her, was irgendwen hätte verzaubern können. Und trotzdem gab es diesen Anhänger, der meinem Vater fortan nicht mehr von der Seite wich. Es gebe noch mehr wie ihn, sagte er. Sie hätten nicht hierher gefunden. Vielleicht seien sie auch erfroren. Immerhin befände man sich ja am kältesten Fleck Osthessens. Mein Vater nickte und brach sich mit seinem Taschentuch ein Stück Eis von der Nase.
Wir Kinder liebten die Schneeballschlachten. Wir traten gegen die aus Unterdorf an. Es ging heiß her. Niemand gab auf. So kam es, dass wir oft bis zu vier Wochen von zu Hause fort waren. Wir luden unsere Rücksäcke mit Schneebällen voll und zogen zu einem vorher ausgemachten Treffpunkt, der gleichzeitig der Ort der kommenden Schlacht sein sollte.
Mein Bruder Erwin (Name geändert) war ein großer Schneeballkünstler. Niemand konnte die Schneebälle so treten wie er. Stille legte sich über die Eisflächen, wenn er Anlauf nahm, um einen Schneeball im Netz zu versenken. Das Netz hing im Wasser eines Sees. Wir hatten ein Loch ins Wasser geschlagen, damit Erwin den Ball ins Netz katapultieren konnte. Alles sehr kompliziert. Später brach sich Erwin den linken Fuß und musste eine Saison aussetzen. Das beendete seine Karriere als Schneeballspieler. Wir anderen machten noch eine Weile weiter, bis wir das Interesse am Schnee verloren. Wir zogen uns nach Südhessen zurück. Dort gab es Palmen und Strände. Mädchen in Bikinis. Das alles lag uns mehr.
Wir gründeten eine Rettungsschwimmervereinigung, die wir „Söhne Hasselhoffs“ nannten. Wir sahen uns alle Folgen von „Baywatch“ an. Wir folgten voller Begeisterung den Brüsten von Pamela Anderson, die sich bei jedem Schritt hoben und senkten. Sie waren wie zwei Wellen, Zwillingswellen, die uns zu verschlingen drohten.
Dazu später mehr.
Guten Morgen, Welt!
Ich bin als raffinierter Textlieferant bekannt. Ich exportiere meine Texte in aller Herren Länder. In den USA sind sie besonders beliebt. Man verkauft sie dort in sogenannten Drive-in-Restaurants.
Die Leute kommen von weit her, um einen meiner Texte zu erstehen. Mit ihren Monstertrucks fahren sie an die Gegensprechanlage heran und ordern einen Rohm und eine Coke. Die afroamerikanische Bedienung nimmt die Bestellung – ohne mit der Wimper zu zucken – entgegen. Bei ihr gibt es alles, was sich schnell herunterwürgen lässt. Sie lässt einen der Schreiber tippen. Schneller, ruft der Einpeitscher. Der Schreiber, der erst kürzlich aus Mexiko eingeflohen ist, versucht meine Buchstaben abzupinseln. Jeder Text muss frisch zubereitet sein. Dafür bürge ich mit meinem Namen. Währenddessen drängeln sich an der Kasse zahllose Kids, die unbedingt einen doppelten Rohm ohne Umlaute haben möchten. Hektik macht sich breit. Wie konnte er nur hierherkommen? Seit Jahren versuche ich Jean Hektik aus meinen Lokalen draußen zu halten. Trotzdem schafft er es immer wieder reinzukommen. Er hat eigens eine Fluglinie aufgekauft, um all meine Läden zu erreichen. Einer meiner zahlreichen Türsteher begleitet ihn vor seinen Arbeitsplatz, um ihm klar zu machen – unmissverständlich und endgültig -, dass er hier nicht gerne gesehen ist. Hektik ist seit meiner Firmengründung mein größter Feind. Ein Unhold, dem Einhalt zu gebieten ist.
Kurztexte, auch SMS genannt, sind das Kopfnahrungsmittel der Moderne. Ich schreibe die Urtexte, auf denen alle weltweit vertriebenen Texte beruhen, längst nicht mehr selbst. Oh nein! Texter, die ich von den bekannten Literaturinstituten in Leipzig, Halle und Nürnberg abwerbe, schuften in gläsernen Palästen, die sich links und rechts des Rhein erstrecken. Längst bin ich zu einem Phänomen geworden, einer Marke. Rohm liest man nicht, man lebt ihn. Ich bin kein Autor, sondern eine Lebenseinstellung. Unentwegt finanziere ich Großprojekte. Ich kaufe Politiker und Museen auf. Verkloppe sie. Meine Gewinne haben sich derart angehäuft, dass ich längst über siebzehn Geldspeicher verfüge.
Texte auf Bestellung, das ist mein Metier. Schrieb ich früher noch Geburtstagsgrußkarten, stammt heute der überwiegende Teil der deutschen Literatur aus meinem Haus. Ja, glauben Sie denn wirklich, dass ein Martin Walser noch ein Wort selber schreibt? Nicht, seit er von mir und meinem Unternehmen gehört hat. Und die neuen Bücher von Götz und Maier? Auch von mir. Außerdem produziere ich neunzig Prozent der Texte, die im Spiegel und in der Emma erscheinen. Als Textlieferant muss man in großen Maßstäben denken.
Stehe ich am Morgen auf, wartet zunächst ein reichhaltiges Frühstück auf mich. Anschließend trainiere ich mit meinem persönlichen Fitnesstrainer. Vierzehn Purzelbäume, danach fahre ich auf dem Dreirad durch meinen Park. Die frische Luft, die Vögel, das alles tut mir mehr als gut. Als Millionär ohne Sorgen muss man darauf achten, sich nicht vom Stress einholen zu lassen. (Hektik lasse ich derzeit von einem Killerkommando jagen. Gedungene Killer, die sich nicht zu schade sind, ihm die Zähne zu ziehen, bekommen sie ihn in ihre Hände.)
Mittags kümmere ich mich um meinen Mittagstisch, der reichhaltig gedeckt ist, unter anderem mit Schiffen aus Schokolade, so einem Nachbau der Titanic, den ich genüsslich in meinem Bauch versinken lasse.
Auch dies, Sie haben es sicherlich bereits bemerkt, ist ein Text auf Bestellung. Sie können ihn mit Ketchup genießen. Meine Texte machen übrigens den Körper auf Dauer kaputt. Vor allem das Hirn. Die kalorienreichen Worte (Schokolade etc.) lassen die Seele verfetten. Sie werden träge, sind weniger hilfsbereit und wollen schließlich nichts anderes mehr tun, als nur noch auf dem Sofa rumlümmeln. Sie werden zu einem Schatten Ihrer selbst. Ich habe Sie in meiner Hand. Endlich sind Sie nach meinen Texten süchtig geworden, die in bunten Werbebildern eine Welt des Sports und der Jugend anpreisen, die ihnen endgültig durch den Konsum meiner Texte abhanden gekommen ist. Sie sind zu einem Wrack geworden, Abschaum, der, um ein paar Cent zu verdienen, in einem meiner Lokale arbeiten wird.
Und so schließt sich der Kreis. Eine Schulfeier ist beendet und schon strömen alle zu einem McRohm’s, um sich einen fetttriefenden Text mit null Inhaltsstoffen reinzuziehen. Rasch sind alle Tische besetzt. Es geht nicht darum, was man hier bekommt, sondern dass man es hier bekommt. Man gehört dazu. Man ist Teil der weltweiten Rohm-Gemeinde. Ich wusste, ich würde sie bekommen. Irgendwann bekommen ich sie alle.
Guten Appetit!
Dienstag
Ich litt früher an Müdigkeit. Meine Eltern konnten sich keinen Reim auf meinen Zustand machen, der mich, egal wo wir hinkamen, schlafen lassen wollte. Sie zerrten mich von Arzt zu Arzt, die sich meine Augen ansahen und feststellten, dass ich müde aussehe. Meine Eltern sollten es mit Kaffee versuchen, mit Horrorfilmen. Die Angst, so mein späterer Nachbar Doktor Mehrzahl, sei ein gutes Mittel, kleine Kinder wach zu halten. Meine Eltern versorgten mich mit Büchern von Stephen King und Rosamunde Pilcher. Die von Rosamunde Pilcher halfen schließlich. Ich zitterte am ganzen Leib, sie konnten mich gar nicht mehr bewegen, noch aus dem Haus zu gehen. Ich hätte erkannt, dass alles sinnlos ist, erklärte ich ihnen. Und wieder wurde Doktor Mehrzahl zu Rate gezogen, der meinte, sie hätten es nicht gleich so übertreiben dürfen. Pilcher gebe er nur den ganz harten Fällen, die von sich behaupteten, nie Angst zu haben. Sie sollten mich auf jeden Fall von Regionalkrimis fernhalten, da könne er für nichts bürgen. Er habe schon Fälle erlebt, die hätten sich nach dem Lesen diverser Krimis aus dem Fenster gestürzt, so leer sei ihnen die Welt nach der Lektüre vorgekommen. „All die Buchstaben“, schrieben manche in ihren Abschiedsbriefen, „sind wie Sand in einer Wüste, die keine Dünen kennt. Alles gleichförmig. Vorhanden, weil man Sand zur Verfügung hatte, um eine Wüste aufzuschütten. Keine Sandburgen, nichts. Es ist schrecklich. Gott stehe uns allen bei!“
Die Müdigkeit kehrte nach einigen Tagen zurück und verlor sich nie. Sie wurde irgendwann sogar zu meinem Markenzeichen. „Da kommt er ja, die Schlafmütze“, sagten meine Freunde. Alles, was ich später schrieb, schien ein großer Angriff gegen die Medikamente meiner Jugend zu sein. Es war, als wollte ich die Worte, die mich so sehr in Angst versetzt hatten, mit meinen eigenen Dämonen bändigen.
Guten Morgen, Welt!
Montag II
Seitdem der Wind so wütet, lebe ich in der ständigen Gefahr, von ihm fortgeweht zu werden. Der Aufenthalt draußen ist zu einem gefährlichen Unternehmen geworden. Ich seile ich mich am Geländer fest, um an den Mülleimer zu kommen. Kühe und Autos fliegen an mir vorüber. Mein Blick versucht ihnen zu folgen. Vergeblich. Die Schwerkraft scheint aufgehoben. Das Pfeifen des Windes gemahnt an das Wehklagen von Toten, die sich auf ihrem Weg ins Jenseits verirrt haben.
Mein Nachbar Doktor Mehrzahl nutzt die Gunst der Stunde und recht Laub. Unermüdlich versucht er der fliehenden Blätter habhaft zu werden, die wie kleine, gerissene Tänzer vor ihm fliehen. Die Einkäufe werden von Sherpas transportiert, die gelernt haben, solche Tage zu überleben. Sie kneifen die Augen zusammen. Gelernt ist eben gelernt. Unermüdlich halte ich die Luft an, um nicht zu viel Wind in meine Lungen gequetscht zu bekommen. Jeder Schritt wird zu einer Qual. Auf der Garage ist für Sekunden eine Fratze zu erblicken. Ist das etwa der sagenhafte Windmensch Kanchendzönga, der in den Legenden der Fuldaer Ureinwohner seit Jahrtausenden als Schreckensbild einer entfesselten Natur beschworen wird? Ich versuche ihn mit einem imitierten Bellen zu verscheuchen.
Die nächsten Stunden werden über unser weiteres Schicksal entscheiden.
Guten Abend, Welt!
Montag
Der Wind spielt mit dem Haus, als wäre es ein Grashalm. Hin und her geht es, sodass wir uns festhalten müssen. Ich klammere mich an eine alte Kommode, die quietschend von links nach rechts rutscht. Eine halbe Minute später geht es wieder zurück. Wir hätten die Möbel anbinden sollen.
Fulda ist als windreiche Gegend bekannt geworden. Fast die ganze Welt bezog einst ihren Wind von hier. Wir waren Exportweltmeister in Sachen Wind. Täglich fuhren Windlaster aus den großen Windhallen in all die Länder, die an Windknappheit litten. Der ganze Reichtum dieser Stadt stammt vom Wind.
Ich kann mich an die Geschichten meiner Großmutter erinnern, die mir von den Windfeldern erzählte, auf denen die Arbeiter standen, die Münder offen, um den Wind aufzufangen. Sie spuckten ihn in große Säcke, die sie sich über den Bauch gebunden hatten. Ein guter Windarbeiter konnte täglich bis zu dreißig Säcke mit Wind füllen. Herrenhäuser, unsichtbar, entstanden, in denen die Großluftbesitzer lebten. Alles, auf das man damals baute, war aus Wind, aus Luft, aus einem Material, das man nicht erblicken, wohl aber fühlen konnte. Fühlen, wenn es einen hob und über den Himmel Richtung Innenstadt trug, wo man sich vom Luftbus absetzen ließ, um ein Open-Air-Konzert zu besuchen, etwa wenn LUFTIKUS spielten, eine Band aus dem Sauerland, die sich auf die Luftgitarre verstanden, dass sich einem im Kopf alles drehte. Die Finger von Bad Motherfucker No. 5 rasten über die Luftseiten und zauberten Klangfolgen, die bis heute als legendär gelten. Bad Motherfucker No. 5 war es auch, der später als Luftbefeuchter Karriere machte, seiner nassen Aussprache wegen. Er wurde eine menschliche Sprinkleranlage, die man bevorzugt in Wintergärten einsetzte. Da stand er dann, etwa im berühmten Pinken Haus der USA. Das war, bevor sie es weiß anstrichen, weil sich die Präsidenten farblos geben wollten. Man setzte auf eine Politik der Langeweile, des Blassen, andere vermuteten Rassisten dahinter, die mit dem Weißen Haus eine Aussage treffen wollten. Es ging darum, keine andersfarbigen Häuser mehr zuzulassen, es sollte zu Haustrennungen kommen. Farbige Häuser sollten künftig in separaten Wohngebieten stehen, in solchen, in denen es später auch zu den bekannten Rasenunruhen kam. Was erzähle ich Ihnen hier. Das ist alles Geschichte. Wohlbekannt.
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Das Geheimnis
Sonntag
Sie haben die Uhr umgestellt. Meine Frau und die Kinder sind in den frühen Morgenstunden aufgestanden und haben sie vom Tisch auf den Boden geräumt. Da stand sie, ganz allein, so fehl am Platz, der neu für sie und mich war. Die arme Uhr, sie wusste gar nicht, wie ihr geschah.
Als ich aufstand, wäre ich beinahe über sie gestolpert. Direkt über die Uhr, die Zeit. Es kann ein böses Ende nehmen, wenn man über die Uhrzeit fällt. Man kann sich einen Arm brechen, den Fuß.
Im ganzen Land werden an diesem Tag die Uhren umgestellt, manchen verstellt man auch den Weg. Stühle werden vor sie gerückt, Schränke, damit sie nicht entkommen kann, die Zeit. Die Leute halten sie wie ein wildes Tier, vor dem man sich fürchten muss.
Zeitbeschwörer werden wieder durch die Lande ziehen, in ihren Körben Zeit, die sie mit ihrer Blockflöte beherrschen. Ganz verzaubert zeigt sich die Zeit vom Spiel der Zauberer, der Schamanen, die in den Fußgängerzonen sitzen werden, um sich ein paar Cent zu verdienen. Stumm und starr werden die Kinder vor ihnen stehen, verzückt von der Kunst, die Zeit in die Höhe steigen zu lassen, so wie eine Rauchsäule, für Sekunden, länger schafft es selbst der beste Zeitbeschwörer nicht, die Zeit zu hypnotisieren.
Nicht lange und ich werde mich daran gewöhnt haben, dass die Zeit fortan auf dem Boden (neben dem Klo) steht. Es wird sein, als hätte sie dort schon immer gestanden, bis die Zeit abermals umgestellt wird, bis sie von meiner Frau in einer fernen Nacht am Hals gepackt und an einen anderen Ort verbracht wird. Erst wenn die Zeit umgestellt ist, fällt einem auf, dass sie da ist. Bis dahin wird sie zu einem Mitbewohner, zu einem Möbelstück, das da ist, und dem man keine Beachtung schenkt, weil man anfängt, es zu übersehen.
Gut also, dass die Zeit hin und wieder verrückt wird, so wird man ihrer gewahr, auch wenn es nur für eine Stunde ist, die sie frisst, denn die Zeit ist ein Wiederkäuer, der Zeit kaut und schluckt, wieder und wieder, bis wir über ihr sterben, die unsterblich ist.
Guten Morgen, Welt!
Ich bin müde. Ja, warum bist du denn müde?, fragt mich meine Frau. Das steckt im Menschen, antworte ich ihr. Der liebe Gott hat ihn so eingerichtet, dass man müde wird. Würden wir nicht müde, erkläre ich weiter, würden wir nicht schlafen. Und ohne Schlaf gäbe es keine Träume. Nicht einen. Jetzt stell dir das mal vor, sage ich zu meiner Frau. Eine Welt ohne Träume. Das wäre doch nicht zum Aushalten. Immer nur Realität. Da muss man doch vor die Hunde gehen. Wir würden in der Nacht in unseren Wohnungen sitzen und unsere Einrichtung betrachten, bis sie uns zu den Ohren herauskäme. Ja, sagt sie, da hast du recht. Ohne Schlaf keine Träume. Komm ich deck dich zu, sagt sie. Schön ist es, wenn man von seiner Geliebten in den Schlaf entlassen wird.
Hirnkleister? (6)
5.
Die Untergrundpolizei wurde einst von Dick Daisy geründet, den heutzutage jedes Kind kennt, auch wenn es das abstreiten würde. Die Stadtoberen winken ab. Daisy sei eine Legende. Es gebe keine Untergrundpolizei, kurz UP genannt. Man wolle den Leuten Angst machen. Das Morden dürfe nicht aufhören, forderten die Stadtoberen, ihnen allen voran der mittelgescheitelte und mittelgescheite Doktor Thomas Thams.
Der, das weiß wiederum Gerhard, müsste es besser wissen. Er war ein Spielkamerad von Daisy, bis Daisy mit dem Räuber- und Gendarmspiel ernst machte und eine kleine Einheit gründete, um „in diesem Viertel aufzuräumen“, wie er sich wagemutig ausdrückte. Daisy stand auf dem Klettergerüst und tönte von seinen kommenden Taten.
Doktor Thams, der schon damals Doktor hieß, weil der Doktor ein Teil seines Namens war, lachte auf und stopfte sich die Hamsterbacken voll Brot. Neben ihm sein hundsgemeiner speichelleckender Freund Klein-Toby.
Klein-Toby nickte und kratzte sich an seinem Bart, den er sich in einem der Läden in der Innenstadt gestohlen hatte.
In Dillinger kaufte niemand ein. In Dillinger stahl man, betrog man, vergewaltigte man, schlug man tot; Leute, die sich dagegen wehrten, verschwanden spurlos im Tal der Knochen oder in den Sümpfen der ewigen Tränen.
Die Großmütter erzählten abends ihren Enkeln davon, die gebannt zuhörten, während draußen ein Schrei ertönte.
Später, da war Doktor Thams längst zum Bürgermeister der Stadt gewählt worden (dank der Armee, die im Hintergrund dafür sorgte, dass die Bürger ihr Kreuz an der rechten Stelle auf dem Wahlzettel, der eh nur Thams aufzuweisen hatte, machten), verschwanden mehr und mehr unrechtschaffende Bürger. Eben überfielen sie noch einen Schnapsladen, um im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein.
Die Menschen bekamen es mit der Angst zu tun.
Dort draußen ist etwas, flüsterten sie. Etwas Gutes, etwas, was uns für unsere Verbrechen bestrafen will.
„Brecht ihm das Genick!“ schrie der Führe einer Lynchgruppe, die sich einmal wöchentlich in einem der freien Räume des VJTM (Verein Junger Tötender Männer) trafen.
Schreiend und grölend zogen sie ihre gewohnten Runden durch die Stadt, in der Hoffnung, den lynchen zu können, der ihnen das antat.
Sie wussten nicht, ob er unter ihren Opfern war. Es hätte gut sein können. Sie hofften es.
Sie warteten ab, aber wieder verschwanden untreusorgende Väter, die nur ihrem Handwerk des Totschlags nachgegangen waren.
Doktor Thams beruhigte die aufgebrachte Menge nicht, aber er wiegelte sie auch nicht noch mehr auf.
Dick Daisy, und der Doktor konnte sich gut an diesen Jungen erinnern, dem die Gerechtigkeit über alles gegangen war, sei also eine Schauergeschichte, eine Legende. Man solle sich keine Sorgen machen. Menschen seien in Dillinger schon immer verschwunden. Das sei ein Teil ihrer Kultur. Ihrer Lebensart. Ja, dachten die Bürger. Er hat recht.
Und so wurde die UP nach und nach zu einem Märchen, das wieder und wieder zuschlug.
6.
Gerhard, der Detektiv mit dem Horn, der eigentlich nach Hause müsste, hin zu Frau und Kindern, krault sich mit der linken unbehornten Hand die Kopfhaut. Er weiß nicht, was von dem, was ihm so durch den Kopf spukt, stimmt und was nicht. Er hat eine rege Fantasie, so wie manche über eine rege Verdauung verfügen. Es könnte sogar sein, umso länger er darüber nachdenkt, umso unsicherer ist er sich, dass seine Mutter noch lebt und er seinen Vater nicht als Baby mit einem Maschinengewehr erschossen hat. Alles möglich! Er spinnt gerne rum. Das sagen alle.
Nein, es muss stimmen. Er kann sich das nicht alles eingebildet haben.
Und jetzt blitzen die Bilder in seinen Kopf, die von Dick Daisy, der eines Nachts mit seinem Trupp in seinem Zimmer stand und ihn antippte.
Tief und fest hatte er geschlafen, aber Dick gab nicht auf, bis er die Augen aufschlug, ein junger Mann, der gerne heimlich seine Krimis schrieb und kein Geld damit verdiente.
Da stand er. Dick Daisy. Eingeschlagen in seinen Mantel, eine Pfeife in seinem Mund und eine Polizeimütze auf seinem Kopf.
„Weißt du, wer ich bin?“ fragte Dick Daisy.
Gerhard sagte kein Wort. Der Schock in der Nacht von einem weltbekannten Polizisten geweckt zu werden, saß zu tief.
„Wir sind die UP“, sagte Dick. „Und mein Name ist Dick Daisy. Ich bin der letzte Held in einer Zeit, die einzig Unholde gebärt.“
Hinter Dick trat ein dicker Kerl nach vorne, der ein Tonband auf dem Arm trug, das er einschaltete. Applaus ertönte.
„Wir müssen vorsichtig sein!“ rief einer von hinten.
„Was … Was wollt ihr von mir?“ fragte Gerhard.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Dick. „Wir werden dich nicht verhaften. Wir beobachten dich. Lange schon. Wir haben über dich gesprochen. Wir möchten, dass du ein Spion der UP wirst. Wir möchten dich in unsere Truppe aufnehmen, wollen, dass du ein Teil dieser Armee der Gerechtigkeit wirst.“
„Ein Spion?“
„Unsere Augen und Ohren, die am Tag alles sehen, was in Dillinger geschieht.“
Dick fuchtelte wild herum, bis ihm der mit dem Tonband etwas reichte, das Dick auf die Bettdecke legte.
„Was ist das?“ fragte Gerhard.
„Das ist ein Horn. Wenn du in das Horn bläst, rufst du uns. Wir sind deine Kameraden. Entdeckst du ein Verbrechen und bist du der Meinung, dass es einen Unhold gibt, der verhaften werden muss, pustest du siebenmal in das Horn. Besser fünfmal, sonst fällst du uns noch in Ohnmacht.“
„Ich muss schlecht träumen. Alle sagen, es gebe dich nicht. Andere sagen, ich hätte eine zu rege Fantasie, so wie andere eine zu rege Verdauung haben. Und wieder andere sagen …“ Gerhard schluckte.
„Was sagen sie?“ fragte Dick Daisy.
„Sie sagen, Dillinger sei keine Stadt, sondern eine überdachte Irrenanstalt. Hier würden nur Wahnsinnige leben.“
„So, sagen sie das?“, sagte Dick. Er streckte sein Kreuz durch. Er hob die scharfgeschnittene Adlernase, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und riss die Augen auf. „Bin ich etwa ein Wahnsinniger?“
„Nein“, beeilte Gerhard sich zu sagen.
„Also. – Die Parole …“
„Die Parole?“
„Wir brauchen eine Parole. Jedes Team hat eine Parole, damit es in der Nacht nicht zu Verwechslungen kommt. Die Parole lautet: Fern ist der Stern. Ist er nicht fern, hab ich ihn nicht gern. Lern vom Stern. Lern gern vom Stern.“
„Ist das nicht etwas lang für eine Parole?“ wagte Gerhard zu fragen.
„Papperlapapp. Die Parole hat sich bewährt. Und sie kann nur den Eingeweihten bekannt sein, eben weil sie so lang und kompliziert ist.“
„Hm …“
„Wiederhole die Parole.“
„Hm … Der Stern ist gern. Fern ist der Stern. Lern gern.“
„Prima. Sitzt doch. – Wir werden dich in den nächsten Nächten abholen und in unser Tunnelsystem führen, das tief unter der Stadt liegt. Dort wirst du ausgebildet. Und jetzt …“ Dick drehte sich um. „Jetzt gehen wir, Männer! Immerhin gibt es noch ein paar Schurken zu verhaften.“
Als Gerhard später allein war, konnte er nicht glauben, was geschehen war. Sollte er mit seinen Eltern darüber sprechen? Ach, das ging nicht. Seinen Vater hatte er als Kind erschossen. Dumme Geschichte. Das hätte er mal besser sein gelassen. Jetzt würde er gern mit ihm darüber reden.
Aufgeregt schloss Gerhard, der zukünftige Detektiv mit dem Horn, die Augen und schlief augenblicklich ein.
Geht doch, dachte er noch und war über sein abgebrühtes, kühles Wesen, das selbst in einer solchen Nacht seinen Schlaf fand, erstaunt.
Im nächsten Moment schnarchte er.