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Mischmasch

Die Fabrik der Tortenmädchen

Ich teilte heute meinen Eltern mit, dass ich Privatdetektiv werden will. Eigentlich teilte ich es nur meinem Vater mit, da Mutter vor Jahren verschwunden ist. (Vielleicht will ich deshalb Detektiv werden. Freud würde von einem „auf die mütterliche Vagina abzielenden Berufswunsch“ reden. Ich hoffe, sie irgendwann wohlauf bei einem Tortenwettessen zu finden. Mutter liebt Torte. So sehr, dass es sein kann, dass ein gemeiner Verbrecher sie damit in sein Auto lockte. In London verschwinden immer wieder Frauen, die eine Vorliebe für Torte haben.)
„Ich werde Privatdetektiv“, sagte ich zu meinem Vater.
Er schlang gerade sein Abendessen hinunter, und das, obwohl es früher Morgen war. Vater ist Exzentriker.
„Was?“, schrie er und hielt seine rechte Hand an sein linkes Ohr. Solche Bewegungen muss er als Vorsitzender des örtlichen Exzentriker-Clubs machen. (Er ist außerdem schwerhörig, daher das laute „Was?“)
„Privatdetektiv?“
„Schief? Was ist schief?“
Ich überlegte rasch, wie ich mich ihm mitteilen könnte. Mein übermäßig großes Hirn arbeitete fieberhaft.
„Privatdetektiv!“, schrie ich lauter.
„Brief? Ich habe keinen Brief. Oder hast du einen Brief, James?“
James ist der Butler meines Vaters, der ebenfalls schwerhörig ist und daher erst gar nicht auftauchte. James erscheint seines Leidens wegen nur sehr selten. Meistens sitzt er in seinem Zimmer und sieht sich bei voller Lautstärke Talksendungen an.
„James ist nicht da!“, brüllte ich.
„Nichte? Du hast keine Nichte!“
„Nicht Nichte. James ist nicht da, und ich möchte Privatdetektiv werden.“
Mein Vater sah mich erstaunt an. Dann lief er puterrot an. Er griff sich nach dem Hals, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Geschult in allen gymnastischen Übungen, machte ich blitzschnell eine Rolle vorwärts, einen Handstand, noch eine Rolle vorwärts, bis ich bei Vater war, um ihm eine Backpfeife zu verpassen.
Vater hustete und spuckte ein Stück Fleisch, groß wie meine Hand, auf den Tisch.
„Warum willst du mit James durchbrennen?“, keuchte er.
„Nein, das will ich gar nicht“, versuchte ich ihm zu erklären. „Ich will Privatdetektiv werden.“
Vater schüttelte traurig den Kopf und murmelte: „Das hätte deine Mutter nicht gewollt.“
„Was? Dass ich Privatdetektiv werde?“
„Dass du deinen armen Vater so ausbrüllst.“

Aus Urs Schliepers „Die Fabrik der Tortenmädchen“, Krimi in Tagebuchform

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Die Motterplage

Wenn der Vater mit dem Sohne …

Buch 003

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Mischmasch

Pflaumenbaums Abschied III

Pflaumenbaum saß im Schneidersitz auf einem Kissen, als sein Vater ins Zimmer trat. „Willst du in den Park? Oder wollen wir aufs Land fahren?“ Pflaumenbaums Vater hätte es besser wissen müssen. Der Junge umschloss sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und überlegte. „In den Park“, murmelte er. „Oder doch lieber aufs Land?“ Diese eine Frage führte dazu, dass man Pflaumenbaum für Wochen aus der Schule nehmen musste. Fiebernd lag er in seinem Bett, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, bis sein Vater von einem Herzschlag dahingerafft wurde. Eine Tatsache, die der unentschlossene Pflaumenbaum mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nahm. Nicht, dass er seinen Vater nicht geliebt hätte. Aber so war er um die nicht zu treffende Entscheidung doch noch einmal herumgekommen.

Aus „Pflaumenbaums Abschied“, Roman, vergriffen

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Werkstatt

Der Drogenbaron (Der abgeschlossene Kurzkrimi)

Mama erzählt: Bevor dein Vater dich zeugte, war er ein berühmter Detektiv. Er war so berühmt, dass er nie das Haus verlassen konnte. Überall standen Fotografen, um ein Bild von ihm zu schießen. Und weil er das Haus nie verließ, verblasste allmählich sein Ruhm. Er löste ja keine Fälle mehr. Nicht einen.

Um sich abzulenken, schmuggelten wir ihn in einem Koffer an den Flughafen. Wir buchten ihm einen Flug nach Teneriffa.

Als er dort ankam, schwitzte er so fürchterlich, dass er sich wünschte, nie sein Haus in Osthessen verlassen zu haben.

Er fuhr mit einem Taxi vom Flughafen zum Hotel.

„Ich möchte ein schattiges Zimmer.“

Man gab ihm ein Zimmer, das im Schatten eines Krematoriums lag. Tag und Nacht verbrannte man dort die Leichen. Der Gestank setzte sich in seine Nase, bis er der Meinung war, die Toten sprechen zu hören.

Nach drei Tagen fühlte er sich derart von den Toten belästigt, dass er sich in die Hotelhalle setzte, um die dort ausliegenden Zeitungen zu studieren. Leider konnte er kein Spanisch, sodass er sich Inhalte ausdachte.

Die Berichte drehten sich meist um Mord und Totschlag. Es juckte ihn in den Fingern. Er wollte einen Fall lösen. Detektive müssen das, dachte er.

Er drehte seinen Kopf und verdächtigte augenblicklich den Empfangschef, ein weltweit gesuchter Drogendealer zu sein. Um seine Theorie zu untermauern, beschattete er den ahnungslosen Mann fortan Tag und Nacht.

Am Abend fuhr der Empfangschef nach Hause zu seiner Frau, die in einem kleinen Haus am Rand der Hauptstadt wohnte. Die Tarnung des Empfangschefs schien perfekt zu funktionieren. Niemand verdächtigte ihn, niemand ahnte, dass in seinen Blutbahnen das Böse tobte. Nur dein Vater wusste davon.

Er mietete sich zur Untermiete bei dem Empfangschef ein, der so tat, als würde er den Gast aus Zimmer 23 nicht erkennen.

Um näher an den Drogenboss heranzukommen, lud sich dein Vater selbst ein.

Er tat so, als sei er kurz vor dem Verhungern, obwohl er das gar nicht war. Er hatte einen Rucksack voller Süßigkeiten dabei.

Sie sahen sich gemeinsam Fußballspiele an. Dein Vater wartete den idealen Moment ab, um den Drogenbaron verhaften zu lassen. Aber noch fehlten ihm die Beweise.

Allmählich ging ihm sein Geld aus. Er rief mich an und ich überwies ihm dreihundert Mark, die er in Drogen anlegte, um sie dem Drogenbaron unter das Kissen zu stecken. Dann rief er die Polizei. Man fand die Drogen und verhaftete den Mann, der nicht wusste, was er gemacht haben sollte. Dein Vater war mehr als zufrieden, endlich wieder einmal einen Fall gelöst zu haben.

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Der Autor, den sie Horse nannten

Sonntag

Ich habe meinen ersten Roman mit sieben Jahren geschrieben. Oder war ich drei? Meine Eltern waren daran schuld. Sie verlangten, dass ich einen Roman schreibe. „Wenn du keinen schreibst, werden wir dich ins Waisenhaus geben müssen“. Das zog. Ich setzte mich also in meinen Laufstall und dachte über den widersinnigen Charakter dieses kleinen Korbs nach. Innerhalb von wenigen Tagen schrieb ich „Im Laufstall“, der von einem Baby handelt, das zum Tode verurteilt wird, weil es nachts jagt auf andere Babys macht. Die Fahndung läuft auf Hochtouren. Die Polizisten observieren alle Laufställe der Umgebung. Sie fahren mit ihren Bobby-Cars Streife, bis sie das Mörderbaby auf frischer Tat erwischen. Sie buchten es ein.

Es wurde ein großer, tragischer Roman, der sich mit Themen wie Schuld und Unzurechnungsfähigkeit auseinandersetzte.

Kein Verlag wollte ihn haben, also brachte ihn mein Vater im Eigenverlag heraus. Er kopierte die eine Seite und verkaufte sie direkt vor unserem Haus. Er ließ meine Geschwister Plakate malen, auf denen zu lesen stand: Schocker, Bluttriefend, Gewalttätig. Die Leute rissen ihm meinen ersten Roman, der, obwohl er nur eine Seite kurz war, siebenundneunzig Kapitel aufzuweisen hatte, aus den Händen. Sie schleppten ihn nach Hause. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich zum Star der Literaturszene unserer Straße. Es kamen sogar Familien aus anderen Vierteln, um mich beim Kuchenbacken im Sandkasten zu beobachten. Sie konnten gar nicht glauben, dass ein so normales Kind einen solchen Roman schreiben konnte. Die Sprache wäre ausgefeilt. Das stimmte. Ich hatte dazu die Nagelfeile meiner Mutter benutzt. Hatte sie stundenlang über die einzelnen Buchstaben gezogen, bis nichts mehr zu erkennen war. Ich schrieb den ersten fantastischen Roman der Familie, einer, der die Fantasie anregte, weil jeder – dank meiner Feile – etwas anderes las. Eine ganz neue Form der Literatur. Die Gesprächsrunden an der Tischtennisplatte gerieten schnell außer Rand und Band. Es kam zu Schlägereien zwischen den Kritikern, weil jeder einen anderen Text gelesen hatte.

Rasch forderten meine Eltern Nachschub. Ein solcher Erfolg musste wiederholt werden. Sie schlossen mich in meinen Laufstall. Sagten: „Du kommst hier erst wieder raus, wenn du einen zweiseitigen Roman abgeliefert hast.“ Zwei Seiten. Wie sollte ich das schaffen? Ich konnte erst acht Buchstaben malen. Das war zu wenig für zwei Seiten. Schweiß tropfte von meiner Stirn. Weichte die Papiere ein.

Es war mein Vater, der meine neue Technik zuerst entdeckte. „Jetzt schreibt er mit Schweiß!“ Er hielt das nasse Papier triumphierend in die Luft. Die Kopien wurden von meinen Geschwistern vollgeschwitzt. Mein nächster Megaerfolg. Ein Schweißroman.

Den Rest der Geschichte kennen Sie! „Blut ist ein Fluss„, „Blutschneise„. Titel, die längst in jedem deutschen Wohnzimmerschrank zu finden sind.

Guten Morgen, Welt!

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Die Stimmen

Die Stimmen (5)

Samstag 17. August 2013

Ist er erwacht, niest er. Eine Allergie, und manchmal denkt er, dass es eine allergische Reaktion auf den Tag sein könnte. Die Pollen des Lebens kriechen in seine Nase, diese kleinen Pollen, die in der Luft umherschwirren, die von den Autos stammen, und vom Licht, und natürlich muss er über sich selbst lachen.

Nach dem Aufstehen folgt er einem Weg, der sich täglich gleicht. Der Flur müsste an diesen Stellen ganz ausgetreten sein. Er geht von der Küche, wo er die Kaffeemaschine anschaltet, hinüber ins Esszimmer (das auch als Arbeitszimmer dient), das Teil eines großen Bereichs ist, der aus Wohn- und Esszimmer besteht, und beugt sich nach unten, um den Rechner hochzufahren. Ist das erledigt, schlurft er auf den Balkon, um dort eine Zigarette zu rauchen.

Er raucht jetzt schon lange, viel zu lange, bestimmt schon seit seinem sechzehnten Geburtstag, und er wird diesen Monat noch dreiundvierzig, höchste Zeit also, denkt er, aufzuhören. Er will nicht sterben, auch wenn es Phasen in seinem Leben gab, wo es ihm egal gewesen wäre. (Ob es das dann wirklich gewesen wäre, kann er nicht beantworten. Man kann das Sterben nicht ausprobieren, man kann es nicht überstreifen und sagen: Das passt mir nicht. Es gibt verschiedene Größen. Gefallen wird einem vermutlich keine. Es gibt den Herzinfarkt, ein Kostüm, das rasch an- und abgelegt wird. Es gibt aber auch die verschiedenen Krebsgrößen, lauter Tücher, in denen man sich verfängt, bis man Panik bekommt.)

Er denkt an diesen Roman von Vonnegut, der in der deutschen Übersetzung den Titel ZEITBEBEN trägt. Gibt es so etwas? Ja, und ob, denkt er. Er hat es doch erlebt, als sein Vater starb. Es war zu einem Zeitbeben gekommen, weil er dachte, die Welt müsse den Atem anhalten. Die Welt nahm vom Tod seines Vaters keine Notiz. Sie sprang mit der gleichen geschäftigen Miene, die sie täglich aufzusetzen pflegt, durch die Innenstadt. Und während er auf einer Bank saß – und die Trauer ihn und sein Zeitempfinden lähmte -, rannten die Menschen an ihm vorüber. Es war, als würde er in einer Zeitblase hocken, in einer Seifenblase, in der der Sekundenzeiger sich mühsam wie ein alter Mann über die Uhr quälte, während auf den Uhren der anderen ein Jogger befestigt war, dem es gar nicht schnell genug gehen konnte.

Damals hatte er ein Zeitbeben erlebt. Die Zeit war durch den Tod erschüttert worden, und während er sein Zeithaus zerstört hatte, sodass er sich plötzlich von einem Augenblick zum anderen ohne ein Dach über dem Kopf wähnte, war das der Nachbarn unberührt geblieben. Dabei wird niemand vor den Zeitbeben verschont.

Er überliest seinen heutigen Tagebucheintrag.

Ein bisschen viel Tod für einen Samstagmorgen, denkt er. Die Sonne scheint, der Wellensittich erwacht. Er meldet sich mit zaghaften Tönen. Ein Quietschen, wie man es aus den alten Folgen mit den Waltons kennt, die er sich als Kind ansah. Der Vogel hört sich wie die Hupe eines dieser alten Autos an.

Ein bisschen viel Tod, denkt er. Auf der anderen Seite, sollte man ihn nicht außer Acht lassen, denn er ist die feste Größe, an der wir all unsere Handlungen messen sollten.

Wenn er etwas hasst, sind es pathetische Gedanken. Diese hehren und großen Gedanken, die, niedergeschrieben, bereits eine traurige Lächerlichkeit zum Ausdruck bringen. Man kann sie ebenso wenig wie Pornofilme karikieren, man kann sie nicht ironisch überzeichnen, weil sie das bereits selber tun. Sie haben ihre eigene Satire schon im Gepäck.

Also überliest er sich. Lachen kann er nicht.

Mist, denkt er.

Sein Kaffee ist leer. Zeit, den Tag anzugehen.

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Funkenmariechen des Todes

Dienstag

Schon früh brachte mir mein Vater bei, dass alles, was man wissen müsste, in den Tagebüchern der berühmten Schriftsteller zu finden sei; ja, er verlangte, wenn ich auf Reisen ging, dass ich stets die zehn Bände der Thomas-Mann-Tagebücher mit mir zu führen habe, um so allen Gefahren und Widrigkeiten trotzen zu können.

Verließ ich doch einmal das Haus, ohne die Bücher in einem Karren hinter mir her zu zerren, brachte er sie mir eilenden Schritts, konnte und wollte er doch kein Kind großziehen, das ohne die Worte der Tagebücher aufwuchs. Man müsse Respekt vor den Leben dieser Titanen haben, sagte er mit dunkler Stimme, einer, die in der Lage war, die verschiedensten Farben von Blau bis Rot anzunehmen.

Stundenlang saßen wir in der Küche und tranken das Leben Jack Londons nach, jede Drink-Passage seines alkoholreichen Lebens wurde von uns nachgespielt.

Von den Schriftstellern lerne man die Kunst der Übertünchung, erklärte er mir, während sein Finger durch die Luft fuhr und Schlösser und Bauernhütten malte. Mein Vater erzählte mir von russischen Revolutionen, von gallischen Dörfern, von den Spielsüchten, die er mir empfahl, denn was ein großer Geist wie Dostojewski durchexerziert hatte, sollte von mir nicht links liegen gelassen werden.

Auch durfte ich nicht wie die anderen Kinder umherlaufen. Ich musste im Frack und Zylinder auftreten, musste stinken, um den Geruch der Armut auszustrahlen, um ihn in die Leute hineinzutragen, die sich weiter und weiter von mir entfernten. So durchquerte ich meine Kindheit angetrunken, in altmodischer Kleidung, die Tagebücher Thomas Manns im Gepäck.

Missachtet und ausgestoßen, wurde ich zum Stadtheiligtum der Trunkenbolde und Verlierer, die sich täglich vor einem Kiosk versammelten, um den vertanen Chancen ihres Lebens bierselige Tränen hinterher zu weinen. Sie nahmen mich auf und versorgten mich. Sie erzählten mir von ihren Erfindungen, die sie auf die Bierdeckel malten, von ihren Berechnungen, die herausgefunden hatten, wo Gott zu finden ist und wie sein Name lautet. Alles wussten diese vergessenen Männer, die von der Gesellschaft an den Rand gedrückt worden waren, nur nicht, wie man sich die Schuhe band, und als ich ihnen dies eines Tages vorführte, da stellten sie mich in ihre Mitte und ernannten mich zu ihrem Anführer. Sie baten darum, mich anbeten zu dürfen, aber ich verweigerte ihnen diesen entsetzlichen Akt archaischer Barbarei. Stattdessen las ich ihnen aus den Tagebüchern vor, ich erzählte ihnen von Jack London und wie er sich zu Tode gesoffen hatte. Ich zeigte ihnen die warnenden Beispiele der Schriftsteller auf, die sie die Gläser absetzen ließen. Ja, tatsächlich wendeten sich mache vom Alkohol ab und kehrten in den Schoß der Gesellschaft zurück.

Stolz erzählte ich meinem Vater davon, der mir den Kopf tätschelte und meinte, das habe ich gut gemacht. Aber ich solle ich mich jetzt nicht zu lange auf meinen Lorbeeren ausruhen. Selbstzufriedenheit ist die Mutter aller Untergänge, flüsterte er mir ins Ohr und schickte mich weiter auf Tour, weil es jeden Tag etwas zu erledigen gab. Mal benötigten wir Butter, mal eine Scheibe Brot. Und so sah man mich durch die Stadt trotten, mich und meine Tagebücher, die allen, die nicht so werden wollten, Warnung waren, wie ein Leben einzurichten ist, will man es nicht im völligen Irrsinn verleben.

Und auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sei mein Beispiel fortan die rote Fahne, die die Grenze markiert, die Sie nicht überschreiten sollten.

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Funkenmariechen des Todes

Besatzungsgebiet

Zacharias kann nicht glauben, was er sieht, als er durch die Türöffnung schreitet. Tausende von Menschen aller Altersstufen drängen sich im Eingangsbereich. Es stinkt! Es wird geweint! Es kann sich hier nur um die Eingangshallenbesetzer handeln, von denen er erst kürzlich in der Zeitung las. Sie ziehen von Hochhaus zu Hochhaus, stets in der Hoffnung einen Heimathafen für ihre müden Leiber zu finden. Nirgendwo sind sie willkommen. Sie sind Wanderer, die seit ihrem Auszug aus der Heiligen Eingangshalle, die als Mythos von Mund zu Mund gereicht wird, sich vom Wind der Geschichte durch die Straßen der Stadt wehen lassen. Und nun sind sie also hier angekommen, ausgerechnet in diesem zum Untergang verdammten Hochhaus, in dessen 400. Stock der Privatdetektiv Zacharias seine Wohnung hat. Er blickt sich erschrocken um. Ein Kind wird zur Welt gebracht. Noch eins, und dann noch eins. Schlägereien. Ein paar der Besetzer haben eine Bar aufgemacht, andere behaupten, Gold gefunden zu haben. Sofort stürzen sich Hoffnungslose auf ein kleines Rinnsal und schöpfen Mut.

Wie soll ich denn hier durchkommen, fragt sich Zacharias. Oder sollte das etwa der Tag sein, von dem sein Vater Herr so oft gesprochen hatte? „Du wirst irgendwann eine Wohnung aufgeben. Einfach so. Glaube mir.“ Und dann hatte Vater Herr gelacht. Das war damals gewesen, kurz vor ihrem Überfall auf einen Juwelier, der so kläglich scheiterte. Der Clown hatte seine Wasserpistole geladen. Und dann …?  Alles war schiefgelaufen. Vater Herr und der Clown waren erschossen worden. Zacharias hatte fliehen können. Gerade eben so. Und dann hatte er sein Leben geändert. Er war zu dem Privatschnüffler geworden, der er heute noch ist. Gut lief sein Leben nicht. Ständig pleite, Aufträge, die er nicht zu Ende führte, eine Frau, die ihn wegen ausstehender Unterhaltszahlungen auf die Todesliste „Todesliste, auf der jene stehen, die keinen Unterhalt zahlen“ hatte setzen lassen. Kopfgeldjäger hatten sich auf seine Spur gesetzt. Sie hatten ihn quer durch den Großstadtdschungel gejagt, und dies mit ihren tödlichen kleinen Pfeilen. Zum Glück hatten sie ihn bisher nicht erwischt, dafür ahnungslose Passanten, die ihr Leben vor einer Imbissbude oder einem Kaufhaus lassen mussten. Die Städtischen Totenwerke hatten sich sofort um die Leichen gekümmert. So etwas konnten die Stadtoberen nicht ausstehen: Leichen, die in der Gegend herumlagen. Das war Umweltverschmutzung. Eine Zeitlang war es Mode gewesen, dass jeder seine Leiche dort fallen ließ, wo er gerade stand. Die Stadt drohte in Leichen zu versinken, bis man beschloss, Ordnungskräfte zu entsenden, die jedem, der eine Leiche achtlos wegwarf, zwanzig Euro abknöpften. Das war viel Geld. Niemand wollte es bezahlen. Es kam zu Streitereien mit den Geldeintreibern. Schüsse fielen. Weitere Leichen kamen zu den alten Leichen dazu. Man kam gegen die Umweltverschmutzer nicht an. Und was tat man? Man entsandte Bagger, die die Leichen von der Straße schaufelten, damit man nicht alle paar Meter über eine stolperte. Man brachte Leichensäcke an, bat die Menschen, wenn sie schon töteten, ihre Opfer doch wenigstens in den Müll zu werfen. Aber selbst dazu brachte man sie nicht.

Alles, denkt Zacharias, wird hier irgendwann im Chaos versinken.

Jemand stößt ihn an. Man fordert ihn auf, seine Ausweispapiere zu zeigen. Das sei ab sofort eine Heilige Eingangshalle. Man habe sie besetzt. Hier dürften sich einzig Flüchtlinge aufhalten. Ob er denn ein Flüchtling sei? Man verlange seinen Flüchtlingsausweis.

Zacharias blickt die als Soldaten verkleideten Flüchtlinge überrascht an.

„Ich habe keinen Ausweis“, sagt Zacharias schließlich.

Die Auskunft genügt ihnen. Das sei Beweis genug, dass er ein Flüchtling sei. Kein Flüchtling habe einen Ausweis, das wisse ja schließlich jeder Flüchtling, daher müsse es sich bei ihm um einen Flüchtling handeln. Er könne dort rüber. Die Soldaten zeigen in Richtung einiger Köpfe. Dort sei das Auffanglager. Dort könne er erst einmal unterkommen. Er müsste jetzt reisen, weil die Reise beschwerlich sei und mindestens ein halbes Jahr andauere. Ob er denn genügend Proviant habe?

Zacharias hört schon längst nicht mehr hin. Er stolpert nach hinten. Nur raus hier, weg hier. Sein Vater Herr hatte recht. „Du wirst irgendwann eine Wohnung aufgeben. Einfach so. Glaube mir.“

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Funkenmariechen des Todes

Fernsehhymne

Nach dem Abwasch, den mein falscher Vater erledigte, trieben wir uns vor dem Fernseher herum. Wir sahen uns wahllos alles an. Sendungen über Säbelzahntiger, über Menschen, die sich den ganzen Körper tätowiert hatten. Wir saßen stumm vor der Glotze und staunten uns Löcher in die Bäuche.

Die Welt war so groß, so unendlich riesig, und alles lag nur einen Druck weit entfernt. Der Daumen versenkte sich im weichen Gummipolster der Fernbedienung und schon befanden wir uns in einem Gericht in Nordkorea. Man musste nicht verreisen, wenn man einen Fernseher besaß, weil der Finger und die Augen, in Aussparung des Hirns, alles betreten konnten, wovon man nur träumte, sogar die Zukunft. Dabei gab es die momentan nicht einmal.

Die Stunden flossen an uns vorüber, ohne dass wir sie sahen. Wir achteten nicht auf die Umgebung, weil wir in einem Tunnel feststeckten, der mit einem Meer aus Bildern illuminiert wurde.

Erst gegen Mitternacht ließ Falsch-Papa die Welten versinken, indem er den Fernseher ausschaltete.

„Geh jetzt ins Bett!“, bellte er mich an.

Mit gesenktem Kopf schlich ich mich aus dem Wohnzimmer. Die Welt war ohne Fernseher so viel ärmer. Karge Wände, die mich um etwas Farbe anbettelten.

Ich verwies sie auf den Fernseher. Stumm blieben sie stehen. Es waren eben nur Wände.

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Funkenmariechen des Todes

Wo Gott einen Tischfußball aufstellt, da muss er mitten unter den Menschen sein

An Sonntagen geht der Fuldaer in die Kirche. Früher war das so. Der Vater streifte sich seinen Mantel über, klopfte ihn ab, als müsse er sich selbst auf Schusswaffen untersuchen. Er nickte seiner Frau zu, die das verstand, obwohl sie es nie verstand. Es war ein sonntägliches Vor-der-Kirche-Nicken, das der Vater schon bei seinem Vater beobachtet hatte, und der bei seinem Vater. Die ganze Ahnenkette hinunter bis zum ersten Vater haben sie ihren Frauen zugenickt, die es mit einem stoischen Blick hinnahmen. Es wird schon etwas bedeuten, werden sie alle gedacht haben. Nie hat das Nicken etwas zur Folge gehabt. Warum also nachfragen, wo es sich so offensichtlich um einen genbedingten Defekt handelt.

Man ist dann zur Kirche gewallt. Der Vater mit seiner Frau, vor ihm die Kinder, damit man sie ihm Blick hat. Ein Kind ist eine Gefahr für einen Kirchgang. Stets kommt es auf eine dumme Idee, stellt es sich wie ein Kind an, sodass der Vater dem Kind, wenn es nicht hört, eine Gemeinheit ins Ohr flüstern muss, damit es spurt. So ein Kind, beobachtet man die Erwachsenen, kann nicht von Gott erfüllt sein, denn der macht die Glieder seiner Gläubigen steif. Er lässt sie ernst dreinblicken. Wenn man sich die Katholiken ansieht, muss man davon ausgehen, dass Kinder nicht im Plan Gottes vorgesehen waren. Es muss sich bei ihnen um einen Fehltritt handeln. Um eine Prüfung. Um einen Streich. Gott muss an dem Tag, als er die Kinder erschuf, einen über den Messwein getrunken haben. Sonst hätte der Katholik (ein Wort, das wie nach krampfartigen Darmschmerzen klingt) nicht so ein Problem mit ihnen. Und das er da einen Handlungsbedarf sieht, kann man inzwischen beinahe wöchentlich in einer Zeitung lesen. Die ganzen sexuellen Übergriffe, das ist ein schlimmes Thema.

Keins für einen Sonntag. Denn der ist heilig, auch wenn ich selbst längst aus der Kirche ausgetreten bin, nicht aus einem bestimmten Gebäude, sondern aus der Glaubensgemeinschaft. Jetzt bin ich draußen, und ich höre schon welche vor meinem Rücken laut reden, dass es kein Wunder sei, dass ich solche Verleumdungen über den Katholiken aufschreibe, wo ich als Ehemaliger bestimmt noch eine Rechnung offen habe. Das ist Unsinn, weil ich mich als Kind wohl gefühlt habe im Schoß der Kirche, die bei uns mit einem Tischfußball ausgestattet war. Wo Gott einen Tischfußball aufstellt, da muss er mitten unter den Menschen sein.

Die Zahlen der praktizierenden Kirchgänger, der Mitglieder, die ihren Beitrag vom Staat eingetrieben bekommen, schwindet, da muss man nicht mal mehr genau hinsehen. Die Kirchen werden leerer, auch die in Fulda. Ein Wunder ist das, zumal Gott hier mindestens seinen Zweitwohnsitz hat. Hier werden beinah wichtige Entscheidungen von der Bischofskonferenz getroffen. Auch die, dass es keine Rückkehrmöglichkeit für gefallene Engel wie mich geben darf. Ausgetreten ist ausgetreten. Recht so. So ein Glaube ist ja ein tiefempfundenes Gefühl, und kein Schluckauf, der vergeht, wenn man sich erschrecken lässt oder die Luft anhält. Hat man sich erst einmal, wie ich das tat, dazu entschlossen, den Pfaden Satans zu folgen, kann man mich nicht in geweihter Erde begraben. Das würde den gesamten Friedhof verseuchen. Am Ende sickert das Böse von Sarg zu Sarg und infiziert die selig Gestorbenen. Große Gefahr.

Jetzt war ich heute Morgen eine Zigarette auf dem Balkon rauchen. Das mache ich so nach dem Aufstehen. Das kommt – wer weiß – von meinem Kirchenaustritt. So ein gesundheitsschädliches Verhalten könnte eine Spätfolge sein. Wie ich da auf dem Balkon stand, blickte ich mich um, und sah lauter Fenster, bei denen die Jalousien noch unten waren. Die Autos standen vor den Häusern. Keine Bewegung auf der Straße. Da kam mir der Gedanke, dass die alle hier nicht zur Kirche gehen. Das mag natürlich Zufall sein. Einer der undurchsichtigen Winkelzüge Satans, der mich in eine Straße hat ziehen lassen, in der sich sämtliche Fuldaer Kommunisten und Atheisten sammeln.

Es könnte auch sein, dass der Glaube Probleme hat. Selbst hier bei uns. (Das Unterhaltungspotential ist flöten gegangen. Früher hat Bischof Dyba wenigstens noch im Minutentakt die Glocken wegen irgendwelcher Verfehlungen läuten lassen. Krach schlagen, war seine Devise. Und heute? Man hört nichts. Nicht mal eine Castingshow, um sich des Problems des schwindenden Priesternachwuchses anzunehmen, ist geplant.)

Ich muss das jetzt abbrechen, weil ich mich um meinen Kaffee kümmern muss.

Wir lesen uns, so Gott will.

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Guldaer Notizen (2)

Mit großen Augen, Meeraugen, in denen man ersaufen möchte, stehen die Kinder unter dem Geweih, das der Vater vor einigen Tagen im Wohnzimmer an der Wand anbrachte. Zahllose bunte Päckchen liegen darunter.

Nur wenige Stunden noch, dann werden die Kinder das Papier hastig, mit Schweißperlen auf der Stirn, von den Geschenken reißen, um es zu falten und zu bewundern. „Seht her!“ wird ein Blondschopf rufen, dem ein rotes Papier mit Goldsternen Tränen in die Augen schießen lassen wird. Die Pappschachteln, leer, da sie nur für das Papier gekauft wurden, werden zurückbleiben, bis der Vater sie einsammeln und wegwerfen wird.