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Die Fabrik der Tortenmädchen (Eine weitere kostenlose Leseprobe)

Mein Name ist Dr. Mouse. Sie sollten mich wegen meines Namens nicht unterschätzen, und auch nicht wegen meiner Größe. Wem auch immer mein Tagebuch dereinst in die Hände fällt – vermutlich wird man es in einem Museum, das zu meinen Ehren errichtet wurde, ausstellen -, sollte sich klar machen, dass meine Größe nicht daran schuld ist, dass ich zu einem der wahnsinnigsten Verbrecher aller Zeiten wurde, sondern dass es an meiner Mutter lag, die mich bereits als Kind dazu anhielt, den anderen Kindern das Pausenbrot zu stehlen. Wenn sie mich dabei erwischte, dass ich die Wahrheit sagte, zog sie mich an den Ohren in das Arbeitszimmer meines Vaters, das aus Gemütlichkeitsgründen in eine Zelle umgebaut worden war. Versonnen bzw. teilversonnen saß er am Fenster mit den Gitterstäben und sehnte sich.
„Was machst du da wieder?“
Vater seufzte. „Ich sehne mich“, sagte Vater.
Mutter schüttelte ihren schweren großen Kopf, der mindestens so schwer wie drei normale Köpfe war. „Das habe ich jetzt davon. Mutter hat mich gewarnt: Heirate nie einen, der zu lange im Knast war. Und ich, was musste ich machen?“
Sie stellte mich vor meinen Vater und verlangte von ihm, dass er mir mit aller Entschiedenheit beibrachte, dass es einen im Leben nicht weiterbrachte, wenn man die Wahrheit sagte.
„Junge“, sagte er. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass es nicht gut ist, wenn man die Wahrheit sagt? Die Wahrheit kostet einen die Freiheit, sie kostet andere die Freiheit. Und was ist das schon, die Wahrheit? Wenn man am Morgen sagt, es sei früh am Tag, muss das nicht stimmen. Für einen anderen, der gerade nach Hause kommt, ist es spät. Verstehst du, mein Sohn?“
Ich nickte, und weil ich aufgeregt war, nickte ich so stark, dass er mich beruhigen musste.
„Sei nicht so aufgeregt. Man könnte sonst denken, dass du dich zu einem Denunzianten entwickelst. Nicke andeutungsweise.“ Er führte es mir vor. Er stellte sich seitlich hin und hob das Kinn. Nichts geschah.
„Hast du es gesehen?“, knurrte er durch die Zähne.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Ich nicke jetzt noch mal.“
Wieder war nichts zu sehen.
„Du musst genauer hinsehen“, knurrte Vater.
Schließlich gab ich auf und sagte, dass ich es genau gesehen hätte.
„Ha!“ Vater lachte mich an. „Du hast gelogen. Siehst du, wenn man nur will, kann man auch lügen. Behalte das bei.“ Und mit diesen Worten schickte er mich aus seinem Arbeitszimmer. Ich warf einen letzten Blick zurück, hin zu diesem Mann, der an den Gitterstäben stand und seufzte.

Aus Urs Schliepers “Die Fabrik der Tortenmädchen”, Krimi in Tagebuchform

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Zerstörte Zeitgläser

3 Gedichte von Frank Levoi

Das Aroma der Wut

Ich werde mich abfackeln,
werde zur Glut meiner Texte.
Ich liege mit meinem Skelett
eng an eng.
Schlafe mit mir
und meinem Tod.
Ich verteile mich
in meine Lungen, meine Zunge.
Schmecke mein Blut,
das Aroma der Wut.

Rote Stunden

Er kriecht durch Eisenbahntunnel,
ein Zeitnomade,
frisst Gedankenströme,
die in den Zügen hocken,
Zeitung lesend, verwesend
am lebendigen Leib.
Den Geruch des Todes
schüttelt er aus seinem Mantel,
Staub, der fällt, Milliarden Körner,
die sich zwischen die Schienen setzen,
zwischen seine Zähne, die er
schmeckt, leckt, bis seine Zunge
rot
vom Tod ist.

Tödliche Automatismen

Automaten wachsen hinter seinem Haus,
rote, gelbe, blaue Automaten sprießen
in seinem Kopf.
Er steht am Fenster, im Leerlauf.
Sein Mutter im Bett, sterbend,
mit einem Motorbrummen, ganz tief.
Er muss den Antrieb finden, den
Motorblock durchsuchen, dieses ganze
Haus aus Schmerzen und Insekten,
aus Köpfen und Rümpfen.
Ein erster Schluck Formaldehyd,
um sich einzubalsamieren.
Ein paar Augen huschen am Fenster
vorüber.
Ein trüber Morgenbrei in seiner Hirnschale.
Er muss ihn auslöffeln.
Gas verlässt den Körper.
Die Wäsche des Todes, die Totenhemden,
alles flattert faulend im Verkehrswind
durchreisender Geister, die sich
nach den Automaten bücken, die rot, gelb, blau
vergehen.

© Frank Levoi

Aus Levois Gedichtband „Zerstörte Zeitgläser“ ( aus dem Amerikanischen übersetzt von Guido Rohm)

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Die Fabrik der Tortenmädchen

Ich teilte heute meinen Eltern mit, dass ich Privatdetektiv werden will. Eigentlich teilte ich es nur meinem Vater mit, da Mutter vor Jahren verschwunden ist. (Vielleicht will ich deshalb Detektiv werden. Freud würde von einem „auf die mütterliche Vagina abzielenden Berufswunsch“ reden. Ich hoffe, sie irgendwann wohlauf bei einem Tortenwettessen zu finden. Mutter liebt Torte. So sehr, dass es sein kann, dass ein gemeiner Verbrecher sie damit in sein Auto lockte. In London verschwinden immer wieder Frauen, die eine Vorliebe für Torte haben.)
„Ich werde Privatdetektiv“, sagte ich zu meinem Vater.
Er schlang gerade sein Abendessen hinunter, und das, obwohl es früher Morgen war. Vater ist Exzentriker.
„Was?“, schrie er und hielt seine rechte Hand an sein linkes Ohr. Solche Bewegungen muss er als Vorsitzender des örtlichen Exzentriker-Clubs machen. (Er ist außerdem schwerhörig, daher das laute „Was?“)
„Privatdetektiv?“
„Schief? Was ist schief?“
Ich überlegte rasch, wie ich mich ihm mitteilen könnte. Mein übermäßig großes Hirn arbeitete fieberhaft.
„Privatdetektiv!“, schrie ich lauter.
„Brief? Ich habe keinen Brief. Oder hast du einen Brief, James?“
James ist der Butler meines Vaters, der ebenfalls schwerhörig ist und daher erst gar nicht auftauchte. James erscheint seines Leidens wegen nur sehr selten. Meistens sitzt er in seinem Zimmer und sieht sich bei voller Lautstärke Talksendungen an.
„James ist nicht da!“, brüllte ich.
„Nichte? Du hast keine Nichte!“
„Nicht Nichte. James ist nicht da, und ich möchte Privatdetektiv werden.“
Mein Vater sah mich erstaunt an. Dann lief er puterrot an. Er griff sich nach dem Hals, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Geschult in allen gymnastischen Übungen, machte ich blitzschnell eine Rolle vorwärts, einen Handstand, noch eine Rolle vorwärts, bis ich bei Vater war, um ihm eine Backpfeife zu verpassen.
Vater hustete und spuckte ein Stück Fleisch, groß wie meine Hand, auf den Tisch.
„Warum willst du mit James durchbrennen?“, keuchte er.
„Nein, das will ich gar nicht“, versuchte ich ihm zu erklären. „Ich will Privatdetektiv werden.“
Vater schüttelte traurig den Kopf und murmelte: „Das hätte deine Mutter nicht gewollt.“
„Was? Dass ich Privatdetektiv werde?“
„Dass du deinen armen Vater so ausbrüllst.“

Aus Urs Schliepers „Die Fabrik der Tortenmädchen“, Krimi in Tagebuchform

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Auszüge aus dem Werk des unvergesslichen Urs Schlieper

„Unser erster Tanz im Jenseits. Ich führe sie, muss aber vorsichtig sein, sie nicht zu verlieren. Wir Toten sind nicht ganz bei uns. Ruckzuck hat man den einen oder anderen Knochen in der Hand. Unsere Blicke sind luftig. Sieht sie mich an? Sieht sie mich nicht an? Und die Erotik bleibt auch auf der Strecke. Wir sind längst nackt, abgenagt bis auf die Knochen.“Aus Urs Schliepers Erzählung „Knochentrocken, die Alte – Eine Liebesgeschichte ohne Liebe“

„Schriftsteller kennen keine Gnade. 1993 schrieb ich eine SF-Geschichte, die von einer Gruppe von Schriftstellern handelt, die den Kampf gegen den Konsum, den erbärmlichen, aufgenommen haben. Sie dringen in Warenhäuser ein, metzeln alle nieder, Frauen, Kinder, es ist grauenhaft. Sie errichten ein Literaturregime, wie es schrecklichlicher nicht sein könnte. Nichtautoren werden in Zuschauerlager verfrachtet, um dort auf Großbildschirmen den Lesungen der Schriftsteller beizuwohnen. Am Ende fressen sich die Schriftsteller gegenseitig auf, weil jeder der beste Autor sein will. Die Geschichte wurde – Sie ahnen es bereits – bei allen Magazinen abgelehnt.“ – Urs Schlieper in seiner Autobiografie „Erdleben der Stärke 0“

„1992 schrieb ich eine bis heute unbekannte Geschichte über Einbrecher in Hochwassergebieten. Titel: Die Eintaucher. Sie handelt von Herbert W., der, nachdem er arbeitslos wird, an eine Bande von Verbrechern gerät, die weltweit in Hochwassergebieten in die Häuser einbrechen. Sie tauchen durch die Wohnungen und klauen alles, wirklich alles, weil es so leicht zu transportieren ist, bis sie schließlich ganze Häuser stehlen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu Geld zu machen. Als die ersten Käufer erkranken, kommt man ihnen auf die Spur. Berühmter Satz des Polizisten Kies: „Das ist hier ja alles verschimmelt.“ Herbert W. hängt die Badekappe an den Nagel und flieht nach Osnabrück. Ja, ich erinnere mich gerne daran. Ich schrieb sie während einer Hitzewelle, um mir auf diese Art ein wenig Abkühlung zu verschaffen.“ – Urs Schlieper in seiner Autobiografie „Erdleben der Stärke 0“