Na sowas! Kein Schnee. Entrüstet schielt der Winterwart zum Himmel hinauf. Keine einzige Flocke. Das wird es doch nicht mit dem Winter gewesen sein? Der Winterwart spuckt angewidert aus. In seiner Hand liegt die Schaufel. Sie wohnt dort. Er nimmt sie überall mit hin, auch ins Bett. Seine Frau stört es. Sie sagt: „Das muss doch nicht sein. So eine Winterschaufel gehört in die Garage.“ – „Schweig, Weib!“ entgegnet der Winterwart. Er träumt davon, am Nordpol zu leben. Da könnte er den ganzen Tag Schnee schaufeln. Von morgens bis abends.
Monat: Februar 2013
Notizen für den nächsten Krimi, während man nervös seinen Kaffee schlürft. (Tagebücher sind nebenher auch zu pflegen, wer weiß. – Nichts über den Stuhlgang, dafür feingeschliffene Aphorismen über das menschliche Dasein.)
Vielleicht mal einen Detektiv erfinden, der ein wenig besoffen ist, ein wenig geschieden, er könnte auch ein wenig Finanzprobleme haben. Alles im personalen Erzählstil gehalten. Viel „dachte er“, denke ich, könnte aber den Leser in seinem Empfinden für gleichlautende Worte verletzen, hin und wieder also auch ein „überlegte er“ benutzen. Ich denke, das ist besser.
Der Detektiv wird gebeten … Nein! Er erhält einen Auftrag. Nein! Doch! Der Detektiv erhält einen Auftrag, verliebt sich aber im Laufe des Romans (mindestens 800 Seiten, also viel beschreiben, wie die Umgebung aussieht und der ganze andere Kram, der so in der Gegend herumsteht) in seine Auftraggeberin, sodass der Fall zu einem Gefallen, zu einem persönlichen Feldzug wird, zumal wenn die Auftraggeberin (vielleicht auf Seite 317) Opfer eines heimtückischen Mordes wird. (Melodramatische Abschiedsszene inklusive Kuss einbauen.)
Zum Mörder. Der muss eine hundsgemeine Drecksseele haben. Nein! Besser. Er hat überhaupt keine Seele, dafür aber ein Talent, welches Auge zuerst aus seiner Höhle zu schöpfen ist. Er könnte sich für diese sadistische Vorgehensweise (Augenschöpfen) ein spezielles Mordinstrument gebaut haben, einem Esslöffel nicht unähnlich. – Darüber mit einem Fachmann reden. Nur wer? Polizei? Werkzeugmacher? Einzelhandelskaufmann?
Mörder hat unendliche Probleme in seiner Jugend gehabt. Rückblicke einbauen. Detektiv hatte ebenfalls unendliche Probleme. Ebenfalls Rückblicke einbauen. Unterschiede herausarbeiten. Detektiv gab das Tierquälen irgendwann auf.
Lokalkolorit. Nicht unwichtig. Ein bisschen Frankfurt, Berlin, Hamburg, Köln, Dortmund, Fulda einbauen. Reiseführer benutzen. Eine Kunststadt erschaffen, die jedem Leser bekannt vorkommt. Aha! Das wird die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen lassen. Quasi den ultimativen Regionalkrimi schreiben.
Skandale einbauen. Zeitbezüge herstellen. Die Wirtschaftskrise sollte eine Rolle spielen. Politiker, die ihre akademischen Titel aberkannt bekommen. (Gewiefter Kniff. Im Hintergrund der Detektei könnte ein Radio laufen. Zitate der Nachrichten in Kursivschrift. – Gott, bin ich gut.)
Der Detektiv braucht Marotten. Er könnte heimlich auf einarmige Frauen stehen. Nein. Zu überzogen. Ein exzentrisches Hobby. Nein. Auf jeden Fall neigt er zur Schwermut. Nicht zu viel Schwermut einbauen, sonst belastet man den Leser. Zwischen den Szenen über die Schwermut, kleine Witze einflechten. Die lockern auf.
Am Ende ein Showdown, der sich gewaschen hat. Könnte in einer europäischen Metropole spielen. Bedeutendes Baudenkmal benutzen. Eventuell doch nach Ägypten ausweichen. Verfolgungsjagd im Schatten der Pyramiden. Ende mit einem Schlupfloch versehen, um einen zweiten Teil mit dem gleichen Mörder folgen zu lassen.
Am Ende ENDE schreiben. Erklärt dem Leser, an welcher Stelle des Romans er sich befindet und gemahnt an die großen alten Hollywoodproduktionen.
Titelsuche. Sehr wichtig. Der Titel ist der Markenname. Am besten nur ein Wort, z.B. Blutschwamm, Mördermond, Sackleinen (Sackleinen streichen. Verkauft sich nicht).
Der Konrad, Sie kennen ihn ja. Der Konrad, das ist ein aufgeschlossener Mensch, der Konrad. Wenn da eine Gruppe irgendwo herum steht, dann kennt der Konrad nix, dann spricht der die an. Da kennt er kein Pardon, der Konrad.
Seit Kurzem ist der Konrad jetzt auch bei Facebook angemeldet. Das, ich weiß nicht, das tut ihm schon gut, nur die anderen, die haben vielleicht so ihre Probleme. Weil, wenn der Konrad bei Facebook eine Gruppe sieht, macht er das halt wie im echten Leben. Er geht halt hin und spricht sie an. Nicht ganz. Bei Facebook schreibt er sie halt an. Jede Gruppe. Das ist dem Konrad egal. Die schreibt der Konrad an und fragt: Na, was macht ihr denn so? Schönes Wetter heute, was? Antwort, da sind wir jetzt mal ehrlich, bekommt der Konrad selten. Aber ihrer Gruppe beifügen tun sie ihn alle. Da kennen diese Facebook-Gruppen keine Gnade. Da wird vom Straßenrand aufgelesen, was in den Gruppenbus passt. Das freut den Konrad ja auch immer. Da lacht er und sagt: Heidi, jetzt bin ich schon wieder in einer Gruppe. Die hier beschäftigen sich mit dem Melken von Kühen. Nur keine Kühe da, dafür eine Menge nackiger Mädchen.
Ja, hab ich zum Konrad gesagt, das sind halt so die Gefahren des Internets. Da musst du freilich aufpassen. Ach, du immer, hat der Konrad drauf gesagt. Und dann hat er weiter bei irgendwelchen Gruppen angefragt. Und Freundschaftsanfragen hat der Konrad rausgejagt, das war nicht mehr feierlich. Jetzt hat er schon über 4589 Freunde, der Konrad. Er sitzt jeden Abend ganz feierlich vor dem Bildschirm und liest jeden Eintrag der 4589 Freunde, weil, so sagt der Konrad, eine Freundschaft, die will ja auch gepflegt werden, sonst ist sie ja keinen Pfifferling wert. Und nicht nur, dass er jeden Eintrag liest, der Konrad, er schreibt auch noch unter jeden Beitrag was drunter, weil, da muss man doch antworten, sagt der Konrad, wenn einer was sagt, auch wenn es nur in die Pinnwand hinein ist.
Er war ja immer ein kommunikativer Mensch, mein Konrad, aber, ich muss schon sagen, jetzt geht es mir alleweil doch etwas zu weit, weil der Konrad die ganze Nacht vor dem Facebook sitzt und liest und schreibt, weil bei 4589 Freunden, da ist immer einer, der wach ist und was mitteilen muss.
Ja, guck doch hier, ruft der Konrad mich, ja, guck nur, das ist der Goethe, der ist auch hier. Aber, Konrad, will ich schon sagen, da winkt er ab, er wisse schon, dass das nicht der echte Goethe sei. Außerdem habe der gerade auf „Fifty Shades of Grey“ hingewiesen. So etwas hätte der echte Goethe nie empfohlen. Da habe er sich aber schnell enttarnt.
Früher, mal ehrlich, da war mir das lieber, da hat der Konrad ja auch mal eine Gruppe oder einen Menschen angesprochen, aber seit er bei Facebook ist, kommt er aus den Menschenmassen gar nicht mehr raus.
Um mit dem Konrad in Kontakt zu bleiben, habe ich mir jetzt auch einen Account zugelegt. Meine Freundschaftsanfrage hat er noch nicht beantwortet, aber ich bin mir sicher, wenn ich erst drin bin, führen wir auch wieder eine ordentliche Ehe. Und das mit dem Sex, das kann man dann ja über die Privatnachrichten machen. Mal ganz ehrlich. Das geht einfach nicht jeden was an.
Die Oma wartet. Sie sitzt am Fenster, die Arme verschränkt, als wäre sie eine Grenze, die nicht zu überschreiten ist. Sie bewacht die Gegend, damit nichts geschieht, von dem sie nicht weiß. Segelt im Herbst ein Blatt zu Boden, achtet sie genau darauf, wer über das Blatt läuft, welcher Reifen auf ihm geparkt wird. Sie beobachtet, wer um welche Uhrzeit nach Hause kommt. Das Fenster ist ihr Lebensloch. Sie lebt oberkörperlich darin. Sie ist nur Arme, auf denen ihr schwerer Busen lastet, darüber der im Rollkragenpullover versteckte Hals, dem der Kopf, graubehaart, folgt. Das Gesicht ist gefaltet, ein Papiergesicht, das unzählige Male von Männerfäusten geballt und auseinandergefaltet wurde. Man hat dieses Gesicht in den Mülleimer gestopft, hat damit Fußball gespielt. Die Mundwinkel beschreiben einen Torbogen, der einzig noch von ihrer Zunge durchschritten werden soll. Ein Mann, der kommt ihr nicht mehr ins Haus. Zumal sie keins hat. Sie bewohnt eine Wohnung, die sie von der kargen Rente bezahlt, die sie erhält. Ein Leben lang ist sie Putzfrau gewesen. Stets nebenher. Das Geld gab es bar auf die Hand. Das Überleben fragt nicht nach der Rentenversicherung. Das Überleben will bewältigt werden. Es will überlebt werden, irgendwie auch belebt.
Jetzt ist sie alt. Mit Sechzig hat sie beschlossen, mit dem Sterben anzufangen. Damit kann man gar nicht früh genug beginnen, denkt sie. Und während sie stirbt, unaufhaltsam und seit nunmehr fünfzehn Jahren, sitzt sie herum. Das Sitzen ist ihr zur Passion geworden. Sie hält inne. Sie will sich nicht mehr bewegen. Sie will sich aussitzen, bis sie tot zur Seite kippt. Nur am Fenster steht sie noch. An ihrem Loch, von dem aus sie das Leben mit ihren kleinen Augen fängt.
Inge ist eine Rassismusaufspürmaschine. Sie durchstöbert täglich die Weltbilder der sie umgebenden Personen, um einem Rassismusdelikt auf die Spur zu kommen. Blinzelt jemand zu auffällig während der Betrachtung einer türkischen Mitbürgerin, wähnt sie, Inge hat sich selbst mit Filmen wie „Die Farbe Lila“ geschult, Rassismus in einem krankhaften Vorstadium.
Erzürnt über das Blinzeln, verfertigt Inge in rascher Folge siebzehn Leserbriefe, die sie in ihrem Blog „Die Guten und die Schlechten“ dem geneigten Antirassisten zur Verfügung stellt. Der Antirassist, der wie sie, Rassismus bereits hundert Meter gegen den Sturmwind riechen kann, wird sie in ihrem Denken dankbar mitdenkend unterstützen. Tut er das nicht, handelt es sich selbstverständlich nicht um einem Antirassisten, sondern um einen Rassisten, der normalerweise zur Anzeige gebracht werden müsste.
Inge schweben da Umerziehungslager vor, in denen der Rassist lernt, was es heißt, ein Antirassist zu sein. Ist der Rassist nicht willens, in allen Menschen das Gute, und nur dies, fernab seiner Hautfarbe und Herkunft, zu sehen, wird er, da zeigt Inge keine Scheu, das Grauen, das seine Spezies, also die des Rassisten, über die Menschheit brachte, am eigenen Leib erfahren.
In speziellen Einrichtungen, so träumt es Inge manchmal, wird der Rassist auf seine zukünftige Aufgabe als Antirassist vorbereitet, und zwar, indem der Rassist z.B. in Ketten von einem Rudel wilder Hunde verfolgt wird. So etwa fünfhundert Runden um einen Sportplatz herum, dürften genügen, dem Rassisten die Unsinnigkeit seines bisherigen Tuns am eigenen Leib spüren zu lassen. Reicht das nicht, kann man den Rassisten bei Bedarf (und ein solcher liegt bei Rassisten, so Inge, im Grunde immer vor) gerne auch in die Knie schießen, ihn erhängen, ihn teeren und federn, ihn auf einen gesonderten Platz im Bus verweisen, um ihn dann zu erschießen, zu teeren und zu federn.
Ein solcher Umgang mit dem Rassisten muss doch möglich sein, denkt sich Inge, Deutschlands schärfste Rassismusaufspürmaschine.
Inge hat ihren Job bei einem Telekommunikationsunternehmen längst gekündigt, um sich auf das Aufspüren von Rassismus zu spezialisieren.
Erst gestern entdeckte sie ein Video von und mit Gerhard Polt. Dort gebar sich Polt, dem der Rassismus sofort an der Nase abzulesen war, an seinem grobschlächtigen Deutschgesicht, nicht nur als Sexist, sondern, Inge bastelt bereits einen Leserbrief, auch als Rassist. Er verging sich im Video an einem unschuldigen, dem asiatischen Raum entstammenden Menschenkind. Scheußlich! Widerlich! Auch der Hinweis eines Bekannten, es liege hier eine Form von Humor, eine Form von Satire vor, wollte sich nicht gelten lassen, denn, so Inge, wo kommen wir denn dahin, wenn man Rassismus nicht mehr gerade an der Nase packen kann, weil irgendwer behauptet, es wäre Satire. Da könnte der Antirassist ja gleich einpacken. Nein, nein, das lasse sie nicht zu.
Der Polt, erklärt Inge, ist in ihr Umerziehungslager zu verbringen, nicht jetzt, aber bald, später, wenn es eröffnet worden ist.
Wer sich nicht klar distanziert, fährt Inge fort, der muss umerzogen werden, weil er ungezogen ist. Der Antirassismus muss in den Rassisten eingeprügelt werden, zur Not muss er in Form einer Kugel implantiert werden.
Inge erwartet von allen Mitbürgern, sie vermeidet den rassistischen Begriff Deutsche, dass sie sich – ohne wenn und aber – für die Sache des Antirassismus einsetzen. Zäh wie Leder müsste man sein, schnell wie ein Windhund. Aber wem erzähle sie das? Doch nur einer Bande von Rassisten. Die Welt müsse aus den Augen des Unterdrückten, der per se ein Heiliger sei, betrachtet werden? Und wer das nicht tue, für den gebe es hier keinen Platz, der müsse weichen, schreit Inge, die Hände zu Kelchen geformt, die sie vor ihre Schultern hält. Sie ist ganz entzückt von sich. Man kann bereits von Entrückung sprechen. Von einer göttlichen Form der Besessenheit. Sie werde nicht eher ruhen, bellt sie, bis der Planet, bis das Universum, von dieser Plage, von diesem Unkraut des Rassisten gesäubert ist.
Inge schüttelt sich. Ein wenig erstaunt ist sie schon über sich. Sie hat jetzt keine Zeit. Sie muss in die Stadt, muss den Gesprächen der Mitbürger lauschen, ihre Blicke müssen observiert werden. Der Rassismus kennt keine Pause. Und darum, sagt Inge und lächelt gütig, darf ich nicht ruhen.
Sie greift beherzt nach ihrem kleinkalibrigen Damenrevolver, um die Welt ein wenig gleicher zu machen. Denn der Tod, erklärte ihr Vater ihr einst, ist der größte Gleichmacher von allen.
Essen ist Krieg
Der Mensch, der muss ja auch essen, denn vom Brot allein wird er nicht satt. Das ist eine alte Binsenweisheit. Und man muss über den Tellerrand schauen. Da entdeckt man allerhand.
Zum Bespiel den Mitesser, der neben einem hockt und schmatzt. Der Mitesser ist ein Konkurrent, den muss man im Auge behalten, sonst kommt man an den Töpfen zu kurz. Also ruhig mal mit der Gabel in den Handrücken stechen, damit der Mitesser weiß, was die Mittagszeit geschlagen hat. Dann heißt es, sich ranhalten, stopfen, was der Mund hält, immer rein damit, denn was man selbst vertilgt, gereicht dem Mitesser nicht mehr zur Freude. Die Backentaschen heißen nicht von ungefähr so. Die müssen wie Frachtkähne bepackt werden.
Der Mann ist Jäger und Sammler. Beim Mittagessen bündeln sich die Eigenschaften, sie gehen eine Koalition der totalen Vernichtung ein. Wie ein Sturm weht der Esser über die Tischlandschaft, bis kein Kartoffel mehr über dem anderen liegt. Fressen oder weggefressen bekommen. Da setzt sich der Schnellere durch. Der Tollkühne. Eine gewisse Brutalität ist unabdingbar. Auf die kann man nicht verzichten.
Mit dem Stuhl nah an den Tisch, ganz nah, näher, bis der Bauch an die Tischkante stößt. Jetzt sind es noch vierzig Zentimeter, die einen vom dampfenden Garten Eden trennen. Löffel links, Löffel rechts. Die Gabel wird nur zur Handrückenbearbeitung eingesetzt. Bevor das Tischgebet gesprochen wird, muss man bereits seinen Erstschlag erstklassig durchgeführt haben. Da darf nichts mehr in den Töpfen von dem künden, was von der Hausfrau oder dem Hausmann in Stunden minutiös wie im Labor geköchelt wurde.
Bevor sich alle versehen, glotzt man fragend in die Runde und reibt sich den Wanst. Kurz vor dem finalen Rülpser empfiehlt man sich mit einem „Mahlzeit“ vom Schlachtfeld.
Beschwert sich ein Familienmitglied, reibt man sich charmant über den Mund und verweist ihn auf das Abendessen. Außerdem, so kann man noch anfügen, tät dem Frager eh eine kleine Diät ganz gut zu Gesicht stehen. Ist alles gesagt, darf man gehen, um zu ruhen.
Der Rapper
Ja, was soll man da sagen? Wo anfangen? Der Rapper, das ist halt auch ein Mensch. Das ist ja unbestreitbar, weil da muss man ihm ja nur ins Gesicht sehen, da ist meist alles vorhanden, was der Mensch zum Besichtigen so braucht. Da ist alles vertreten: Mund, Augen, Nase, Narben.
Der hat es ja nicht leicht, der Rapper, weil er meist aus einer armen Gegend kommt. So wie der 50 Cent, der, das hab ich mal irgendwo gelesen, den ganzen Körper mit Schusswunden übersät hat. Der ist mehrmals erschossen worden, man glaubt es gar nicht, das reicht für drei Gangsterleben. Weil er aber so gut rappen kann, hat sich der Dr. Dre um ihn gekümmert und hat eine Platte mit ihm gemacht, auf der er von seinem Leben im Ghetto erzählt, also nicht erzählt, sondern rappt, weil, der ist ja Rapper. Er war also schon immer beides: Rapper und Gangster.
Als Rapper kommt es eben auf die Authentizität an. Du kannst da nicht einfach aus deinem Mittelstand kommen und sagen, so, jetzt rap ich mal über die Scheiße, die da in unserem Mittelstand abging. So Themen wie: Sonntags gabs nicht immer Sauce zum Braten, weil die Mama Migräne hatte. Die ziehen da nicht, da musst du schon mit etwas mehr aufwarten, mit einer Schießerei am Küchentisch, mindestens.
Die Herkunft, die spielt beim Rapper eine Rolle, der muss Probleme haben, weil er ja kein richtiger Deutscher ist, so wie der Bushido, sondern ein nicht anerkannter Migrant. Wenn es dann gut läuft, drehen sie sogar einen Film über dich, weil, das Leben von einem Rapper ist mehr als ein Leben. Das ist ein Abenteuer-Erotik-Action-Drama-Film. In dem ist alles drin, was das Mittelstandsherz vermisst, weil, das Mittelstandsherz hat keinen Grund gehabt zu brechen. Das ist jetzt natürlich Unsinn. Der Mittelständler hat auch so seine Sorgen. Das sind andere Sorgen, eben nicht so knallharte Rappersorgen.
Mit dem amerikanischen Rapper kann es der deutsche Rapper allerdings nicht aufnehmen. Weil in den USA, da werden sie ja, Sie müssen meine Ausdrucksweise entschuldigen, da werden Sie ja regelrecht im Großen gezüchtet. Deshalb hat man ihnen Stadtteile zugewiesen, sogenannte Ghettos, in denen zieht sich die amerikanische Musikindustrie ihre echten nächsten Rapper heran, die mit Polizeisirenen und Verhaftung und Schüssen und allem Pipapo aufwachsen, damit sie später auch genügend Textmaterial vorzuweisen haben.
Der US-Rapper, das ist schon klar, der lacht sich über den deutschen Rapper natürlich tot, weil, der sagt, du mit deinem bisschen Messerstecherei und Migrationshintergrund, du bist ja gar kein Rapper, du bist ja noch nicht mal erschossen worden.
Der US- Rapper ist auch meistens Doktor, so wie der Dr. Dre. Er kann aber auch einen anderen Namen haben, nur keinen bürgerlichen, weil, das geht gar nicht, das wäre viel zu bürgerlich.
Der Rap, das war irgendwann eine echte letzte Revolution im Musikgeschäft, weil der weiße Konzernchef aber nicht blöd ist, hat er aus der Revolution gleich Kapital geschlagen. Die Musikindustrie, die ist eben kein Mensch, die setzt alles in Geld um, selbst den Tod damals vom Kurt Cobain, auch wenn das jetzt ein ganz anderes Thema ist. Bei der Janis und beim Jimi, da waren die Drogentode ja noch Skandale, beim Kurt war der Tod der Schlüssel zu noch mehr Geld. Da muss man richtig darauf herumreiten, dann kann man seine Spritzerei auch an die Spitze der Album-Charts bringen. Nicht zufällig, sondern bewusst gesteuert. Der ist ja kein Depp, der Konzernchef.
Aber zurück zum Rapper, zum deutschen Rapper, der, so habe ich heute gelesen, sogar Nachwuchs zeugen kann. Das passt selbstredend auf keinen Fall in das Bild, das man von so einem Rapper hat, weil, so drei bis vier Bitches muss er schon haben. Bitches sind die Frauen, von dem der Rapper behauptet, dass sie keine Menschen sind, sondern Schlampen, denen er es richtig besorgt. Ja, was soll man da sagen? Das ist halt ein lebenslustiger Mensch, der Rapper. Der sieht einer Frau auf den Arsch und meint, jetzt etwas über ihren Charakter sagen zu können.
Also, um zu einem Ende zu kommen, und damit hier keine Zweifel aufkommen, der Rapper, das ist halt auch ein Mensch, der ist zwar etwas ghettoisiert, aber wenn die Plattenindustrie ihn erst auf dem Schirm hat, wird aus ihm eine anständige Verkaufszahl, auch wenn er dann kein Mensch mehr ist, weil beides geht nicht. Zahl und Mensch, da muss man sich entscheiden. Dem Rapper ist so etwas egal. Der rappt darüber, und dann ist alles wieder gut. Und wenn gar nichts hilft, schießt er eben alle tot.
Und morgen, da sprechen wir dann über den italienischen Berlusconi, weil, der ist gar kein Mensch mehr, auch wenn er das behauptet bzw. die Sender, die ihm alle gehören.
Da liegt er. Als ob er sich ausruhen würde. Mal langlegen. Schläfer sein, der nicht mehr erwachen wird. Tote liegen so unbekümmert. Vor allem, wenn man sie im Gebüsch findet. Als ob sie etwas gefunden hätten, tief im Erdreich. Hinter den Blättern.
Und jetzt, wo man es hat, kann man sich ausruhen. Nicht eine Sekunde. Oder zwei. Sondern eine ganze Ewigkeit lang. Drum wird man zum Langleger. Zum Ewigkeitsdurchmesser. Der Körper liegt da und durchmisst die Unendlichkeit. Das muss man erst mal hinbekommen. Sich so sehr ausruhen können, dass nichts einen mehr stört. Kein Wurm. Nicht das Knabbern einer Ratte. Die Flüssigkeit tritt aus. Sie kündigt dem Leib. Was soll sie noch länger dort? Sie läuft aus. Davon! Und das, während man selbst mit nichts anderem als dem sich dehnenden Weltall beschäftigt ist, weshalb man sich mit dem Raum streckt, sich hinauslehnt ins Nichts, um darin am Ende gänzlich umzukommen. Weil jede Weite irgendwann das, was gedehnt wird, zum Reißen bringt. Der Körper wird von der Dehnübung des Weltalls porös. Bis er sich schließlich entzweit.
Das alles muss man wissen, wenn man eine Leiche am Spätnachmittag in einem Gebüsch findet. Da ist allerhand zu bedenken, was einem im ersten Fundaugenblick nicht unbedingt in die Augen springen will.
Warten
Wir warteten ja immer. Daniel wartete auf Sabine, die wartete auf Harald, der auf Bastian wartete. Während wir warteten, sprachen wir darüber, wie wir unser Wartezimmer einrichten könnten. Wir saßen da und warteten auf eine gute Idee. Sie kam nicht. Sie stiefelte nicht rein und sagte: Hey, hier bin ich. Niemand erwartete das. Es wäre unserem Lebensplan vom Warten zuwider gewesen, wenn er angekommen wäre. Er musste unterwegs sein. Irgendwo dort draußen. Auf den Straßen der Welt.
Die Wartezeit brachten wir mit Gesprächen um, in denen wir davon träumten, was wir tun würden, wenn das Erwartbare eingetroffen war. Mit was würden wir dann unsere Zeit zerreiben? Wie würden wir sie bewarten? Es müsste etwas Unerwartbares sein.
Während wir saßen, beobachteten wir das Fenster. Wir wollten wissen, was draußen vor sich ging. Es war nur ein Ausschnitt. Wir sahen einen Mann, der vorübereilte. Wir wussten nicht, wohin er wollte noch von wo er kam. Wir sahen seine unbegründete Eile. Mehr nicht. Wir mussten uns eine Geschichte für ihn ausdenken.
Warten kann mürbe machen. Es löst den Körper allmählich in seine einzelnen Bestandteile auf. Man atomisiert. Man realisiert. Man wird zu einem Zustand. Am Ende wird man zum Warten selbst.
Montag
Das war ja ein wieder ein Tag. Das ging ja her. Erst Schnee, dann Schnee, der sich in Wasser verwandelte. Das ist doch Stress für den Schnee. Der muss das alles verkraften. Nicht so einfach. Du fällst da am Morgen frohgemut aus dem Himmelszelt, entsendet als Bote des Todes. Verstopfst alles. Du legt den Verkehr lahm, und dann heißt es plötzlich, du sollst schmelzen. Da muss man als Flocke erst mit klarkommen. Ist doch kein Wunder, wenn du den Kontakt zu dir selbst verlierst. Wenn du dir fremd wirst. Wie soll man denn da in Zukunft noch rumliegen können, ohne bereits den Genozid am eigenen Volk im Hinterkopf zu haben. Auf die Wärme ist geschissen. Die ist ja quasi der Massenmörder unter den klimatischen Veränderungen. Die Wärme legt sich über das Land, wie eine Belastung. Man sollte tunlichst und schnell einige Eisdielen aufstellen, um den warmen Temperaturen einzukälten.
Das Kind
Aus Karl Bordmanns Aufzeichnungen
… es ist zum Heulen. Kinkerlitzchen. Es kann nicht von mir stammen. Eva behauptet es. Sitzt rum und heult, das dämliche Weib. Ich habe ihr schon hundertmal erklärt, dass es Einbrecher gewesen sein müssen. Hurensöhne, die in dieser Gegend auf einem Raubzug waren. Und weil sie nichts gefunden haben, zerschlugen sie das gesamte Mobiliar.
Jetzt will sie mich verlassen. Soll sie doch gehen. Es ist sowieso alles am Ende. Mir fehlen die Kräfte, um noch etwas zu schreiben.
Am Horizont braut sich ein Sturm zusammen. Er wird alles mit sich reißen. Ich kann es in meinem kleinen Finger spüren. Dieses Ziehen.
Sitze hier in meinem Sessel und trinke. Eva wühlt oben. Vielleicht packt sie ihre Koffer. Ich werde sie nicht aufhalten. Ich könnte es tun. Ich habe es schon einmal getan. Was hat das gebracht? Nichts! Reden wir nicht darüber. Ich will nichts davon hören. Es gibt Bilder, die nicht verschwinden wollen. Ich werde …
… ein Klopfen. Ich bin mir sicher, ein Klopfen gehört zu haben. Eva ist fort. Gott sei ihrer erbärmlichen Seele gnädig. Es war eine Menge Arbeit, sie nach Hause zu bringen. Die Erde ist feucht. Sie ist schwer, zu schwer für einen alten Mann wie mich.
Unten ist etwas. Ich müsste nachsehen. Nein. Soll es doch dort sein. Soll es umherkriechen. Es kommt aus dem Meer. Manchmal muss ich lachen. Ich kenne es. Es kommt aus meinem Kopf. Aber es lebt. Obwohl es aus meinem Kopf kommt, lebt es. Ist das nicht wunderbar. Es ist mein verfluchtes Kind. Meines und Evas. Wir haben es gezeugt, als ich sie …
… Papa! Es ruft nach mir. Es will, dass ich nach unten komme. Scheiß auf alles. Ich werde hier liegen und langsam verrotten. Liegen und sterben. Das ist es. Ich habe die Schnauze voll. Ständig bimmelt das Telefon. Die Nachbarn. Oder eine ihrer Freundinnen, die sie suchen. Sie werden sie nicht finden. Ich müsste mir die Finger waschen, der Dreck der Erde sitzt noch darunter. Das Kind schleift sich unten über den Boden. Es ruft nach mir. Papa! Das ist zum Lachen. Das ist zum Weinen. Es ist das hässliche Kind einer hässlichen Liebe. Ich sollte nach unten gehen. Sollte es mit der Schaufel zu Mama bringen. Dort gehört es hin. Würde nichts bringen. Weil es in meinem Kopf geschlüpft ist … Mehr trinken!
… kaum glauben. Ein wunderschöner Sonnentag. Und ich bin noch am Leben. Ich habe den Sturm überlebt, diesen Orkan, den Gott sandte, um das Böse vom Antlitz des Planeten zu wischen. Im Haus herrscht völlige Ruhe. Die Brandung schlägt wie ein Pendel. Regelmäßig, so wie mein Puls. Es könnte alles gut werden.
Ich werde nach unten müssen. In den Keller. Ich habe keinen Wein mehr. Und wer mich kennt, der weiß, dass ich ohne Wein kein Mensch bin. Ich bin eine leere Hülle. Eva wusste es. Sie hat es gesagt. Wieder und wieder. Gott, halt doch deine schäbiges Maul, hab ich gerufen, aber sie hat es wiederholt. Die Worte kamen wie Kugeln aus ihrem Mund. Wie ein Maschinengewehr war sie. Eine … Jetzt ist sie nicht mehr. Es ist gut, was ich getan habe. Gut. Es geht um die Ruhe, die ich mir verschafft habe. Die Zeit, die mir bleibt. Wenn ich nur gesünder wäre, ich würde etwas schreiben, dass sie schon lange nicht mehr gelesen haben. Einen Schrei. Den würde ich aufschreiben. Ich habe ihn gehört. Er ist noch in meinem Ohr und …
… unser Kind. Ich habe es gesehen. Es ist … es lag … Mir fehlen die Worte. Eine Missgeburt. Eine totale Missgeburt. Ein schleimiges Etwas. Es lag unten auf den Fliesen. Hinter sich eine Schleimspur aus Blut. Eva muss es in ihrem … Sie muss es dort unten bekommen haben. Und dann hat es sich befreien können. Ich weiß nicht … Es muss die Erde zur Seite geschoben haben und hat sich über die Terrasse ins Haus geschleift. Ich habe mich nicht verhört. Es hat gerufen. Papa, hat es gerufen. Es wollte zu mir. Ich habe es nicht berührt. Nein, das kann ich nicht.
Ich habe mir Wein geholt. Bin nach oben zurück. Hier sitze ich und schreibe. Ich schreibe alles auf, alles, was …
… in der Nacht konnte ich es hören. Es hörte sich wie ein Miauen kann, gefolgt von einem Wimmern. Und dann hörte ich ganz deutlich, wie es wieder Papa rief. Nicht. Nein. Es hat nicht gerufen. Es hat es geflüstert. Ich sollte gehen. Nein! Ich darf nicht gehen. Es ist ein Kind des Hasses. Es wurde mit Blut gezeugt. Es wurde mit einem Hammer gezeugt. Mit einer Schaufel. Papa. Das kann nicht sein. Ich werde vermutlich nur verrückt, nur verrückt, verrückt.
Es hört sich an, als wäre es auf die unterste Stufe gekrochen, als würde es sich auf dem Weg nach hier oben befinden. Ich könnte wen anrufen. Wen? Ich könnte es erschlagen. Sie wie … Ich will jetzt nicht daran denken.
Ich muss mir diese Welt aus dem Kopf trinken. Dann wird schon alles gut. Alles wird gut. Alles …
… Tür zugeschlossen. Ich denke nicht, dass es etwas bringt. Ich werde es nicht abhalten. Es weint. Ich bin ein schlechter Vater. Es kratzt an der Tür. Es muss über lange Fingernägel verfügen. Es hört sich an, als würde man Metallspitzen über das Türblatt ziehen. Es heult, es kratzt. Es ruft mich.
Es wird kommen.
Es will doch zu seinem Papa!
Es …
… Ruhe.
Das hat nichts zu bedeuten. Das ist die Ruhe vor dem Sturm. Ich habe die Waffe geladen, die kleine, die Eva in ihrem Nachttisch aufbewahrte.
Ich bin bereit. Wenn es kommt, werde ich den Lauf tief in meinen Mund stecken und mich entfernen. Ich weiß nicht, ob die Kugel tödlich ist. Ich vermute es. Ich hoffe es.
Draußen ist seit Stunden nichts zu hören. Stunden? Es könnten auch nur Minuten sein. Das Kind sammelt sich. Konzentriert sich. Es hat nicht aufgegeben. Nein.
Mein Blick ruht eisern auf der Tür. Hier wird es ein zweites Mal schlüpfen. Es will in meine Welt.
Ich denke es ist Zeit, es zu begrüßen.
Schreutner
„Schreutner“ von Werner Farbrink gilt als einer der wichtigsten avantgardistischen Romane der 60er Jahre. In einer Folge von experimentell angeordneten Szenen aus dem Leben Schreutners, erzählt er die Geschichte seines Protagonisten und der jungen Bundesrepublik, die noch immer eng mit den Verbrechen und den Verbrechern des NS-Regimes verbandelt ist. Aber lesen Sie selbst.
Schreutner besah sich das Schild. Zimmer frei! Er vergrub seine Hand in einer Haarsträhne und knetete sie. Die Frau, der die Haare angehörten, betrachtete ihn argwöhnisch, ließ es sich schließlich aber mit einem leichten Knurren gefallen.
Ob sie mit ihm, Schreutner unterbrach sich, setzte neu an, ob sie mit ihm, abermals unterbrach sich Schreutner. Was?, fragte die Frau, sich ihm entgegen beugend, damit er kräftiger in ihr Haar greifen konnte. Ich habe es vergessen! Schreutner kniff die Augen zusammen.
Sie könnten es wissen, sagte er.
Die Frau bildete mit einem imaginären Kaugummi eine Blase, die selbst dann nicht platzte, als ihr Gesicht bereits gänzlich verdeckt war. Schreutner musste seinen Arm heben, wollte er das Kraulen nicht vorzeitig beenden.
Halt!, rief Schreutner.
Die Bläserin hielt abrupt inne.
Was?, schmatzte sie.
Schreutner zog seine Hand zurück. Ich habe mich geirrt, sagte er.
Die Frau spuckte ihm den erschlafften Kaugummifallschirm auf die Füße.
Schreutner ließ es geschehen, war der Kaugummi doch eh nur ein Phantasieprodukt.
Unter dem Mistralzweig
Glock ist in einem Dorf mit zwei Häusern aufgewachsen. Es liegt tief in den Bird Mountains. Von Dosenfeld aus gesehen, muss man hinten durch das Dorf, da wo die Kolonialläden liegen. Glock hat Dosenfeld in seinem Roman „Der Herbert ist dem Karl sein Freund“ ein Andenkmal gesetzt, ja, richtig gelesen, weil, bei den wenigen Worten, die er fand, kann man einfach nicht von einem richtigen Denkmal reden.
Das Dorf mit den zwei Häusern heißt Zahme Luise. Wenn sich Glocks Vater aus dem Fenster lehnte und seine Nachbarn auf der Straße sah, rief er: „Na, was gibt es Neues im Dorf?“ Die kamen ins Quatschen und gar nicht mehr raus, weil immer ein Skandal vorlag, ein Blatt, das jemand mitten auf die Hauptstraße gelegt hatte, Katzen, die nicht hierhergehörten.
Glock muss an diesem Morgen an das Dorf seiner Kindheit denken. Der erste Blick aus dem Fenster hat ihm verraten, dass es geschneit hat. Das liegt an seinem Kennerblick. Er sieht so etwas sofort. Er hat ein Hirn wie Sherlock Holmes. Schnee. Autos unter Schnee. Schneefall. Eine reine Logikkette, die dem observierten Gegenstand keine Chance lässt.
Gestern war ja wieder so ein Scheißtag, an dem er sich in Literatur versucht hat. Solche Ausfälle kommen vor, sie ereignen sich, sie treten vor ihn hin und ziehen ihn an seinem Ohr an sich hoch. Meist hat er das Falsche gelesen. Das liegt schwer im Hirn, er muss es erst ausscheiden.
Seine Frau schläft noch, auch der Adler, den er in einem Käfig hält. Es ist ein Bonsaiadler, den er von einem Japaner gekauft hat. Die Bonsaiadler bekommen täglich ihre Flügel und ihre Träume gestutzt. Jetzt sitzt der Bonsaiadler auf seiner Stange und schnarcht.
Das Kind ist fort, bei ihrem Vater, der mit einer Artistin zusammenlebt. Das arme Kind muss, wenn es dort ist, die verrücktesten Nummern einstudieren. Man hat sich daran gewöhnt, und wer weiß, vielleicht springt dabei eine Karriere in einem Zirkus raus. Irgendwas muss ja aus dem Kind werden. Momentan geht es zur Schule und studiert absurde Fächer wie Mathematik und Deutsch. Glock schüttelt sich bei dem Gedanken daran. Es ist ekelerregend, was sie den Kindern heutzutage zumuten.
Sonntagmorgen und Glock trinkt seinen Morgenkaffee, diesen sauteuren Möwenshit-Kaffee. Der zischt. Er will gerade zum nächsten Schluck übergehen, da hört er den Bonsaiadler unter seiner Tuch. (Sie decken den Käfig mit einem sogenannten Nachttuch ab. Egal, wo man das Tuch drüber legt, es wird Nacht darunter. Der Bonsaiadler ist natürlich nicht völlig verblödet und hört das Schmatzen und Tippen vom Glock. Da sagt sich der Bonsaiadler: Ist bestimmt Morgen, denn sonst würde der Mensch nicht schon wieder vor meinem Käfig sitzen und seinen Kaffee trinken. (Kleine Nebenbemerkung: Der Adler heißt Frederike.)
Sie wedelt aufgeregt mit ihren gestutzten Schwingen, bis Glock das Nachttuch zur Seite zieht. Das tut er wie ein Magier, ein Zauberer. Er lässt Musik einspielen, seine Frau muss in wenig Klamotten erscheinen und dumm lächeln. Sie gehen um den Käfig rum, drehen ihn mehrmals, bis dem Adler ganz schlecht ist und er fast kotzen muss. Kurz bevor das geschieht, ziehen sie das Nachttuch mit einem Tusch weg und präsentieren ihm den erstaunten Wänden. (Kein Beifall, sind ja nur Wände.) Erst dann beginnt für den Bonsaiadler der Morgen. (Der Adler bzw. die Adlerine hasst es. Im Folgenden werde ich mich auf den Terminus AdlerInnen beschränken, um mich nicht einem Wust empörter Briefe auszusetzen, die unweigerlich folgen, wenn die Sprache nicht den Umständen Tribut zollt.)
Inzwischen, wir beschreiben das Leben des unvergleichlichen Glock ja in Echtzeit, hat sich seine Frau an ihm vorbeigeschlichen. Sie sitzt in der Küche und trinkt ihren Cappuccino, der nicht von Möwenshit ist. So viel Geld haben sie nicht. Sie liest in einem Thriller von Sebastian Fiereck mit dem Titel „Der Zwiebelringsammler“. Glock kann Fierecks Romane nicht ausstehen. Manchmal, wenn seine Frau nicht da ist, schlendert er wie beiläufig an einem Exemplar vorüber und bespuckt es. Eins hat er auch schon spurlos verschwinden lassen. Es fiel nicht weiter auf.
Mit einem Blick über die Schulter stellt Glock fest, dass draußen keine Schmelze eingesetzt hat. Trotzig liegt der Schnee in der Gegend rum. Dem müsste mal einer Feuer hinter dem Hintern machen, denkt Glock.
Aber dafür hat er jetzt keine Zeit, weil er an einer neuen Geschichte schreiben muss, die über einen Mistralzweig. Unter dem Mistralzweig müssen sich die Menschen küssen. Ihre Lippen berühren sich nie, weil die Böen, die der Mistralzweig aussendet, derart stark sind, dass sie jeden mindestens vier Kilometer weit wegwehen.
Seine Erzählung wird alles bieten: Wind, Häuser, Flüsse, ein Paar, das nicht zusammenkommt, ein Hund, der sein linkes Auge verliert. Er wird sie „Unter dem Mistralzweig“ nennen. Das ist wenigstens nicht so eine Scheiße, wie sie Fiereck schreibt. (Es gibt da auch noch diesen Konkurrenten in seiner Heimatstadt. Sein Name ist Nullmann Ziegel. Glock ist ihm noch nie begegnet, aber er kann ihn nicht ausstehen. Nullmann schreibt unter dem Pseudonym Wim Holz Comedy-Romane. Nullmann schreibt für Geld alles. Glock besitzt bereits ein geladenes Jagdgewehr, sollte ihm Nullmann mal über den Weg laufen.)
Dafür und für andere Feindschaften hat er jetzt keine Zeit. Die Meistererzählung „Unter dem Mistralzweig“ muss auf den Weg gebracht werden. Glock grübelt. Der erste Satz ist besonders wichtig. Sex kann darin vorkommen. Er könnte schreiben: „Nachdem die Hüpfburg eingenommen war, bereitete sich Ritter Hüfte auf einen Kuss unter dem Mistralzweig vor. Er ging zur Prinzessin und sprach: „Komm schon holdes hünenhaftes Großgeschöpf. Folge mir unter den Türbogen im Tal der Vergebung. Dort hängt ein Mistralzweig, unter dem du mich küssen musst. Außerdem darf ich dich anschließend schänden, ohne, dass du Beschwerde führen darfst, Dauergelockte!“ Ritter Hüfte rieb sich die schweißigen Hände und schritt knirschend zur Tat. Er kam der Rüstung wegen nur sehr langsam voran. Er wirkte fast verlegen. Außerdem musste er mal.“
Glock wird mit dieser Hammerstory alle Preise, die es gibt, gewinnen. Ist das erst geschehen, wird er sich vom Geschäft zurückziehen.
Nach dem ersten Absatz unterbricht er sich und geht mal eine rauchen. Er schüppt sich einen Platz fei, auf dem seine Füße stehen können. Eine kleine Insel im Eismeer. Mann, denkt Glock, es ist erst Sonntag und er sehnt sich bereits nach dem nächsten freien Wochenende.
Ein Windzug rattert haarscharf an seiner Nase vorbei, schrammt sie und kommt quietschend zum Stehen. Hier ist ja was los, denkt Glock und begibt sich in den Innenteil der Wohnung, um weiter an seinem nächsten Meisterwerk zu schreiben. Die Frau liest noch, der Adler ist noch unter dem Nachttuch. Die Wohnung liegt in Lauerstellung. Wenn er nicht aufpasst, wird sie ihn reißen, sie wird ihn zerfetzten, kurz und klein wird sie ihn beißen. Er blickt sich argwöhnisch um und springt auf seinen Platz an der Schreibmaschine. Da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Keine Schreibmaschine. Ein Computer. Die Moderne hat Einzug gehalten. Glock jubiliert innerlich und still, damit es niemand bemerkt. Am Ende will seine Frau auch noch an den Computer.
Still und leise, so wie ein Mäuschen auf Brautschau, tippt er seine Geschichte und freut sich des sonntäglichen Lebens.
Es ist alles so wundervoll. Man muss es nur beschreiben können, so wie unser Glock, der großzügig Buchstabe um Buchtstabe in die Freiheit seiner Geschichte entlässt. Großmut ist ihm ein unbedingtes Begehr.
Arrogant und doch der Welt zugeneigt, beendet er seine Geschichte „Unter dem Mistralzweig“ mit einem Punkt. Morgen wird er sich wieder um die Weltliteratur kümmern. Für heute aber reicht es ihm.