>>>>#5: Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles
Gerade erschienen.
Mit einer Kurzgeschichte von mir, in der Menschenknochen Trost spenden sollen.
Eine kopflose Geschichte
Winzer ist ein Kaffeetrinker. Ein Kaffeesäufer der schlimmsten Sorte. Er ist auch ein Krimiautor. Ein erfolgloser. Er sitzt in seiner Wohnung und bekommt Hartz IV. Und das ihm, der den Nobelpreis bekommen müsste.
„Ach, das Leben ist hart.“
Kaffee hat er auch keinen mehr. Das Geld ist alle. NADA. NOTHING. Geld ist aus. Hartz IV. Das hört sich für die Leute gut an. Rumsitzen und kassieren. Unsinn! Papperlapapp.
Und jetzt? Jetzt muss Winzer wieder los. Er zieht sich seine schwarzen Klamotten an. Ninja-Style. Nimmt sein Küchenmesser und zieht los, um sich die Taschen zu füllen. Sein illegaler Nebenerwerb: Mord- und Totschlag.
Um den Nachbar vorzugaukeln, er habe die Wohnung nicht verlassen, seilt er sich ab. Direkt vom Balkongeländer. Mit seinem Betttuch. Er wohnt im Erdgeschoss. Keine wirkliche Mutprobe.
Unten sondiert er das Gebiet. Auf dem Spielplatz treiben sich ein paar Kids herum. Die haben meistens Geld, das sie anderen Kids in der Schule abnehmen. Schutzgelder. Drogengelder. Er tut was Gutes, wenn er sie abzieht.
Er macht eine Rolle vorwärts und landet im Gebüsch neben dem Spielplatz. Mit einem HA! springt er hervor. Sie sind nicht überrascht. OH NEIN! Sie sind nicht mal ansatzweise verängstigt.
„Ich will euer Geld!“, fordert Winzer.
Sie hören etwas von Silo. Silo ist ein bekannter Rapper aus der Gegend, der es ins Rampenlicht geschafft hat. Einer, der aus dem Ghetto an die Spitze der Albumcharts katapultierte wurde. Die Kids ziehen ihre Waffen. Jeder von ihnen hat eine Waffe. Selbst die ganz Kleinen. Sie halten ihm ihre Schießeisen unter die Nasen und fordern die Klamotten und das Messer. Winzer kann es nicht fassen. Nicht glauben. Und das ihm. Alles läuft schief.
ALLES!
Er zieht sich zähneknirschend aus und übergibt das Messer. Die Kids lassen Gnade vor Recht ergehen und erklären ihn zu ihrem Gefangenen. Sie sagen ihm, wer sie sind. Die KIDS DES TODES. Sie haben das Viertel im Griff. Normalerweise müsste er jetzt sterben. Aber sie seien heute gut drauf, erklären sie. Er dürfe überleben. Was er so mache und so?
Krimiautor, sagt Winzer.
Sie lachen sich über die Antwort kaputt. Sie schütteln sich. Wiegen sich wie kleine Apfelbäumchen im Wind. Ein Künstler also. Solche gebe es hier im Viertel nur. Alles Schriftsteller, Maler, Models.
Sie könnten einen Hofnarr gebrauchen. Einen Diener.
Winter meint, er könne nicht. Er habe noch was vor. Später käme FRAUENRAUSCH im Fernsehen. Und DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERDEPP. Da könne er nichts verpassen. Das würde man ihm als Bildungslücke auslegen, sagt Winzer und schiebt seinen nackten Arsch langsam nach hinten.
Er solle bleiben, wo er ist.
Die KIDS DES TODES beratschlagen, schließlich schieben sie ihn vor sich her.
Da rüber!
Wohin?
Die KIDS DES TODES haben eine Höhle gegraben. Unterirdisch. Alles sehr eng. Feucht. Man kommt kaum rein.
„So wünscht du es dir doch“, lacht eine, die die anderen Lady C nennen. Alles besser als Chantale, wie sie wirklich heißt.
Winzer muss sich in das Loch zwängen. Er bekommt kaum Luft. Sie schmieren ihn mit Vaseline ein. Zwängen und ächzen, bis er schließlich feststeckt. Winzer bekommt Atemnot. Panik. Überall sind Würmer. Er kann nichts sehen. Hier kann man nicht leben. Zurück! Er strampelt, bis sein Kopf wieder aus dem Loch guckt.
„Das geht nicht“, sagt er.
Die KIDS DES TODES sind schon lange fort. Sie haben die Höhle aufgegeben. Die Lust haben sie auch verloren. Soll der doch in dem Loch bleiben.
Und Winzer bleibt. Das Unglaubliche geschieht. Niemand befreit ihn. Er bettelt. Fleht, aber niemand will ihm aus dem Loch helfen.
Besser so, denken die Leute im Viertel. Jetzt haben wir eine Attraktion.
Die Besucher kommen von nah und fern. Aus Japan. Sogar welche aus Sylt. In diesem Viertel, sagen sie, da wächst einer aus dem Boden.
Gierig umringen ihn die Touristen. Die KIDS DES TODES kassieren die Eintrittsgelder. Acht Euro die Karte. Das geht doch. Was stellt ihr euch so an? Nur acht Euro und ihr könnt den Mann bewundern, der aus dem Boden wächst. Nicht mehr lange, so kündigen die KIDS DES TODES an, dann wird er geerntet.
„Geerntet?“, fragt ein Journalist entsetzt.
„Klar“, sagt Lady C. „Kopf schmeckt besonders gut, wenn man ihn im Schnellkochtopf zubereitet.“
Die Politik schaltet sich ein. So ginge das nicht. Man müsse ein Kommission einsetzen, die überprüfen müsse, um es sich um ein Gewächs oder einen Menschen handelt, erst danach könne man entscheiden.
Winzer weiß von dem all nichts. Er fühlt sich wohler denn je. Er ist ein Star. Wenn er jetzt einen Krimi veröffentlichen würde, er würde sich wie verrückt verkaufen. Ein Hit, ein Bestseller, geschrieben von dem Mann, der aus der Erde wächst. Dem Baummenschen. Dem Strauchlebewesen. Der Kartoffelnase.
Nach ein paar Wochen verliebt sich Winzer sogar in eine kleine Frau aus dem Nachbarviertel, die ihn täglich mit Marzipan füttert. Er ahnt nicht, dass sie ihn füttert, weil sie zu denen gehört, die ihn später, wenn er geerntet wurde, essen will.
Wie so ein Kopf wohl schmeckt?, fragt sie sich.
Es gibt aber auch Kräfte, die ihn befreien wollen. Menschen, die sich für die Rechte von Köpfen einsetzen. Und eines Nachts kommen sie, um ihn zu befreien. Sie fahren schweres Gerät auf. In einem Schubkarren: Hacken und Schaufeln. Winzer bekommt zunächst nichts mit, so fest schläft er. Ihm träumte gerade von einem Fußballfeld. In der Mitte statt eines Balles sein Kopf. Anpfiff. Einer der Spieler stürmt auf ihn zu, holt aus, tritt zu und …
Winzer erwacht. Was ist denn hier los. Schweiß, Nacht, Erde. Bitte sehr, ich erwarte eine Erklärung.
Nichts da. Die Befreiungsorganisation FREIE KÖPFE hat keine Zeit, sich auf Diskussionen mit ihrem Zielobjekt einzulassen. Später kann man reden. Später auf der DÜSSELDORF, dem größten Ökoaktivistenkahn der Menschheitsgeschichte. Die DÜSSELDORF hat schon alle Meere der Welt befahren. Man hat Delphine, Wale, Seesterne, Rochen gerettet. Sie alle konnten sich nicht äußern, ob sie überhaupt gerettet werden wollten. Dieses Mal ist es anders. Winzer wird sich äußern können. Er wird seinen Dank direkt in die Kameras hauchen können. Die Kameras, die alles einfangen werden. Jede kleinste Regung. Jede Träne.
Die KIDS DES TODES werden außer sich sein. Sie werden toben. Wie konnte man ihnen ihren Kopf entführen, wo er schon für viel Geld an Gourmets aus aller Welt verkauft war.
Sogar Jaques Pepin wollte kommen. Pepin, der 1976 siebzehn Meerjungfrauen, eingelegt in Meerwasser, angelegt an Flußkrebse, verspeiste. Pepin gilt als Sinnbild des französischen Gourmets, der sich nicht auf Kartoffeln oder Brot stürzt, sondern dem gerade das Beste gut genug ist. Wie damals, als er Rasenstücke in Salbeisoße aß, nicht irgendwelche Rasenstücke, sondern Rasenstücke aus dem Rasen des amerikanischen Präsidenten. Frisch aus der Wiese vor dem Weißen Haus geschnitten und nur wenige Meter entfernt zubereitet. Pepin verputzte ganze siebzehn Quadratmeter. Die Presse jubelte, während Pepin die Schusswunde versorgen ließ, die der SECRET SERVICE ihm als Dessert verpasst hatte.
Winzer lässt seinen Blick schweifen. Verzweiflung in den Augen. Die Wachen, die die KIDS DES TODES aufgestellt hatten, enthauptet.
„Wie konntet ihr das tun?“, schreit Winzer.
„Für die Sache der Freiheit“, sagt die Bordgynäkologin Dr. Reifenbach.
„Ihr Monster!“
„Nein, wir sind keine Monster. Das sind die Monster. Man hat sie ausgestellt. Und in wenigen Tagen wollte man sie ernten und verspeisen.“
Unsinn. Was reden die da?
Die Organisation FREIE KÖPFE hat ihn ausgegraben.
„Stehen Sie auf“, sagt Doktor Reifenbach.
Winzer versucht es. Er versucht es wirklich. Er kann es nicht. Spürt weder in den Händen noch Füßen etwas.
„Der Rollstuhl!“
Der Ruf nach einem Rollstuhl wird weitergetragen. Von Mund zu Mund wird er getragen.
„Was ist mit mir?“, fragt Winzer.
„Alles abgestorben“, antwortet Reifenbach. „Wir werden Ihnen den Kopf abnehmen müssen und ihn an ein Computersystem anschließen müssen. Ein kompliziertes Verfahren, wie man es aus FUTURAMA kennt. Ihr Kopf wird unter einer Glasglocke landen.“
Man hebt Winzer in den Rollstuhl, der nicht glauben kann, was er eben gehört hat.
„Sie meinen, so wie in der Zeichentrickserie?“
„Unsere besten Erfindungen stammen aus Zeichentrickfilmen.“
„Und haben sie das schon mal gemacht.“
Frauen und Männer in Ärztekitteln stehen um ihn herum.
„Was hat er gefragt?“
„Er will wissen, ob wir schon mal einen Kopf entfernt haben.“
Gekicher. Dann schieben sie ihn rasch zum LKW KÖLN, dem größten Ökoaktivistenlastkraftwagen der Welt.
Die DÜSSELDORF hebt und senkt sich. Stürmische See. Meterhohe Wellen. Die DÜSSELDORF wird seit Wochen von einem Boot der KIDS DES TODES verfolgt, die die Herausgabe ihres zu früh geernteten Kopfes fordern.
Winzers Kopf wurde abgetrennt, um ihn zu retten. Er wurde an einen Computer angeschlossen.
„Ich starre seit Tagen auf dieses Bild eines Schiffes in Seenot“, beschwert Winzer sich.
Elvira Reifenbach kann es nicht mehr hören. Winzer geht ihr bereits jetzt unsagbar auf die Nerven. Auf die Nerven, die Nerven, und das SOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO unsagbar. Nerven, Nerven. Sie zwinkert nervös mit dem linken Auge.
„Meine Stirn juckt!“, schreit Winzer. „Ich will sie gekratzt bekommen.“
Die Gynäkologin beugt sich zu dem Kopf. „In der Erde dort in Ihrem Viertel, da haben Sie sich doch auch nicht dauernd beschwert.“
„Dort war ich ein verfluchter Star“, sagt Winzer. „Hier stehe ich in einer Kajüte rum. Ich werde nur manchmal vom Kapitän geholt, um ihm bei seinem Sex zuzusehen.“
„Das streitet der Kapitän ab!“
„Er treibt es mit einem Loch im Schrank.“
Dr. Reifenbach will das nicht hören. Sie ist hier, um sich für die Rechte bedrohter Arten einzusetzen. Für das Gute. Da kann sie es gar nicht gebrauchen, wenn das Befreite ständig meckert.
„So können wir ihn nicht der Presse vorführen“, sagt Elvira später beim Abendessen.
Sie blinzelt dem Bordmacho Don Lillo zu, der sich nachher in ihrem Bett einzufinden hat. Sie will sich ablenken. Will den Kopf vom Kopf frei bekommen.
„Und was machen wir mit ihm?“
Die entscheidende Frage, auf die momentan niemand eine Antwort hat.
Wochen, Monate. Der Kopf wird von Hand zu Hand gereicht. Er will sich nicht vor der Presse bedanken. Man droht ihm damit, ihn abzunabeln. Raus mit den Kabeln. Offline. Es fruchtet nicht. Winzer will, dass man ihn in seine Wohnung zurückbringt, am liebsten ins Loch. Dort gehört er hin. Dort war er wer.
DAS GEWÄCHS!
Elvira Reifenbach spricht mit Engelszungen auf ihn ein. Sie redet sich die Zunge wund. Leckt aufreizend über das Glas. Verspricht, dass er sie mit der Zunge befriedigen darf, wenn er aller Welt erzählt, was für großartige Freiheitskämpfer ihn da vor, sie muss nachzählen, drei Jahren befreit haben.
Drei Jahre? Winzer schluckt. Er hat die Faxen dicke. Er spuckt, obwohl er gar keine Spucke mehr hat. Ich denke, als bin ich. Nach dem Prinzip funktioniert er. Oder das, was von ihm übrig ist.
In einer stillen Nacht auf dem offenen Meer, kommt es über ihn. Er beginnt hemmungslos zu weinen, bis er Geräusche hört. Seine Lider zucken. Schüsse sind zu hören. Bomben detonieren. Schließlich wird seine Tür in die Kajüte gepustet. Haarscharf an seinem Kopf vorbei.
Die KIDS DES TODES stürmen hinein, mitten unter ihnen Jaques Pepin, der eine Latz trägt. In seinen Händen Messer und Gabel.
„Da seid ihr ja endlich“, schreit Winzer begeistert.
Die KIDS DES TODES rappen etwas von Silo, bevor sie ihn in einen Sack stopfen.
Und ab!
Wo bin ich? Teller. Besteck. Kerzenständer. Oh, das ist aber ein fein gedeckter Tisch. Und alle sind sie da. Die KIDS DES TODES. Und der Mann mit dem Latz. Auch die Frau, die mich gefüttert hat. Meine große Liebe. Warum kann ich nicht reden? Ach, wegen des Apfels in meinem Mund. Tut gar nicht weh. Ich kann mich sogar aus meinem Kopf befreien. Da! Ich schwebe über dem Tisch. Dort unten bin ich. Allen läuft das Wasser im Mund zusammen. Hm, ich sehe verflucht lecker aus. Ja, was machen sie denn jetzt? Sie schneiden mich an. Mein Ohr. Nicht schlimm. Ich empfinde keinen Hass. Da ist so viel Liebe. Und wenn sie mich unbedingt essen wollen, dann sollen sie das tun. Ich werde jetzt auf diese Licht dort drüben zufliegen, ja, weiter, hin zum Licht. Und rein ins Licht und …
Lars will es. Unbedingt. Er will die Erde unterjochen. Will sie bluten sehen. Er will der Antichrist sein. Nicht irgendein Antichrist, sondern der Antichrist schlechthin. Das muss doch möglich sein. Berufswünsche sind dazu da, um sie sich zu erfüllen – wenn möglich. Heinz, sein dämlich grinsender atheistischer Schulfreund, hat ihm erzählt, es gebe keinen Gott, und somit auch keine Hölle – und keinen Teufel. Unsinn! Für diese Frechheit hat ihm Lars die Zähne ausgeschlagen. Nicht einen, nicht zwei, sondern alle siebzehn, die Heinz noch im Mund hatte. Und dann hat er ihn noch gewarnt, ja nichts zu verraten, sonst seien seine Eltern und seine Schwestern auch noch dran. Das Böse schläft nie, sagte Lars. Es bekommt alles mit.
Lars geht danach nach Hause, ein Zuhause, dass ständig auf Achse ist, weil seine Eltern im Bankräubergewerbe sind. Bankräuber. Das ist ein guter und ehrlicher Beruf, sagt sein Vater und hebt den kleinen Lars auf den Arm. Wenn du mal groß bist, wirst du auch Bankräuber. Gut und ehrlich sind Worte, die Lars krank machen. Lars schüttelt innerlich den Kopf. Aber jetzt nicht auffallen. Nur nicht auffallen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er sich Aleister nennen und eine Menge Kinder dem Fürsten der Finsternis opfern.
Die Eltern packen den kleinen Lars in seinen Kinderzimmerkäfig und schleppen ihn nach unten. Hinein in den LKW. Und ab geht es zum nächsten Wohnort. Unterwegs, weil es sich anbietet, überfallen sie gleich noch drei Banken. Läuft alles gut. Bis auf die vier Toten. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Sagt der Vater. Und der muss es schließlich wissen, sonst wäre er kein Vater geworden.
Lars malt derweil umgedrehte Kreuze in seinen Sabber. Das ist eine Unart von ihm, überall malt er diese umgedrehten Kreuze hin. Als sie mal bei Oma waren, hatte er sich einen Stift genommen. Die ganze Wohnung hatte er mit den Kreuzen verziert. Als Oma ihn auf sein ungezogenes Verhalten ansprach, verstellte er seine Stimme und krächzte: „Hier spricht Satan, du Hure. Du wirst bald verrecken. Und dann wirst du hier unten bei uns Schwänze schlecken.“ Die Oma riss die Augen auf, stammelte etwas von „Unglaublich!“ und „Was?“ und verstarb an Ort und Stelle. Lars bekreuzigte sich umgekehrt, gedachte des großen Aleister Crowley und buchte Oma als Opfer an den Fürsten ab. Dann bekam er Hunger, weil er sich aber noch nichts alleine zubereiten konnte, musste er warten, bis seine Eltern die Leiche fanden.
Die neue Wohngegend ist schrecklich. Lars hasst sie. Teufel, wie er sie hasst. Lauter Einfamilienhäuser. Frauen, die früh aufstehen und grüßen. Ein grünes Haus, ein gelbes, ein rotes, ein pinkfarbenes. Die ersten Tage ist Lars krank. Er übergibt sich. Wie seine Lieblingsschauspielerin Linda Blair in seinem Lieblingsfilm „Der Exorzist“. Um ihn zu beruhigen, legen die Eltern die DVD ein. Sein Blick verzerrt sich. Ein diabolisches Grinsen umspielt seinen Mund. Es geht ihm Szene für Szene besser. Um sich von den Strapazen der Krankheit zu erholen, streunt er durch die Gegend. Er entführt, foltert und tötet diverse Katzen.
Man müsste hier ein Massaker anrichten, tagträumt Lars, als ihm ein Junge mit einem seligen Gesichtsausdruck entgegentritt. Der Junge heißt Waldemar und ist ein Christenkind. Ein Anhänger Gottes.
„Oh, bist du neu hier?“, fragt Waldemar und meint, Schwefelgeruch wahrzunehmen.
„Fick dich!“, grunzt Lars.
Hm, überlegt Waldemar, als ein Christenmensch sollte ich gehorchen. Ich will diesen jungen Mann ja glücklich machen. Aber wie soll ich das machen? Mich selber ficken? Geht das überhaupt?
„Hör zu, mein Bruder“, sagt Waldemar. „Gern will ich dir deinen Wunsch erfüllen, aber lass uns zuvor beten!“
Lars beschließt, das Spiel, alle Dämonen mögen ihm verzeihen, mitzuspielen, nur um zu sehen, was passiert. Waldemar fällt mit einem „Auaschönistdas“ auf die Knie und betet das Vater-unser. Lars bewegt die Lippen. Die Sekunden des Gebets sind der reinste Himmel für ihn. Es ist schön. Beinahe muss er sich wieder übergeben.
„Und jetzt fick dich!“
Waldemar wird rot im Gesicht. Versprochen ist versprochen. Und der Herrgott sieht alles. Aber Unzucht, auch mit sich selbst, ist eine Sünde. Er könnte sich umbringen. Auch das eine weitere Sünde. Er steckt in einer echten Klemme.
„Und wenn ich es nicht kann?“, fragt Waldemar.
„Dann würde ich dich als einen unfreundlichen Menschen bezeichnen.“
„Hm.“ Waldemar schüttelt den Kopf und geht nach Hause. Hinein in sein Zimmer, er packt seine Bibel ein, ein paar Unterhosen zum Wechseln und zieht sich ins Unterholz zurück. Dort sitzt er. Ein Einsiedler. Einer, der die Menschen hinter sich gelassen hat, bis die Eltern zum Essen rufen. Gehorchen muss er. Also gehorcht er.
Und wieder ziehen Lars und seine Eltern um. Die Jahre verstreichen. Lars ist inzwischen sieben Jahre. Sieben ist eine Zahl, die er hasst. Fragt ihn jemand, behauptet er 666 Jahre zu sein. Er sei das Große Tier. Basta! Außerdem will er nicht mehr Aleister heißen, sondern Damien.
Zeit für seine erste Blackmetalband. Sie nennen sich „Frau Hölle“. „Frau Hölle“ wollen mit ihrer Musik Schmerz erzeugen. Sie wollen quälen. Zunächst probieren sie ihre Songs an Tieren aus. Die meisten verenden nach wenigen Sekunden. Hunderte von Hamstern. Später Katzen. Hunde. Keines der Tiere überlebt ihr Intro. Sie reißen die Augen auf. Fallen zur Seite. Mit heraushängender Zunge. Lars ist mit dem Resultat zufrieden. So können sie auf Tournee gehen. Sie nennen es nicht so. Sie nennen es Amoklauf. Jürgen, der Gitarrist, organisiert einen Kleinbus. Sie schminken sich weiß, schmieren sich mit Schweineblut ein und fahren los. Lars spürt, dass sein Leben allmählich seinen Sinn verliert. Darum geht es. Keinen Sinn finden. Oder, ist einer da, ihn zu verlieren.
Sie halten auf einem Marktplatz. Bauen ihre Verstärker auf, bitten um Strom, den man ihnen verweigert. Sie würden nicht vertrauensselig genug aussehen. Nicht vertrauensselig? Pah! Lars und Jürgen besorgen sich in der Nacht illegal Strom und spielen ihr erstes Todeskonzert. Punkt Mitternacht. Es ist ein Blutbad. Sie metzeln die Kleinstadt nieder. Kinder, alte Menschen, keiner überlebt. Jetzt hat er es geschafft. Lars ist zu einem Flüchtling geworden. Er hat sich endgültig von seinen Eltern abgenabelt, die wenige Tage nach diesem Ereignis bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben kommen. Lars trauert nicht. Höllensöhne trauern nie.
Nach den Kleinstädten, kommen die Großstädte. Lars Antichrist, so haben ihn die Zeitungen getauft. Er ist fünfzehn und verlässt eines Nachts heimlich den Tourbus, um nach Alexandria auszuwandern. Die Band war der Anfang. Aber sie kann mehr. Er weiß es. In Alexandria mietet er sich in einem Hotel ein und beschwört einen Dämon namens Labrador.
Labrador diktiert ihm das „Textbuch des Todes und der Pein“. Darin enthalten, alle Texte, die „Frau Hölle“ grunzen müssen, um die Herrscharen der Hölle auf die Erde hinauf zu rufen. Schwitzend, an Verstopfung leidend, schreibt Lars Antichrist das „Textbuch des Todes und der Pein“ auf dem Klo nieder. Nach vier Stunden ist es vollbracht. Lars zieht sich an, spielt einen Song leise auf seiner Wandergitarre und verlässt ein Alexandria, in dem niemand mehr lebt. Leichenberge säumen seinen Weg. Er läuft an Blutflüssen entlang. Seine Rückreise bildet eine Schneise der Verwüstung.
„Frau Hölle“ treffen sich an einer Bushaltestelle am Rand von Köln. Sie beten ein Vater-unser rückwärts, bespucken Oblaten, feiern hinter dem Bushäuschen eine schwarze Messe samt Jungfrauenschändung und gehen dann auf Amoklauf. Auf ihren T-Shirts stehen alle Städte, in denen sie töten werden.
Die Todeskraft der neuen Texte ist so stark, dass sie keinen Strom mehr brauchen. Sie müssen nur daran denken, den einen oder anderen Song zu spielen, schon töten sie alles Leben im Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Gleichzeitig tauchen die ersten Dämonen auf der Erde auf, darunter auch Labrador, der sich „Frau Hölle“ als Rowdy anschließt. Gerade mal sechszehn Jahre, fühlt sich Lars am Ziel. Die Welt wurde Satan unterworfen.
„Frau Hölle“ werden zu DER BAND der kommenden Epoche. Kein Todesfall, bei dem sie nicht spielen. Satan höchstpersönlich ernennt sie zur „verfickt schlechtesten Band aller Zeiten“. Um auch den Rest des Universums zu unterwerfen, lässt Satan Raumschiffe für den nächsten Amoklauf von „Frau Hölle“ bauen. Alles läuft gut, bis die ersten Angriffswellen Gottes das Höllenreich erschüttern. Man setzt Engelschöre ein, später Schlager. Die himmlischen Scharen machen nächtlich Land gut. Gott werde sich die Erde zurückholen. Lars und seine Bandkollegen geben alles. Die noch existierenden Kirchen werden zu Trutzburgen des Widerstands. Satan weist die Priester darauf hin, wem sie ewige Gefolgschaft geschworen haben. Nicht Gott, sondern ihm. Der Vatikan bekennt sich, schon seit Jahrhunderten heimlich für Satan zu arbeiten.
Lars kümmer das wenig. Er ist siebzehn und krank. Blutkrebs, stellen ein paar lachende Dämonen fest.
„Was kann man da machen?“, fragt Lars.
Wieder lachen die Dämonen. Was man da machen kann? Machen kann? Sie feixen und verabschieden ihn. Das Böse kenne kein Mitleid.
Lars ist zum ersten Mal verzweifelt. Er, der sich ein Leben lang für die Sache des Bösen aufgeopfert hat, wird aufgegeben, liegengelassen, niemand will sich um ihn kümmern. Seine Bandkollegen tauschen ihn aus.
In seiner letzten Nacht erscheint Lars ein Engel, der verflucht nach dem Kerl in der Wohnsiedlung damals aussieht. Wie war sein Name? Waldemar?
„Ich bin der Engel Waldemar“, sagt die Gestalt. „Ich bin mächtig. Ich kann mich sogar selber ficken.“
Lars muss vor Lachen Blut erbrechen.
„Und kann du mich retten?“, fragt Lars.
„Ja“, sagt der Engel.
„Dann tu es“, herrscht Lars ihn an.
„Ja“, sagt der Engel Waldemar. „Hiermit …“ Waldemar bricht ab.
„Was ist los?“, fragt Lars.
„Ich muss weg“, sagt Waldemar. „Gott hat zum Essen gerufen. Und er wird saulieb, wenn man nicht auf ihn hört. Saulieb ist nicht schön, glaub mir.“
„Rette mich erst“, bettelt Lars.
„Nein, ich muss. Wenn dir langweilig ist, fick dich einfach selbst“, rät der sich entfernende, sich dabei selbst penetrierende Engel Waldemar.
Lars liegt da und stirbt. Er denkt an sein Leben zurück. Im Grunde hat er alles erreicht, was ein junger Mann erreichen kann. Er wird sicherlich einen guten Platz in der Hölle bekommen. Viel Feuer und Schmerz, besser wird man es nicht haben können. Schade nur, dass man ihm seinen Einsatz nicht mehr gedankt hat. Aber so ist das eben mit den heutigen Unternehmen. Kein Rückhalt für die Belegschaft. Lars schließt die Augen und schläft ein.
Als er aufwacht, ist es sieben Uhr am Morgen. Seine Eltern leben noch. Er ist gefesselt.
„Wo bin ich hier?“, fragt Lars.
Sein Vater beugt sich mit einem freundlichen Lächeln über ihn. „In der Hölle, mein Sohn!“
Aus dem Radio sickert leise ein Lied. „Ein bisschen Frieden“ von Nicole.
Sein Vater streichelt ihn.
„Hör auf damit!“, giftet Lars.
„Nein“, flüstert sein Vater.
Mehr und mehr gutaussehende Wesen drängen ins Zimmer und streicheln ihn. Sie sagen, Lars wäre ja ein so toller Junge. Soooooooo toll!
„Die Hölle“, sagt sein Vater leise. „Willkommen in der Hölle!“
Lars Antichrist beißt die Zähne zusammen. Diese eine kleine Ewigkeit, verfickt noch mal, die wird er auch durchstehen, und wenn die vorbei ist, dann gnade ihnen Gott. Dieses Mal wird er für die Sache des Guten kämpfen. Und das wird für niemand gut ausgehen. Mit diesem Gedanken lässt Lars es geschehen. Alles, auch das sie ihn gerade loben.
„Mein kleiner Liebling!“
Lars schreit innerlich auf!
8. April 2014
Ich habe die ganze Nacht an einer Kurzgeschichte gearbeitet, deren Sinn sich mir nicht recht erschließen will. Was will ich damit sagen? Wütend stampfte ich auf, bis meine Kinder weinend erwachten. „Das ist doch nur Papa“, erklärte meine Frau ihnen. „Er arbeitet an einer Kurzgeschichte.“ Das beruhigte die Kinder. „Ach so“, seufzten sie erleichtert auf. Jetzt liege ich müde und erschöpft auf dem Hund vor dem Kamin. Neben mir die Geschichte, die keinen Sinn ergibt. „Lies!“, hatte ich den Hund angebettelt. „Lies!“ Aber auch er verweigerte sich. Ich bin so unglücklich. Oh weh! Würde ich meine eigene Geschichte nur verstehen, ich wäre ein glücklicher Mensch, der bereit wäre, sich an den Frühstückstisch zu setzen. So aber schlafe ich aus Trotz auf dem Hund, bis alle aus dem Haus sind.
9. April 2014
Es ist traurig. Der Hund ist tot. Als ich mich gestern Abend erhob, um mich bei ihm zu bedanken, dass er so geduldig als mein Lager gedient hatte, rührte er sich nicht mehr. Alle Versuche, ihn wiederzubeleben, scheiterten. Ich zerrte ihn über seine Lieblingsstrecke durchs Viertel. Aber nichts. Nicht einmal ein kurzer Atemzug. „Oh!“, klagte ich. „Der Hund ist von uns gegangen.“ Die Kinder waren minutenlang untröstlich. Wir bestatteten das arme Tier später im Garten einer uns unbekannten Familie. „Wir werden einen neuen kaufen“, versprach ich den Kindern. „Aber, Papa“, sagten sie, „wir wollen Herr Rodenbach.“ – „Gut, gut“, sagte ich. „Wir werden ihn finden. Seelen wandern. Nun müssen wir uns auf die Suche nach dem Hundekörper machen, in den Herr Rodenbach nach seinem Ableben eingefahren ist.“- „Juchhu!“ Die Freude der Kinder war unbeschreiblich, selbst dann noch, als ich ihnen erklärte, dass Herr Rodenbach vermutlich Besitz vom dicken Leib unseres Nachbarn genommen habe. Ein Spaß. Haha! Nun soll ich ihn entführen. „Nein, nein, nur ein Spaß, wirklich.“ Die Kinder sind von der Idee, unseren Nachbarn Gassi zu führen, besessen. Ich hätte das nicht sagen sollen. Kinder sind einfach zu gutgläubig.
Ich habe eine Mail unflätigen Inhalts erhalten. Man lehnte eine meiner Geschichten, die ich selbst nicht verstehe, ab. „Sieh mal!“, rief ich meiner Frau zu, die gerade Gulasch kochte. – „Was?“ – „Sie haben meine Geschichte, die ich selbst nicht verstehe, abgelehnt.“ Erzürnt bis über beide Ohren stürmte meine Frau heran. „Dieses Miststück!“, schimpfte meine Frau über die Absenderin der Mail. – „Zähme dich nicht!“ – „Unkrautjätendes Ungetüm!“ – „Ja, ja!“, feuerte ich sie an. „Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen.“ – „Niemals!“ – „Lass uns unzüchtig Liebe machen, direkt hier im Angesicht ihrer Mail.“ Und so geschah es. Wir liebten uns umständlich auf der rechten Stuhllehne. „Sieh hin, Bitch“, forderte meine Frau die Mail auf. „Sieh und lerne!“ Wollüstig glitt der Nachmittag in den Abend.
Da saß ich. Das Gesicht versteinert. „Drei Jahre und sechs Monate“, sagte der Richter. Ich schrie auf. Endlich noch einmal Kind sein. Drei Jahre. Ich hätte mein ganzes Leben noch vor mir. Sie führten mich zur Zeitkapsel. „Lebt wohl, ihr Idioten!“, rief ich noch. Dann wurde es schwarz um mich herum.
„Ost doch scheiße“, sagt T.
„Ist“, verbessert ihn sein Trainer.
Immer muss mich der Trainer verbessern, denkt T und nippt an seinem Kaffee, den ihm seine Mutter vor der Abreise vorbereitet hat. Sie hat ihn in einen Becher gefüllt und ihn darauf hingewiesen, dass er blasen muss, um sich nicht die Zunge zu verbrennen. Mit dem Becher in der Hand ist er zum Bahnhof, er und sein Trainer, der sein Gepäck getragen hat. T konnte ja nicht, des Bechers wegen. Mit dem Becher ist er zum Bahnsteig gehetzt, weil sie viel zu spät dran waren. Dann rein ins Abteil und schon schoss der Zug mit 380 Sachen aus dem Bahnhof. Und nun sind sie unterwegs zur Behandlung nach Deutschland.
„Ich dachte, wir wohnen in Deutschland“, sagt T zu seinem Trainer.
„Zerbrech dir mal nicht den Kopf und trink deinen Kaffee, T!“
T bläst und nippt. Er hätte, so denkt er, niemals Spitzersportler werden dürfen. Das hat er jetzt davon, die Hände sind kaputt vom vielen Spitzen.
„Müsstest du nicht den Becher halten?“, fällt T ein. „Meine Hände sind ja ganz kaputt vom vielen Spitzen.“
Der Trainer, der aus der Russland stammt, tut so, als würde er kein Wort verstehen.
T stellt den Becher, der zur Hälfte geleert ist, ab und steht auf, um sich die Füße zu vertreten.
„Mach mal einen kleinen Spaziergang“, sagt T.
Draußen vor dem Abteil ist eine Menge los. Markttag. Frauen verkaufen ihr Gemüse und ihr Schlachtfleisch. T muss sich dünn machen, um sich seinen Weg zu bahnen, bis ihn etwas an seinem Ärmel zupft.
„Bist du nicht T?“, fragt ihn ein kleiner Junge.
T lächelt verstimmt. „Willst wohl ein Autogramm, was?“
„Lieber nicht“, sagt der Junge. „Aber meine Mama hat gesagt, du könntest mein Vater sein.“
„Na, jetzt aber mal nicht unverschämt“, sagt T, „sonst bekommst du eins hinter die Löffel.“
„Was ist mit deinen Händen? Warum sind die Finger so verbogen?“
„Übertrainiert“, stöhnt T.
Bilder aus dem Trainingslager tauchen auf. T sieht sich beim Spitzen unzähliger Bleistifte. Neben ihm ein Heer aus angespitzten Bleistiften. „Du musst noch viel schneller spitzen!“, feuert ihn sein Trainer an.
Und jetzt?
Jetzt muss ich zur Behandlung nach Deutschland, denkt T. Das habe ich von meiner Sucht, ein Spitzersportler zu sein.
T packt dem Jungen ins Gesicht und drängt ihn zur Seite.
„Wo bin ich überhaupt?“
Erschrocken muss er feststellen, dass er sich vollkommen verlaufen hat.
Warum nicht, denkt T und steigt am nächsten Bahnhof aus, um in einer badischen Stadt ein neues Leben zu beginnen.
Ich habe den ganzen Morgen geschrieben, als ob mein Leben davon abhängen würde, unter anderem zahllose Gedichte, die im Davos spielen und Anspielungen auf den „Zauberberg“ beinhalten. Außerdem gab ich mich einer Kurzgeschichte mit dem Titel, den ich jetzt nicht verrate, hin. Wort für Wort sauberste Weltliteratur, da blüht das Dichterherz auf. Meine Frau war derweil einkaufen. Sie hat nichts unversucht gelassen, uns den bevorstehenden Schneesturm überleben zu lassen. Sie erwarb drei Schneehundewelpen, einen Schlitten, Pizza aus der Tiefkühltheke, ein Gewehr. Das Gewehr wollen wir zur Bärenjagd einsetzen. Bären sind gerade hier in Fulda und Umgebung keine Seltenheit.
Ich werde mich duschen, auch wenn ich das nie so bezeichne, sondern vom Abbrausen rede, wenn ich mich unter das „Nass von oben“ verdrücke.
Wir lesen uns, Süchtige meines Tagebuchs.
„Es mag gut sein, Macht zu besitzen, die auf Gewehren ruht, besser aber und beglückender ist es, das Herz eines Volkes zu gewinnen und es auch zu behalten.“ Joseph Goebbels
Ich denke nicht, dass Eva etwas vermisst.
Sie besitzt Bücher, verschiedene Romane, die auf ihren Covern Abenteurer feilbieten, gewandet in Schweiß und Muskeln, die von einer sich in Not befindlichen Lady X angehimmelt werden, die gewiss im Laufe der Handlung ihre Unschuld wie ihre Kleidung verlieren wird. Nie scheint sich der fatalistische Verlauf dieser Geschichten solchen Gegebenheiten wie Hausarbeit oder Einkäufen beugen zu müssen, alles steuert auf das Ziel eines Sturms zu, der, bereits in der ersten Zeile angelegt, am Ende des schmalen Romans über die Helden stürzt, nicht aber um zu vertilgen, sondern einzig um zu vermählen, was sich Seite für Seite bereits mit einem lüsternen Augenzwinkern neckte.
(Ach, schöne Welt der Kunst.)
Die Welt – wie ich sie kenne – ist nicht so wie in diesen Büchern, es sei denn, man versteht sich auf die Inszenierung seiner Alltagsbühne. Man muss schlicht, auch wenn es unmöglich scheint, seinen eigenen Roman in die Betonwände des Kellers kratzen. Erst dann wird man erfahren, dass wahres Glück erzwingbar ist.
Eva kann ein Lied davon singen, auch wenn sie kaum noch Fingernägel hat, mit denen man sich im Mörtel verewigen könnte.
Eva
(meine kleine wunderbare Eva)
besitzt mancherlei, von dem andere Frauen in weitentfernten Ländern nur träumen können.
Etwa eine Puppe, die sie ihre Tochter heißt, zumindest tat sie das früher, aber leider schweigt sich Eva in den letzten Monaten genüsslich aus und vernachlässigt die Obhut des armen verkümmerten Wesens, das in einer Ecke ihres Zimmers abgelegt, nun ein karges Dasein fristen muss.
Böse Eva!
Ich sehe dies nicht gerne, beobachte es voller Ungeduld, denn auch wenn ich nicht viel verlange, eine gesunde Portion mütterlicher Gefühle sollte ich im Namen der Puppe sowie aller Mütter dieser Welt einfordern dürfen.
Das ist eine Sache des Anstands!
Weiterhin findet man in ihrer Schatztruhe – einer gelben, die ich in einem Möbelhaus erwarb, eine, die man für die Kinderzimmer erwirbt und die dafür gedacht ist, große Mengen Spielzeug in wenig Zeit aus beladenen Armen zu empfangen – eine Bürste, die sie nicht benutzt. Das ist schade, denn so muss ich mich ihrer annehmen, Evas Haar rupfend, das strähnig wie Wasser von ihrem Kopf fällt.
(Manchmal stehe ich da und sehe sie an und dann ist es wie Urlaub für mich. Ich knipse Bilder, die ich nicht zeigen kann. Erinnerungsfotos von meinen Reisen in das Herzinnere des Hauses.)
Sie hat es – da verstehe einer die Frauen – nicht gerne, wenn ich sie hübsch machen will.
Eva vernachlässigt sich.
Das kann nicht so bleiben (darf nicht so bleiben!), denn eine Frau, ich weise sie auf die Cover der Herzschmerzromane hin, die etwas auf sich hält, pflegt sich, will sie dem Mann ihrer Träume und Sehnsüchte doch nicht mit einem Gesicht – darauf Schmutz und Tränen sich ein Stelldichein geben – entgegentreten.
Nein! Nein!
Pfui! Pfui!
Was müsste man denn von einer Frau halten, die solches wollte? Nicht viel!, lehrte mich bereits meine Mutter, die mich in allem unterrichtete, was für das künftige Leben unentbehrlich ist.
„Sag stets Bitte und Danke!“
„Steh auf, wenn eine Frau das Zimmer betritt.“
„Trag einer Dame stets die Einkäufe.“
„Trau den Frauen nicht, trau nur der Mama!“
Ja, so kommt man durchs Leben.
Auch einen Atlas besitzt Eva, ein zerfleddertes Ungetüm, dessen Seiten, öffnet man den Deckel, in den Raum segeln wie ungeduldige Möwen, die zu lange schon über einem (viel zu kleinen) künstlichen Meer jagen mussten.
Eva liebt diesen Atlas, ich kann es ihren zittrigen Fingern ansehen, die unbeholfen über Flüsse und Berge fahren, als wäre das nichts, als wären sie nur Striche in einem Buch, die man gedankenlos überfliegen darf.
So könne man nicht reisen, klärte ich sie auf, lachend, nicht ohne sie mit Hoffnung zu füllen, die ihr suggerierte, dass wir beide dereinst eine Weltumseglung machen würden, die „uns sicherlich zu all den Ländern führen wird“, deren Namen sie zum Teil nicht einmal richtig aussprechen kann, geschweige denn buchstabieren.
Kleine dumme Eva. Ich nahm sie mir zu früh und lehrte sie zu wenig.
Es gibt Zeiten, da mache ich mir starke Vorwürfe.
Aber man soll leben, da helfen Selbstbezichtigungen nicht weiter.
Ich kann sie sehen, spähe ich doch durch das Guckloch in der Tür.
Dort sitzt sie, auf ihrem Bett. Wieder reist sie mit dem Finger, wohin auch immer.
Mir sind solche Pläne nicht einerlei. Ich will wissen, was sie vorhat, und will sie es mir nicht verraten, dann muss mein Gürtel ihrem Mund auf die Sprünge helfen dürfen.
Nein, Sie irren, ich bin kein gewalttätiger Mann. Ich möchte ihr nicht weh tun, denn ich liebe sie.
Wir sind ein Liebespaar, nicht irgendeins, sondern ein besonderes und dies seit nun beinahe zehn Jahren. Ein langer Zeitraum, der aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau werden ließ, die ich achtsam und bedächtig auf ihre kommenden Pflichten vorbereitete.
Manchmal, nicht oft – denn meine Beziehung zu Eva verlangt eine gewisse Umsicht -, sitze ich bei ihr auf dem Bett und erzähle ihr von meiner Arbeit, die mir Kopfschmerzen und Verdruss, auch manch hellwach verlebte Nacht bereitet. Die Sorgen zerrütten, zwicken wie Flöhe, die sich in meinem Nervenkostüm eingenistet haben. Ungebetene Gäste, die schwer zu verjagen sind.
Traurig, weil sie mich verstehen kann, weil sie mein Leid und meine Nöte teilt, sitzt sie mit gesenktem Kopf da, lauschend, konzentriert, weil sie sich bewusst ist, dass Worte ein seltenes Gut sind. Buchstabe für Buchstabe fängt sie auf, einzelne Wassertropfen, die in einer Höhle von der Decke zu Boden geworfen werfen.
(Blitzkrieg der Worte!)
Sie ist mir eine gute Frau, ist mir ein gutes Auffangbecken für Worte und anderes.
Sie ist meine Frau, die mich mit ihrem Körper so vieles vergessen lässt.
Vor allem mich.
Wenn sie schreit, dann brülle ich mit ihr. Gemeinsam kotzen wir unseren Schmerz in die Welt hinaus.
Es gibt nur mich und dich, die wir in den Nächten zu einem Wesen werden.
Und nun?
Unser Jubiläum steht vor der Tür, pochend und ungeduldig. (Sehen Sie mich nicht so an!) Nur noch zwei Tage, dann sind Eva und ich seit zehn Jahren (eine Zahl, die ich mir auf der Zunge zergehen lasse wie ein Stück Schokolade, das süß und zugleich bitter schmeckt) ein Paar.
Natürlich, es gab Höhen und Tiefen, das ist nicht ungewöhnlich, ich habe mich beraten lassen, nicht von dubiosen Psychologen, die einem nur das Geld aus der Tasche rauben wollen, sondern von Serien im Fernsehen, die mir täglich von den Sorgen ihrer Protagonisten berichten, die sich nicht nur in dauernden Erbstreitigkeiten befinden, weit gefehlt, sondern auch Wege und Mittel finden müssen, die zahlreichen Beziehungen mit Intrigen und Tricks dauerhaft am Leben zu erhalten. (Energie, es geht um Energie!)
Alles an diesen Soaps ist seifig und duftet scheinbar nach zu teuren Parfüms, die ich aber – verfüge ich erst über genügend finanzielle Mittel – zu kaufen gedenke, denn es ist mein Bestreben, dieses
(mein)
Leben zu einer Vorabendserie umzugestalten, die mir und Eva zur glückseligen Dauerunterhaltung geraten soll.
Das ist der Trick: Man muss etwas aus seinem Leben zu machen wissen.
Mein Alltag, will ich doch nicht in der Nachbarschaft (oder sonst wo) übermäßig auffallen, ist, Sie werden es ahnen, von einer gewissen alltäglichen Routine geprägt, die in Bahnen verläuft, die ich nur selten bis nie verlasse. Ich bin ein Planet, der um seine Sonne Eva kreist.
Komme ich von der Arbeit nach Hause, dann ist es, als würde ich eine Schwelle überschreiten, die mich von der Realität trennt. Ich betrete mein geliebtes Schloss, meine Zufluchtsstätte.
(Dornröschen wartet!)
Ruhig (und doch in gespannter Erwartung) verstaue ich zunächst die Einkäufe, die ich auf dem Weg von der U-Bahn bis hierher in einem kleinen Laden, der beständig zäh um sein Überleben kämpfen muss, erwarb, nicht ohne der Kassiererin ein Lächeln geschenkt zu haben, ein verschämtes zwar, aber doch immerhin eine Regung, die zu geben, ich mich vor Jahren noch nicht in der Lage gesehen habe.
Ich wachse allmählich über mich hinaus. Das verdanke ich Eva.
Nur ihr!
Die Lebensmittel wollen verteilt werden; manche kommen in den Kühlschrank, andere in den Keller, die Hefte aber verschwinden unter meinem Kopfkissen, denn von denen muss niemand etwas wissen, auch Eva nicht, und deshalb spreche ich auch nie darüber, denn der Eindruck, den sie sich im Laufe der Jahre von mir bilden durfte, könnte leiden.
Dies gilt es zu vermeiden.
Die Hefte, um es klar und deutlich auszudrücken, sind tabu, nie sind sie ein Thema, nirgendwo und zu keiner Zeit, und dies, obwohl ich sonst keine Geheimnisse vor Eva habe.
Eine große Liebe verträgt keine Geheimnisse.
Überhaupt, ich bin ein sehr geheimnisloser Mensch, einer, von dem alle denken, sie würden ihn in- und auswendig kennen, zumal, so kann ich sie flüstern hören, eh nicht viel zu entdecken sei.
(Die werden sich dereinst, so denke ich in manch einsamer Minute, noch wundern. Fraglich ist nur, ob ich dann noch am Leben sein werde, denn sollten sie mir und Eva auf die Spur kommen und uns trennen wollen, kann eine solche Entdeckung nur mit meinem und Evas Tod enden. Anders kann ich mir das Ende unseres großen Liebesromans nicht vorstellen. – Sie, werte Leserinnen und Leser, sicherlich auch nicht!)
Eigentlich habe ich nur ein Geheimnis, und das heißt Eva. Sie ist mein einziges, mein wahres und größtes Geheimnis. Und das weiß sie und genießt ihre Einzigartigkeit.
Eitelkeit ist des Weibes Untergang.
Ich muss vorsichtig sein, muss auf Eva achten, denn Hochmut kommt bekanntlich (und so wurde mir von meiner Mutter mit strenger Stimme gelehrt) vor dem Fall.
Ich lernte Eva nicht einfach so kennen, ach, weit gefehlt! (wie kommen Sie denn nur auf einen solchen Unsinn?), denn eine Frau wie Eva will erobert werden, ganz so wie es einen die Heftromane lehren, die Woche für Woche in die Bahnhofsbuchhandlungen gespült werden.
Eine solche Prinzessin will in Watte und Mullbinden gepackt werden, will gefesselt und justiert werden, will sich ganz und gar ihrem Dornröschenschlaf hingeben können.
Ja, Sie haben recht, wenn Sie einwenden – ich kann ihre feste und harte Stimme, die zu rasch vorverurteilt, in meinen Ohren bereits wie knallende Soldatenstiefel hören -, dass Eva doch damals noch gar keine Frau war.
Dem kann ich nicht widersprechen, nicht gänzlich, denn dann würde ich die Tatsachen Lügen strafen.
Wenn Sie sich aber in der Lage sehen, nur ein wenig, sich in mein Wesen und Denken – ich bitte Sie tunlichst darum – einzufühlen, dann werden Sie meiner Sicht der Dinge folgen können, die in dem kleinen Mädchen bereits die reife wunderschöne Frau sah, zu der Eva nun herangewachsen ist.
Eine Prinzessin eben, die meine Königin wurde!
Wie ich sie fand?
So dürfen Sie nicht fragen, denn Eva war es, die mich fand, sie war es, die tagtäglich an einer einsam gelegenen Bushaltestelle darauf lauerte und darum betete, aus ihrem trüben Leben entführt zu werden.
Ich – glauben Sie mir! – tat ihr nur den Gefallen, den sie auffordernd in die Kühle des Morgens blies, dieser Atem, der mir Anklage und Ruf zugleich war.
So fuhr ich an einem der zahlreichen nebelverhangenen Morgen am Hafen entlang, der von Schiffswracks unterschiedlichster Herkunft gesäumt war; dann aus der Stadt raus, die sich in meinem Rücken merkwürdig – ich konnte es im Rückspiegel deutlich erkennen – beugte, als wolle sie nichts mit dem, was geschehen würde, zu tun haben.
Die Stadt, an deren Rand ich seit meiner Kindheit wohne, scheint mir ihren so ganz eigenen Willen zu haben, der sich mir selten offenbart, wohl weil ich sie meide und erst gar nichts mit ihr zu schaffen haben möchte.
O Große Hure Babylon.
Verliebte Frauen, die man bewusst übersieht, können zu schrecklichen Furien werden.
Sie stand dort, wo ich sie schon oft gesehen hatte. Verloren wie ein zu pflückendes Blümlein, die Hände in den Taschen, als wolle sie etwas verbergen, das Gesicht den traurigen Bäumen gegenüber zugewandt, die nicht sprachen und die ich ihrer Verschwiegenheit wegen zu schätzen wusste.
(Die Natur ist stumm, meist zumindest, und wenn sie einmal ins Sprechen gerät, dann verstehen wir sie nicht, weil wir eine andere, eine böse Sprache sprechen.)
Eva verstand mich und ich verstand sie, und dies ohne Umschweife und auf Anhieb.
Sie wartete auf den Bus, der an diesem Morgen ohne sie fahren würde.
So wurden wir zu dem Paar, das wir nun schon so lange Zeit sind.
Jetzt ist sie bei mir, und sie wird bleiben, weil sie auch gar nicht wüsste, wohin sie gehen sollte, selbst wenn sie es noch könnte.
(Sie ist längst vergessen, das habe ich ihr wieder und wieder erklärt, nun glaubt sie es mir.)
Niemand ist dort draußen, der auf sie wartet.
„Ich, Eva, ich bin da …“
Wenn ich mich in den Nächten über sie beuge, dann bin ich die Dunkelheit, die sie so dringend sucht, denn das Vergessen ist ihr Heil, will sie überleben.
Mit zittrigen (klebrigen) Händen, die sich, bevor sie in den Keller stiegen, Ruhe in meinen Körper pumpten – will ich doch als ausdauernder Liebhaber in ihrem Gedächtnis verankert bleiben -, liebkose ich ihren Busen, der unter meinen Händen wie Schnee zu schmelzen scheint. Ihr ganzer Körper treibt es an den Rand der Klippen, hin zur Auflösung, Auslöschung.
Wasser rinnt aus ihren Achseln, als würde sich in ihrem Leib ein Swimming-Pool befinden, der entleert werden möchte.
Ich kann sie und ich kann es verstehen, dieses Tropfen und Laufen.
Nein, ich mache ihr keine Vorwürfe, nichts läge mir ferner, der ich so liebe.
Körner, denn auch ihm muss ich einige wenige Worte zugestehen und zueignen, auch wenn er und sein Charakter, der mir eher zu fehlen denn vorhanden scheint, dies nicht verdienen.
Körner, Heinrich mit Vorname, ist mein Arbeitskollege, einer, den man nicht als Freund, noch weniger aber zum Feind haben möchte.
Dauernd, als würde ihn eine besondere Form der Hellsicht umtreiben, spricht er mich an, klagend und lamentierend, mich belauernd als sei ich ein wildes Tier, das man nicht aus den Augen lassen dürfe.
Er hängt mir an den Fersen, unterlässt keine zweideutige Bemerkung, sei sie noch so unangebracht und abgeschmackt. Körner ist widerlich; ein Fall für die Todesstrafe, die in unserem so feinen Land leider seit vielen Jahren nicht mehr praktiziert wird, würde sie doch der Kollegenschaft viel Leid und Pein ersparen, wären solche Kerle wie Körner nur zur rechten Zeit um die Ecke gebracht.
Ich möchte mit diesem Menschen, der mir weniger ein Mensch als ein Tier ist, nichts zu tun haben, weil er meinen Frieden stört, den inneren wie den äußeren.
Ja, ich würde geradezu behaupten: Körner ist eine Gefahr für das Gleichgewicht meiner ansonsten so ausgewogenen Seele.
(Vielleicht trägt er die Schuld, an all den Dingen, die geschahen und noch geschehen werden.)
„Was machst du denn so am Wochenende?“, fragt Körner gerne und blickt zu den Kollegen hin, die ihn unverschämt angrinsen und bedeutungsschwanger blinzeln, ganz so, als wüssten sie etwas, was niemand (außer mir und Eva) wissen kann.
Nie antworte ich ihm auf seine Unverschämtheiten, denn er ist es nicht wert. Es würde mich nicht sonderlich wundern, wenn man Körner dereinst zerschmettert am Grund einer Schlucht finden würde.
Solche Menschen haben viele Feinde, die sich nicht eben immer lumpen lassen.
Nur mein Zuhause verspricht mir Glück, denn bin ich erst in meinen eigenen vier Wänden, meiner Burg, meinem Schloss, dann bin ich in Sicherheit.
Ich kann es spüren. (Es pocht!)
Eva und ich haben uns ein Paradies erschaffen, ein Eiland ungetrübter Freuden und sexueller Freizügigkeiten, wie sie sich nur wahrhaft Liebende gestatten können, ohne auf Dauer der Sünde zu verfallen, die sich, achtet man ihrer nicht, bereits allerorten eingeschlichen hat.
(Die Natur will gebändigt werden, sie braucht ihre Riten. Kultivierung von Natur ist wichtig, will man sich nicht im Gestrüpp selbiger zu Tode bringen.)
Darum fessele ich, was entfesselt, mich nur verschlingen würde.
Ich bin ein ordentlicher Mensch, auch wenn ich früher nicht viel im Haushalt tun musste, weil Mutter alles erledigte, die ich, kam ich abgehetzt von der Schule nach Hause, auf ihren Knien fand, entweder betend oder aber den Boden mit einer Zahnbürste reinigend.
„Du bist ein guter Junge“, sagte sie oft, und ich nickte, während sie mir den Rücken schrubbte, der sich unter ihrer Scheuerwut rot einfärbte.
Mutter war eine reinliche Person, die darauf Wert legte, dass ich mich täglich badete, stets war sie dabei, kümmerte sich fürsorglich um alles, auch um die Belange, die nun rein Eva vorbehalten sind
und bleiben sollen.
Ich denke darüber nach, zumal es nur noch einen Tag bis zu unserem großen Fest ist, Körner aus dem Weg zu räumen, der sich heute tatsächlich als Begleiter für meinen Heimweg anbot. Er müsse in der Gegend etwas erledigen, sagte er und lachte hell auf, wieder und wieder, ich konnte es noch hören, da war ich schon lange aus dem Gebäude und auf der Straße.
Das Amt macht mir Angst. Körner macht mir Angst.
Ich könnte kündigen, aber dann wüsste ich nicht, wovon ich unseren Lebensunterhalt bestreiten sollte.
Alle Gedanken an Körner müssen hintan gestellt werden. Alles, was zählt, ist Eva, deren Bild in mir züngelt wie eine Schlange, die sich nicht mehr lösen lässt, die mich mit ihrem Gift dem Untergang zutreibt.
Heute ist der Tag, der große Feiertag, auf den ich so lange gewartet habe.
Ich habe ein Kleid (ein rotes mit viel Rüschen und anderem Drumherum) für Eva gekauft, soll sie doch hübsch sein, wenn wir unseren Ehrentag begehen.
Am Morgen erreichte mich ein Anruf aus dem Amt, man bräuchte mich, da Körner unentschuldigt fehle. Es gäbe Briefe, einige hundert, die müssten noch an diesem Tag einkuvertiert und verschickt werden.
Ich hustete, berief mich auf meine Krankheit, die mich ans Bett fessele, ob ich wolle oder nicht, ich müsse für mich bleiben, denn die Ansteckungsgefahr sei nicht unerheblich.
(Man müsse hier an Volk und Vaterland denken.)
Später sann ich darüber nach.
Es könnte sich um einen Trick gehandelt haben, einen üblen Scherz, als dessen Verursacher ich einzig Körner sah, der bestimmt auf meinem Platz im Amt saß, das Gesicht von einem breiten bösartigen Grinsen entstellt.
(Ämter können ihre Mitarbeiter entbehren, deshalb hat man ja dereinst bei einem solchen Staatsunternehmen unterschrieben. Um nicht gekündigt zu werden, und um seine Ruhe zu haben.)
Die dort, dachte ich, werden mir, auch Eva, keine Ruhe geben, wenn ich nicht
endgültig
für Ruhe sorge.
(Ich trage mich mit Plänen, die noch unausgereift in meinem Kopf schlummern. Lassen wir sie vorerst schlafen.)
Mit einem kleinen Schokokuchen, obenauf eine brennende Kerze, steige ich die engen Stufen in den Keller hinab, über dem Arm das Kleid.
Meine Schritte hallen unheimlich von den Wänden wider, dröhnen in meinen Ohren, die hochrot sein müssen, ich kann es spüren. Alles an mir ist stark durchblutet.
ALLES AN MIR IST STARK DURCHBLUTET!
Aufgeregt schiebe ich den Schrank zur Seite, entferne ich die Holzplatte, dahinter sich die Tür zum Glück, zu meinem Schatz verbirgt.
Dornröschen.
Und noch während ich den Schlüssel im Schloss drehe, kann ich es nicht unterlassen, nach ihr zu rufen.
„Eva!“
Licht fällt ins Dunkel, ich vermeine ihr Keuchen zu hören.
„Zehn Jahre“, sage ich und betrete die Dunkelheit.
Sie wartet auf mich, meinen Körper, der ihren Namen in jeder Pore trägt.
„Eva“, flüstere ich und betrete unsere Welt, die keinen Schmerz und keine Einsamkeit, keine Häme und keine boshaften Kollegen kennt, die einzig geschaffen wurde für mich und für Eva.
„Eva“, flüstere ich und schließe die Tür hinter mir.
Alles an mir ist stark.
Ich werde sie verschlingen, damit ihr größter Wunsch endlich in Erfüllung gehen kann.
Zehn Jahre.
Was für eine große Liebe!
Für Roy Bean
„Wir machen dich glögglich.“ Aus einer Ikea-Werbung
Die Nacht ist nicht nur zum Schlafen da. Auch zum Ficken. Zum Löcher ins Dunkel starren. Zum Wälzen.
Die Nacht ist zum Üben da. Zum Toter Mann üben.
Man muss es doch mal wissen. Irgendwann. Wie wird das sein, wenn man in seinem Sarg liegt und ins Innere des Nichts starrt? Tief rein ins Nirgendwo. In die Nichtexistenz. In die Abwesenheit.
Conny weiß das. Und darum übt er fleißig.
Früh übt sich, wer später eine gute Leiche werden will. Conny will die Nummer Eins unter den Leichen werden. Der King des Monats. Des Jahrhunderts. Der Ewigkeit.
Conny versucht es manchmal. Was? Sich die Ewigkeit vorstellen. Geht nicht. Es ist zum Verzweifeln. Ganz verrückt könnte er werden vom lauter Ewigkeitsbedenken. Also lässt er es und sieht sich lieber eine Folge Star Treck rein. Rein in den erprobten Totenkopf. Rein in den Totenschädel. Sein Kopf ist eine gehisste Flagge. Sein Körper ein Piratenschiff. Er ist auf Beutefahrt. Seine Augen kapern jedes Fernsehbild, das ihm in die Quere kommt. Schon stürmen die Connyaugen an Bord und metzeln allen Sinn nieder, der sich vielleicht noch finden würde.
Und wenn es dann Abend wird und Conny vom Pirat sein genug hat, dann schließt er seine Äuglein. Ruhe brauchen sie, die kleinen Dinger. Er zieht sie in seinen Kopf rein. Stopft sie in seine Gedanken und sieht sich dort um. Bis er müde wird.
Jetzt ist es Zeit für das Nichts.
Conny spürt es kommen. Das absolute, alles verschlingende Nichts. In großen Schritten läuft es auf ihn zu. Verpasst ihm einen Kinnhaken. Ganz schwach wird er. Spürt, wie das Nichts sich über seinen Körper legt.
„Vergewaltigung! Hilfe!“ (O-Ton Conny)
Und weil Conny die Zeit, die er verbraucht, nicht ungenutzt verstreichen lassen möchte, nutzt er auch die Nichtzeit und stellt sich vor, wie sich wohl eine Leiche fühlt.
Conny weiß, dass er sterblich ist. Dass er dereinst den Weg aller gehen wird. Und daher übt er sein Totsein bereits. Meister fallen nicht vom Himmel. Sie kommen in ihn, wenn sie nur tüchtig genug geübt haben. So sieht die Sache aus. So und nicht anders.
Der Regen fällt. Keine Urteile. Das macht das Fernsehen. Steht in Connys Zimmer und röhrt, weil er alt und noch nicht flach ist. Das Programm schon. Strahlt in Connys Zimmer, der als Zeuge vor ihm sitzt. Der große Richter. Spricht über die ganze Welt. Presst sie in seinen Bauch, der von Tag zu Tag dicker wird. Runder. Bald wird der Fernseher explodieren. Conny sitzt und schmatzt und schaut. Beide überfressen sich an Bildern. Conny zusätzlich an Chips. Er füttert sich damit. Tag für Tag, bis sie ihm irgendwann aus den Ohren kommen werden. (Brösel, brösel, brösel.) Die Brösel werden ins Connyzimmer bröseln, bis seine kleine Connywelt unter Chips begraben sein wird. Dann schlägt Connys große Stunde. Er wird sich in die Freiheit fressen. Wie der Graf von Monte Christo. Wie ein Maulwurf wird er sich Gänge durch die Chips graben. Ein Labyrinth, in dem er sich verläuft. Am Ende findet Conny nicht raus.
„Wäre nicht weiter schlimm.“ (O-Ton Conny)
Hauptsache, er findet seinen Fernseher. Sein Bett.
Conny ist ein Liegengebliebener. Ein Aushalter. Ein Dreinschauer.
Liegt seit Jahren in seinem Bett und wartet auf die Prinzessin, die ihn aus seinem Dornröschenschlaf küsst. Viel können muss sie aber auch. Vor allem putzen, einkaufen, arbeiten, ficken, blasen, und dann wieder einkaufen, putzen, kochen, kochen, kochen.
Conny ist ein Gefangener. Kann für nichts irgendwas. Wurde verflucht. Er kann es spüren. Die Faulfäulnis lähmt ihn, richtet ihn zu Grunde. Er ist ein Opfer. Muss nun in seinem Bett liegen. Dauernd schlafen. Löcher in den Fernseher starren. In die Decke. In seine Gedanken. Träume. Ohne ihn ist die Welt besser dran. Denkt Conny. Sagt ihm seine Mutter. Die lebt mit ihm in seiner Märchenwelt. Räumt und rumpelt und stöhnt und kocht (manchmal) und gibt ihren Körper her, damit der Körper etwas erwirtschaftet.
„Dafür sind sie doch da. Die Frauenkörper.“ (O-Ton Conny)
Conny und die Connymutter müssen ja von etwas leben, auch wenn manche das kein Leben nennen, was die beiden da führen. Conny und seine Mutter haben ein ganz besonderes Verhältnis. Alle paar Wochen auch ein intimes ganz besonderes Verhältnis. Das kam irgendwann, geschah einfach so. Es gibt Dinge, die fallen vom Himmel. Die Liebe und Kometen. Beide erschlagen dich, ohne weiter darüber nachzudenken. Es liegt nicht in der Natur von Kometen und Liebe über sich nachzudenken. Es liegt in ihrer Natur zu fallen. Auf Köpfe, damit vom Denken des Getroffenen auch nichts übrig bleibt. So kommen zwei Hirnlose zusammen. So ist das Leben.
Conny und seine Mutter können sich nicht mehr erinnern. Sind irgendwann in Sohnes Bett gelandet. Zwei Flugzeuge, die genug vom Traumhimmel hatten und sich erden mussten. Sie waren nicht betrunken. Weit gefehlt. Stocknüchtern waren sie. Trieben es auf eine sehr mechanische Weise. Das war kein Sex. Das war ein industrieller Beischlafvorgang. Alles lief wie geschmiert.
Conny kroch mit seinem Schwanz in den Schoß, der ihn einst ins Leben gedrückt hatte.
Nachdem Conny abgespritzt hatte, zog er sein Ding raus. Sein Schwanz war wie ein Stecker für ihn. Wenn man sich unter Strom setzen wollte, dann musste man ihn reinstecken. Egal in welches Loch. Zur Not auch in das der Mutter. Die nahm es gelangweilt hin. Allemal besser als die Typen, die es ihr nur gegen Bargeld besorgten. Einmal konnte sie etwas Selbstloses tun. Mensch und Mutter und Geliebte zugleich sein. Den Jungen beruhigte es. Sie auch. Die Nervenbahnen schwollen ab. Bei beiden. Ein Familienfest.
Jetzt ist Conny erwacht. Er ist aus dem Schlaf wie aus einem Tank aufgetaucht. Luft schnappen, auch wenn sich in seinem Zimmer keine Luft befindet, dafür aber Unmengen an Gestank. Wäre sein Gestank wertvoll, hätte ihn die USA längst erobert. Truppen würden durch sein Zimmer marschieren. Panzer würden rattern. Straßensperren. Nächtliche Überfälle. Vergewaltigung. Conny schließt die Augen, weil er sich gerne einschließt. Kopfknast. Den hat er sich seit Jahren wie ein Medikament verordnet. Er will am eigenen Kopf genesen. An seinen Träumen. Seinen Tagträumen, die ihn wie ein Tornado heimsuchen. Lassen kein Stein auf dem anderen. Fegen alles hinfort. Die totale Zerstörung.
Conny sieht alles genau vor sich. Er mit einem Messer, um sich ein Herz aus dem Feind zu schneiden. Säbelt und feilt, bis er mitten in einer großen Disneyshow landet. So sieht es also in denen aus. Nichts als Cartoonfiguren. Bugs Bunny zieht gerade eine Line Koks. Conny drängt sich neben ihn. Rempelt ihn an.
„Verpiss dich!“ (O-Ton Conny)
Conny ist der Chef in seinen Träumen. Er duldet da keine Widerrede. Und wenn doch mal einer widerspricht, dann fliegt er raus. In hohem Bogen aus dem Fenster. Conny nennt seine Augen Fenster. So ist Conny. Immer für eine Überraschung gut. Manche nennen ihn einen Irren. Conny weiß, die irren, die so etwas behaupten.
Jetzt klopft es an der Tür. War ja zu erwarten, weil es Tradition in Connys Träumen ist, dass einer an seine Tür klopft, wenn er gerade eine Line Koks schnüffelt.
No man, no man. Ich bin drauf, will Conny rufen, bis ihm einfällt, dass es alles nur ein Traum ist. Conny war noch nie wirklich high. Nicht mal stoned. Er ist naturbreit. So wird ein Schuh aus dem Connyzustand.
Einer der Bezahlficker seiner Mutter. Der war es. Stolpert bereits ins Zimmer. Sieht sich verwirrt um.
Was Conny nicht an Koks genommen hat, hat der Kerl zu viel geschnüffelt. Ein Schneemann. So kommt er einem vor die Fresse. Nicht vor die Flinte. Ach, hätte Conny doch nur eine. Der Schneemann schlabbert und tropft sich ins Zimmer.
Er müsse mal, sabbert das Schneemännchen.
Dabei fließt es doch längst aus ihm raus. Mitten ins Zimmer. Hey, will Conny rufen.
Seine Stimme versagt. Darin ist Conny ein Meister. Im Versagen. Seit Jahren versagt er professionell. Da kann er ja nicht heute einfach damit aufhören. Das wäre ja gelacht.
Als hätte Schneemännchen es gehört, beginnt sein gesichtsloses Gesicht zu lachen. Laut und kräftig, obwohl man das einem Schneemann, zumal diesem Schneemännchen, gar nicht zugetraut hätte. Lacht sich aus wie ein Lachsack, bis man den Eindruck gewinnt, Schneemännchen besteht aus nichts anderem als nur Lachen. Eine echte Lachnummer eben. Eine Lacher de luxe. Einer, den das Leben bereits so fest an den Eiern hat, das nur die hohen Töne noch kommen. Die ganz hohen. Die Obertöne. Schneemännchen ist ein Hochlacher. Hier wird nicht trivial gelacht. Das ist die hohe Schule des Totlachens. Bis es geschieht. Bis er sich ans Herz fasst. Oder an seine Goldkette. So genau kann das Conny später gar nicht mehr sagen.
Was für ein Ding. Was für ein Stress. Und das am frühen Nachmittag. Eben erst erwacht, sieht sich Conny plötzlich mit einem Toten konfrontiert. (Nichts gegen Tote. Am liebsten Zombies.) Und auch wenn der wie einer aussieht, ist Conny klar, dass es mit seiner beschaulichen Fernsehruhe vorüber ist. Er wird seine Mutter rufen müssen. Wird er doch? Oder etwa nicht? Könnte er auch anders? Es gibt stets eine Alternative. Laut Quantenphysik ganze Alternativwelten. Unendlich viele davon. Conny könnte Schneemännchen zum Schmelzen auf den Balkon stellen. Warten, bis er sich in Luft auflöst. Bis sich die Vögel an ihm vergehen. Der Wind. Conny hat eine ungefähre Vorstellung von dem, was es dort draußen geben soll. Gesehen hat er das alles schon. Conny, das darf man nie vergessen, ist ein Seher, einer, der zwar nicht in die Zukunft blicken kann, wohl aber in seinen Fernseher, der ihm alles verrät. Nur nicht, wie man Stress vermeiden kann, wenn man aus heiterem bzw. trübem Himmel eine Leiche ins Zimmer gekippt bekommt. Jetzt wird Conny von schrecklichen Visionen heimgesucht. Ist also doch ein Seher, unser Conny. Gott habe ihn selig, unsere heilige Dreieinfaltigkeit. (Fernsehen, Inzucht, Fraß)
Conny ist Gottes Sohn. Sicher. Er kann es spüren. Gott lauerte seiner Mutter in einer Tiefgarage auf und nahm sie hart ran. Was für eine Schreierei. Verzückungsschreie, so denkt sich Conny das.
Ganz anders wird es Conny bei dem Gedanken, ein Sohn zu sein, denn wenn die Mutter die Leiche erst entdeckt, dann ist das Theater vorprogrammiert. (Schrei, Kreisch, Schrei, Würg, Hust, Schrei, Würgwürgwürg, Schrei, Schluchz, Bibber, Schimpf) Anschließend wird sich die Mutter abreagieren müssen. Denn irgendwo muss er ja hin, der ganze Frust, der Stress, die Lust, die nun nicht zu einem Ende geführt wurde.
Conny geht im Kopf das Abendprogramm durch. Rambo. Schweiß tritt auf seine Stirn. Klettert mitten drauf. Verneigt sich und fließt dann zur Nase vor lauter Rührung. Fließt und fließt, bis Connys Gesicht wie ein Fluss aussieht, ein reißender Strom, ein wildes Gewässer, das außer Rand und Band geraten ist. Das über die Ufer tritt und sich im Zimmer verliert. Jetzt ist es soweit. Jetzt überschwemmt er das Zimmer. Conny wird zu einer Flut, die alles mit sich zerren wird. Möbel. Den Fernseher. Die Leiche. Alles wird raus kommen. Es wird zum Himmel stinken, zumal wenn das Wasser die Fenster zum Platzen bringt.
Rambo, Rambo, Rambo zuckt es durch das Connyhirn. Das kann er sich nicht entgehen lassen. Nicht diesen Teil. Den ersten. Den besten. Den muss man sehen. Rambo ist für Conny Sport. Er tobt sich aus. Er ist in Bewegung. Die muss sein. Die ist gesund. Und daran muss er doch auch denken. An seine Gesundheit. Er kann jetzt nicht nur an die Toten denken. Da verlangt man zu viel von ihm. Conny fühlt sich unter Druck gesetzt, und klar, sofort denkt er an seine Mutter und eine kleine spritzige Erleichterung in ihrem Muttermund.
Geht doch. Geht doch. Man muss lernen. Fernsehen ist der große Lehrmeister. Steht in Connys Zimmer, rührt sich nicht von der Stelle, will nicht gefüttert und früh berentet werden, läuft aber trotzdem. Läuft und läuft auf der Stelle. Erklärt die Welt. Bricht sie auseinander und anschließend ins Connyzimmer rein. Ins Connyweltreich. Hier herrscht er. Jetzt wieder. Ganz und gar ist er der Herr der Situationen. Aller Situationen, bis es ans Türchen klopft. Conny reagiert nicht, daher weiß die Mutter, dass sie reinkommen darf.
Ob er denn, fragt sie ihn, aber er schüttelt gleich den Kopf. Er schüttelt sich nicht vor Lachen. Soviel Anstand hat er. Beim Lachen vergeht ihm das Lachen, denn beim Lachen, klar, da muss er fortan ans Schneelachmännchen denken, das längst unten vor dem Haus liegt.
Ha! Wäre doch ungelacht gewesen, wenn er die Situation nicht bereinigt hätte. Hat er aber, dank der netten Ikea-Werbung, bei der sie die alten Weihnachtsbäume aus dem Fenster werfen. Raus damit. So macht man das. Auch mit den Toten. Die landen unten neben dem Kinderspielplatz. Damit die Kinder was zum Finden haben. Die werden ihren Spaß haben. Conny ist eben auch ein Weihnachtsmann, ein Leichenverschenker, der die Körper aus dem Fenster wirft, als wäre es nichts.
Viel Arbeit war es, viel Arbeit, ein Meer an Arbeit, ein weiteres Meer an Arbeit kann Conny in den nächsten Jahrhunderten auf keinen Fall verkraften. Deshalb drückt er seinen entkräfteten Leib unter die Decke, tief unter das wohlig warme Decklein, unter dem sich die Welt ertragen lässt. Aber jetzt Ruhe. Rambo kommt gleich, wenn, ja, wenn die Mutter nicht dieses Glitzern in den Augen hätte, dieses Schnaufen im Rachen. Sie wird doch nicht …
Und während unten vor dem Haus ein Schrei den Abend einläutet, sattelt die Mutter auf, weil sie nichts anderes will, nein, nur eins. Auf ihrem Sohn in den Sonnenuntergang reiten mit einem Lied auf den Lippen: I’m a poor lonesome cowboy, and a long way from home.“
Zwei Miniaturen
Das Autotier träumt
Das Kameraauge hat etwas gefangen, es hat ein Tier gefangen, ein Autotier, das groß und dumpf auf seinem Parkplatz steht, seinem vorbestimmten Parkplatz, auf dem es steht und brummt und wartet, bis sein Herrchen kommt, um es Gassi zu fahren, um es um die Häuser zu führen, um es vorzuführen, den Gesichtern, die vor dem Eiscafé sitzen, den Gesichtern, die das Tier bewundern sollen, seine Größe, seine Farbe, seine Gewalt, denn wenn es sein muss, kann es so unendlich gewalttätig sein, es kann kleine Kinder und Igel verschlucken, aber von all dem ahnt das Kameraauge, das unbestechlich hinsieht, nichts, es sieht nur das Tier, das friedlich in der Sonne döst.
Auf vier Rädern steht es da, auf seinen vier Rädern, die es rollen lassen, schneller und schneller, so schnell soll es rollen, dass es manchmal Angst um sich selber bekommt, es hat Angst auseinanderzufallen, und deshalb genießt es die Zeit, wenn sein Herrchen keine Zeit für es hat, für das Autotier, das groß und wild vor einem Haus steht, auf seinem Parkplatz, bis es losstürmen muss, hin zur Benzinstelle, wo sie alle hin müssen, all die Autotiere, um Benzin zu saufen, damit sie nicht kraftlos am Straßenrand krepieren, und anschließend jagt sein Herrchen das Autotier hinaus in die freie Autobahn, hinaus in die Wildnis, damit es sich mit all den anderen Autotieren messen kann, damit es herausfinden kann, ob es eine evolutionäre Chance hat, um herauszufinden, ob es mehr von seiner Art geben wird oder ob es dazu bestimmt ist, auszusterben. Es steht in der Sonne und träumt.
Hände
Und plötzlich tauchen sie auf, Hände, zwei an der Zahl.
Die Hände wedeln, sie drücken die einzelnen Buchstaben der Tastatur, aber nicht so wie ein Mensch einen anderen drücken würde, um ihm seine Liebe zu bekunden, sondern rasch und schnell, wie man es von einem eilig dahingehenden Fußgänger oder einem spielenden Kind kennt, das Himmel und Hölle spielt, das hin und her springt, das aufgeregt ist und das nicht weiß, wo es sein Ei legen soll.
Die Hände hämmern und ackern, sie graben um, sie halten inne, sie verweilen, sie scheinen nachzudenken, während wir darüber nachdenken, wo wohl die Hände ihre Hirne sitzen haben. Wie zwei erschöpfte Flügel liegen sie auf der Tastatur, wie zwei abgeschnittene Flügel, die nicht mehr in der Lage sein werden, einen Vogel in den Himmel hinaufzutragen, bis sie es plötzlich doch tun, bis sie plötzlich doch wieder aufgeregt wedeln, weil das Kind sein Spiel wieder aufgenommen hat, sein wirres und unübersichtliches Himmel-und-Hölle-Spiel, das wir nicht verstehen, wir können nur den Flug der Hände beobachten, der kein Flug ist, sondern ein aufgeregtes Auf-der-Stelle-laufen. Die Hände täuschen ihr Vorwärtskommen nur vor!