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Die Modepolizei (Auszug)

Als ich am Tatort eintraf, bot sich mir ein Bild des Grauens. Die Tote trug Klamotten aus einem Billigladen. Ich drehte mich weg. Mir wurde schlecht.
„Haben Sie gesehen“, sagte Francis. „Sie trägt nachgemachte Chucks.“
„Ich will das nicht sehen.“ Ich schnüffelte an meinem mitgebrachten Duft von Dior, um mich zu beruhigen. Hier waren wir wirklich in der Hölle gelandet.

Wir nahmen einen Club hoch, der dafür berüchtigt war, dass man dort Jogginghosen trug. Ich musste mich mehrmals übergeben. Das waren Perverse. Abschaum. Der Boss von dem Laden, ein gewisser Martin, trug sogar Hausschuhe. Es schien ihm nichts auszumachen. Er schrie, als wir ihn umzogen. So konnten wir ihn nicht verhören. Wir stopften ihn in einen Armanianzug. Diese Welt ist voller kranker Bastarde, die sich nicht anzuziehen wissen.

Ich war extrem angespannt. Heute würde es endlich zu dem so lange von mir erhofften Schlag gegen das organisierte Modeverbrechen kommen.
Ich trug einen meiner besten Anzüge von Hugo Boss. Wir beobachteten das Flüsterkiosk jetzt seit Wochen. Unrasierte Gestalten in No-Name-Jeans gingen ein und aus. Ich würde so viele wie möglich umlegen. Diese Typen hatten gegen alle Formen des gesitteten Zusammenlebens verstoßen. Ich zog meine Krawatte zurecht und überprüfte meine Waffe. Die Tür öffnete sich. Gelächter. Sie feierten ihre Klamotten. Ich konnte erkennen, dass sie nachgemachte Kapuzenshirts von Abercrombie & Fitch trugen. Ich konnte nichts dagegen machen: Ich übergab mich in einem weiten Schwall auf die Straße. Das war das Zeichen, dass wir losschlagen mussten.

Ich zog dem Typ meinen neuen Schlagstock von Gucci über. Er flennte wie ein Kind.
„Wenn ich dich hier noch mal in Sandalen und weißen Socken erwische, kommst du nicht so glimpflich davon“, sagte ich und warf ihn aus dem fahrenden Wagen. Dann fuhren wir zur Fashion Week nach Berlin. Es war Zeit, dass wir uns neu ausrüsteten.

Es war eine großangelegte Razzia in einer Mall. Sie rannten wie die Hasen. Wir kesselten eine Familie ein, die wohl schon länger bei C&A einkaufte. Das Familienoberhaupt trug einen Rolli für 15 Euro. Ich musste mich beherrschen, um mich nicht zu übergeben. Es war ein harter Einsatz. Einer, der mich an meine Grenzen brachte. Wir ließen sie spurlos verschwinden. Es war besser so, auch wenn mir der Kampf, den wir führten, wie Wasserschöpfen im Meer vorkam.

 

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Erste Sätze

Der Arzt riet Waldemar dazu, sich – wenn möglich bereits am nächsten Tag – interpunktieren zu lassen.

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Was darf Satire? (1)

Drei vorläufige Antworten

  1. Satire darf bei Olaf übernachten.
  2. Satire darf auf Bäume klettern.
  3. Satire darf mit Bettina schlafen.
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Tausend Tode schreiben

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Funkenmariechen des Todes

Das Paradies kann warten

Auszug aus einem Gespräch zweier Terroristen

„Wir machen jetzt was?“
„Wir sprengen uns alle vor dem Regierungspalast in die Luft.“
„Jetzt? Ich meine, muss das sein? Ich habe mich noch nicht mal geduscht. Sollte man nicht wenigstens gut riechen, wenn man im Paradies ankommt? All die Jungfrauen … du verstehst, was ich meine, Bruder.“
„Hier ist dein Sprengstoffgürtel.“
„Ich trage nur Hosenträger. Hättet ihr nicht Sprengstoffhosenträger?“

„Schweig!“

„Ich kann mich heute nicht in die Luft sprengen. – Außerdem war Said viel früher im Ausbildungscamp.“
„Keine Ausreden mehr.“
„Ausreden? Das sind keine Ausreden, das sind Tatsachen. Said hat im Lager ständig davon geschwärmt, als Märtyrer zu sterben. Es wäre egoistisch, wenn ich jetzt vor ihm ins Paradies käme.“
„Wir brechen auf!“
„Habt ihr mal aus dem Fenster gesehen? Es regnet. Kein Mensch sprengt sich bei solch einem Wetter in die Luft.“

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Geburtstagskind des Tages

Hermann Wibbinger (12. Januar 1896 – 2. August 1947)

Hermann Wibbinger war ein großer Kunstliebhaber. So soll er mit mehr als 1000 Gemälden aus allen Epochen geschlafen haben. Es machte ihm oft Mühe, die übergroßen Rahmen in seinem Bett unterzubringen. Noch viel schwieriger gestaltete sich allerdings der Alltag. Sonntags konnte man ihn mit einem Bild durch den Park spazieren gehen sehen. Er ging mit den Bildern sogar in Museen. 1924 wurde er wegen Unzucht mit einem Bild aus der frühen Schaffensperiode eines unbekannten spanischen Malers verhaftet. Nach dem Gefängnisaufenthalt war er ein gebrochener Mann. Er musste am Stock gehen. Die Kinder bewarfen ihn mit Steinen. Niemand ahnte, dass dieser Mann einst einer der größten Kunstliebhaber aller Zeiten gewesen war.

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Ananas to Hell

„Haben heute mit den Aufnahmen zu „Ananas to Hell“ begonnen. Das Album wird die Rockwelt verändern. Wir spielen satanischen Metal für Fruitarier. Früher machte ich Metal für Vegetarier, aber das war nicht konsequent genug. „Kartoffelauflauf to Hell“ verkaufte sich außerdem scheiße.“ – Aus dem Tagebuch des Tim Brokk, Gitarrist

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Zum Tod von Pater Ferrin

Wie heute in allen Tageszeitungen zu lesen war, ist der berühmte Exorzist Pater Ferrin verstorben. Hier ein kleiner Auszug aus seinem wohl bekanntesten Buch:

Als ich klein war, ein Junge von etwa acht oder neun Jahren, äußerte ich bereits den Wunsch, ein Exorzist zu werden. Die Freundinnen meiner Mutter, alte Damen, die sicherlich gar nicht so alt waren, wie es mir meine kindliche Sicht vorgaukelte, starrten mich überrascht an. Das hatten sie noch nicht gehört. Eisenbahner wollten manche werden, andere Polizisten, vielleicht auch Cowboys, aber ein Exorzist stand bei keinem auf der Wunschliste. Ich erzählte ihnen, ich sei Messdiener, und dass das Böse überall sei; und vor allem sei es mit harter Hand zu bekämpfen. Während ich sprach, peitschte ich einen imaginären Geist mit meinem Rosenkranz. Manche der Damen wichen entsetzt zurück, was mein damalig unreifes Gemüt auf einen Fall von Besessenheit zurückführte. Im Geist notierte ich mir Namen und Gesicht, um so rasch wie möglich diese menschliche Hülle zu befreien. Wie ich in „Exorzistenmann“, meinem Lieblingscomic, gelesen hatte, würde es in diesem Fall ausreichen, sie anzuketten und 80 Tage hungern zu lassen. Statt mich zu verabschieden, bekreuzigte ich mich und spie den betreffenden Damen eine Ladung Weihwasser, das ich für einen solchen Zweck in einer kleinen Flasche bei mir trug, ins Antlitz. Sie schrien auf. Natürlich. Dämonen hassen Weihwasser.

Aus „Reise um die Welt in 80 Teufelsaustreibungen“ von Pater Ferrin

 

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Ein Auszug

Der Anruf erreichte mich nachts. Ich stand am Fenster meines Büros. Dort stand ich die meiste Zeit über. Ich wartete auf einen neuen Auftrag. Ich beobachtete gerade eine Katze, die sich verdächtig benahm. Ich zog die Lippen auseinander und biss die Zähne zusammen, um mit der Zunge gegen die Schneidezähne zu klatschen. Das erzeugte ein merkwürdiges Geräusch, das die Katze irritiert hätte, wenn das Fenster offen gewesen wäre.
In diesem Moment bellte das Telefon. Ich hatte den Klingelton so eingestellt. Es bellte laut und kräftig, so laut, dass die Katze unten es hörte und Reißaus nahm.
Verflucht, jetzt hatte sie sich aus dem Staub gemacht, dabei hatte ich sie nur irritieren wollen. Ich würde wieder stundenlang suchen müssen, um etwas zu entdecken, das mir die Zeit am Fenster vertrieb.
Ich griff nach dem Hörer, der die Form eines Hundeknochens hatte. Nicht, dass ich ein besonderer Hundefan gewesen wäre. Mein letzter Auftraggeber, der Besitzer einer Firma, die Knochenhörer herstellte, hatte ihn mir geschenkt.
„Sam Wait! Wer ist da?“, fragte ich.
„Mein Name tut nichts zur Sache“, sagte die Person am anderen Ende.
„Hören Sie, wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich wissen, wie Sie heißen.“
„Das werden sie vielleicht später erfahren.“
„Und um was geht es?“ Ich war noch ziemlich sauer wegen der Sache mit der Katze.
„Das kann ich nicht sagen“, sagte die Stimme.
„Sie wollen nicht sagen, wie sie heißen und um was es geht?“
„Das würde mich in Gefahr bringen.“
„Und warum rufen Sie mich an?“
„Das werde ich Ihnen vielleicht später verraten“, sagte die Stimme und legte auf.
Idiot, dachte ich.

Ich trat wieder ans Fenster. Nichts. Die Katze würde sich so schnell nicht mehr sehen lassen. Ich konzentrierte mich auf den Schornstein des Hauses gegenüber. Wenn man ihn lange genug ansah, würde er sich bewegen. Das wusste ich noch aus meinen Kindertagen. Damals hatte ich oft Stühle angeglotzt, bis sie zum Leben erwachten. Ich lehnte mich an den Fensterrahmen und starrte.
Nach ein paar Stunden konnte ich es deutlich sehen. Er rührte sich. Ich griff nach Sarah, meinem Revolver. Dieser Kerl würde es noch bereuen, nachts auf fremden Häusern zu sitzen, um in die abgedunkelten Fenster der Leute zu linsen.
Ich öffnete das Fenster ein wenig. Die kalte Luft zerrte an meinem Gesicht. Daran hatte ich nicht gedacht. Die Kälte. Mein Gesicht gefror augenblicklich. Ich musste etwas tun. Sekunden später wäre ich tot. Ich ließ mich mit dem ganzen Gewicht meines Körpers gegen das Fenster fallen. Es war ein Kampf, den ich beinahe verlor. Aber das Wunder geschah.
Erschöpft ließ ich mich auf den Boden fallen. Ein Stuhl hatte ich nicht mehr, seit Judy mich verlassen hatte.
Ich dachte über mich und meine Lage nach, während ich langsam auftaute. Wasser tropfte zu Boden.

Aus Raimund Wendlers „Geschichte ohne Titel und richtigen Inhalt“

 

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Wir sind Charlie

Nach dem fürchterlichen Terroranschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitung Charlie Hebdo haben auf Initiative von Wolf-Rüdiger Marunde, Til Mette und Rudi Hurzlmeier über 200 deutschsprachige Karikaturisten, Cartoonisten und Comiczeichner eine Stellungnahme unterzeichnet.

>>>>Hier ist sie.

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Ein Raum voll Möglichkeiten

Vor etwa drei Jahren las ich den Roman eines russischen Autoren namens Vladimir Nabin. Ein schmales Buch, nur 600 Seiten kurz. Es gab eine kleine Auflage, die sich kaum verkaufte, dann wurde es verramscht. Aber darauf will ich gar nicht eingehen. Ungewöhnlich an diesem Roman waren die Sätze. So konnte man dort z.B. einen solchen Satz lesen: Er schlug zurück. Auf den ersten Blick kein ungewöhnlicher Satz für einen Roman, doch sieht man näher hin, bemerkt man, dass hier auf eine sehr kühne Art versucht wurde, viele Informationen auf engstem Raum unterzubringen, so viele, dass der Satz nach hinten wie nach vorne erzählt. ER sagt uns, dass es sich um einen Mann handelt. SCHLUG berichtet von seiner Gewaltbereitschaft, nein, er ist nicht nur bereit, er führt sie bereits aus. ZURÜCK heißt, dass er sich wehrt. Oder aber, dass er seine Gewalt in die Vergangenheit richtet. Umso mehr man den Satz liest, desto verwirrter ist man. Schlägt er nun etwas, was in seinem Rücken liegt? Schlägt er in die Vergangenheit? Oder wehrt er sich unmittelbar gegen einen Angreifer? Wir befinden uns in einem Raum voll Möglichkeiten.

Dieser Raum voll Möglichkeiten ist nicht unwichtig, wenn man sich mit dem Schriftsteller Harry Stephen Keeler beschäftigt.

keeler

Keeler wurde 1890 geboren und starb 1967. Wie alle Autoren von Belang schrieb er bereits seit seinen Jugendtagen. Aber konnte er davon leben? Nein. Nach dem Studium der Elektrotechnik arbeitete er am Tag in einem Stahlwerk, um sich nachts ganz und gar der Schreiberei widmen zu können. Kein ungewöhnliches Schicksal für einen Schriftsteller – denken wir an Kafka -, wenn auch kein wünschenswertes.

Die innere Notwendigkeit, der Zwang sich erzählend auszudrücken, lässt sie nicht ruhen, auch wenn es sicherlich manch ein Schicksal gab, dem damit geholfen gewesen wäre, zu erkennen, dass es kein Talent besitzt. Frau und Kinder hätten sich vermutlich erfreut gezeigt.

Kommen wir nun aber zu Keeler und seinem Roman „Die durchsichtige Nackte„.

Alles beginnt mit einem Anruf, den Helmon Hobersteed, Chef der Mordkommission von Chicago, erhält. Allerdings, dies sei verraten, dauert es schon einige kuriose Sätze lang, bis er sich tatsächlich mit der Anruferin auseinandersetzt. Zuvor erleben wir nämlich bereits Keelers Improvisationswut, denn darauf, auf diesen musikalisch-jazzigen Moment des Sich-treiben-lassen setzt Keeler voll und ganz, aus ihr erwachsen die grotesken, bizarren Erzählformationen, derer wir nach und nach ansichtig werden. Sei es, dass Hobersteed nicht Inspektor genannt werden möchte, weil sein Alter für ihn zu einem Problem geworden ist, sei es, dass er sich als einen Mann wahrnimmt, der von den Frauen vergöttert wird, all diese übersteigerten Formen der Wahrnehmung lassen eine Welt entstehen, die sich dem Irrsinn verschrieben zu haben scheint. Nicht die schlechteste Methode, um die Welt zu beschreiben.

Machen wir es kurz, weil es dem Roman, kaut man seinen Inhalt wieder, nicht gerecht wird.

Besagter Hobersteed erhält also einen Anruf, er wird – dies alles wird äußerst kurios erzählt – zu einem Tatort gerufen, an dem man eine junge Frau in einem Schwitzkasten findet, allerdings nur Kopf und Zehen, denn der Rest ihres Körpers, so die Ermittlungen, müssen wohl unsichtbar sein. Auch vor Ort, und ebenfalls nicht unwichtig, ist der Gerichtsmediziner Blackaby Oxnard.

Und die Handlung wird nicht unbedingt sichtbarer, da schließt sie sich dem Opfer an. Der Fall kann zunächst nicht gelöst werden, Hobersteed kommt in eine Nervenheilanstalt, wird aber später – obwohl er sich weiterhin selbst für unsichtbar hält – entlassen. Viele Jahre danach wird der Fall wieder aufgenommen, und zwar von Holbersteeds Nachfolger. Wird der Fall der unsichtbaren Nackten gelöst? Ja? Nein? Ich werde den Teufel tun, dies zu verraten.

Es geht einem solchen Autor nicht um Logik, denn sein literarischer Kosmos ist von zwei Konstanten bewohnt: Zufall (auch im Erzählerischen selbst) und Geschichten. Ja, immer wieder werden Geschichten erzählt, sie tauchen geradezu aus jedem Satz auf. Der simpler Einwurf eines Protagonisten kann ausreichen, eine Geschichte in Gang zu setzen, die so grotesk ist, dass sie – das behaupte zumindest ich – mehr aus einem Akt der Hingabe als aus der Logik der wohlüberlegten Romanführung entsteht. Improvisation, ich sagte es bereits, scheint mir eine Grundbewegung dieses Buchs, vermutlich auch anderer Bücher von Keeler, der seinen Hauptpersonen Namen gab, wie man sie heutzutage bei Pynchon findet.

Ein solcher Autor machte es seinen Lesern nicht leicht, und vielleicht musste er auch scheitern, so wie alle wichtigen Bücher und Autoren scheitern müssen, weil sie mit den Erzählkonventionen brechen. Sie begeben sich in einen Raum voll Möglichkeiten und lassen ihre Schreibhand bald hierhin, bald dorthin greifen, um sich – wie Free-Jazzer – auf den Schwingen einzelner Buchstaben, deren Textmelodie aus der Schreibbewegung entsteht, davontragen zu lassen. Dass da nicht jeder Leser folgen kann und will, liegt fast schon auf der Hand.

Abschließend also die Frage: Sollen wir diesen Roman lesen? Ja und nochmals ja. In einer Zeit, in der die Strickwarenmusterliteratur einmal mehr den Markt beherrscht, ist es für jeden halbwegs gebildeten Menschen wichtig, sich wieder auf das Abenteuer Erzählen einzulassen. Es ist bei Keeler weniger die Sprache, als vielmehr, was er mit ihr erzählt. Man könnte sagen, wenn Thomas Mann der Klassik der Literatur zuzurechnen ist, dann ist Keeler dem Jazz zuzuordnen.

nackte

Harry Stephen Keeler
DIE DURCHSICHTIGE NACKTE
(The Case of the Transparent Nude)

Einmalige Auflage von 250 nummerierten Exemplaren
Hochglanzkaschierter Band im „Pulp-Look“
ISBN 978-3-924959-87-6
206 Seiten, 49,00 Euro
Dezember 2014

Leseprobe

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Die Nase

Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
„Wir waren so gut drauf“, sagte sie zu dem Journalisten, der sie wegen der „Vorfälle“ vor dem Tempel befragte.
Es war jetzt drei Tage her, aber der Shitstorm wollte und wollte sich nicht legen.
„Sie haben doch bestimmt gewusst, dass die Nasalen ihre Nasen stets unter einem Tuch verbergen.“
Helena überlegte. Natürlich hatten sie es gewusst, aber sie hatten es vergessen.
Haben wir es vergessen? Sie überlegte.
„Ich habe vor den Nasalen Respekt“, sagte sie.
Oh ja! Und ob sie den hatte. Immerhin hatten die Nasalen, die daran glaubten, dass der Allmächtige wie eine Nase aussah, bereits zahlreiche Anschläge weltweit verübt. Sie schnitten all denen die Nasen ab, die sie hochmütig trugen. Oben, im Gesicht.
Aber wo soll man sie denn sonst tragen?, dachte Helena.
Im Grund versuchten sie, allen Menschen die Nase abzuschneiden, die sie nicht bedeckten.
Die mächtigste Terrororganisation nannte sich NASA. NASA stand für NASE AB, SAGT ARTHUR. Arthur war ihr Anführer. Ein gewalttätiger Terrorist, aufgewachsen in einer Familie von Schönheitsoperateuren.

„Man beschimpft mich fürchterlich. Die sozialen Netzwerke laufen über mit Drohungen …“

Helena wischte eine Haarsträhne zur Seite. Das tat sie, wenn sie nervös war. Die Haarsträhne schien keine andere Aufgabe zu haben, als die, dass sie zur Seite gewischt wurde, wenn Helena nervös war.

Sie konnte das alles gar nicht verstehen. Millionen Menschen in aller Welt liebten sie. Sie hatten sie als gehbehinderte Selma in „Selma kann wieder laufen“ geliebt. Oder als Nonne in „Liebe deine Nächste“. „Liebe deine Nächste“ war von der katholischen Kirche kritisiert worden, ein wenig zumindest, aber es war nichts gegen das, was momentan geschah.

„Arthur“, sagte der Journalist.

Helena machte große Augen.

„Nicht der Film, sondern der Terrorist.“

Helena lächelte.

„Arthur ist eine der wenigen, der seine Nase nicht verdeckt. Er hat seine Nasenhaare wachsen lassen, so wie es das Buch NASI vorschreibt. Haben Sie das Buch NASI je gelesen?“

Da war sie wieder, ihre Nervosität. Sie wischte die Haarsträhne zur Seite.

„Nein“, gab sie zu. „Ich weiß, man sollte sich mit allen Religionen voller Respekt beschäftigen.“

„Sollte man?“, fragte der Journalist. „Immerhin gibt es so viele Religionen, da hätten Sie eine Menge zu tun.“

Sie saßen am Pool eines der zahlreichen Häuser, die Helena in Malibu besaß. An einem solchen Pool hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Sie hatte mit Justin und einigen anderen gefeiert, und dann war irgendjemand, vielleicht war es sogar Justin gewesen, auf die Idee gekommen, dass sie sich ruhig mal einen kleinen Trip gönnen könnten. Rüber in eines dieser Länder, in denen die Sonne besonders heiß brannte, in denen die Menschen ihre Nasen verdeckten, in denen es Märkte gab, auf denen es sonderbar roch.

Sonderbar roch? Wer hatte das gesagt? Robert? Patrick? Sie sollte das nicht erzählen, das würden sie ihr als eine Form von Rassismus auslegen.

Ihr war das alles furchtbar peinlich. Sie hasste es, jetzt hier sitzen zu müssen und über all das sprechen zu müssen, und das nur, weil sie ein paar Fotos ohne ihre verdeckten Nasen vor einem Tempel gemacht hatten. Das konnte doch nicht so schlimm sein. Doch war es. Alle Welt ließ es sie spüren.

Die Bilder an sich waren ja noch nicht so schlimm gewesen. Schlimmer war es, sie auch noch bei Twitter hochzuladen. Das hatte die Sache erst ins Rollen gebracht. Eine Gruppe verwöhnter Hollywoodjugendlicher, die mit ihren Nasen vor einem Tempel posierten.

Bob, ihr Agent, hatte sie gleich angerufen.

„Wo bist du? Malibu? Das blaue Haus? Ich komme! Du sitzt ganz schön in der Scheiße, nein, schlimmer, du sitzt ganz tief in der größten Scheiße deines Lebens. Die sind verrückt. Die schneiden Leuten die Nasen ab, weil sie sich beleidigt fühlen.“

Helena hatte wie betäubt dagesessen. Es war doch nur eine Nase, eine verfluchte Nase. Eine Nase!

„Ich möchte mich noch einmal bei allen Nasalen entschuldigen“, flüsterte Helena.

Der Journalist nickte und packte seine Sachen zusammen.

„Sie sollten noch ein paar Bilder und Filmaufnahmen machen, die sie mit verdeckter Nase zeigen“, sagte er. „Das könnte die Leute beruhigen.“

„Meinen Sie?“

Da saß sie. Helena Gomez. Sexsymbol, obwohl sie im Grunde noch ein kleines Mädchen war. Sie saß am Rand einer Liege und drückte ihre Arme durch.

Später, als der Journalist schon längst wieder in seinen Redaktionsräumen saß und an seiner Story schrieb, rief Bob sie an. Er sei aufgehalten worden, er betreibe Schadensbegrenzung. HONY habe den Vertrag über die nächsten zwei Filme gekündigt.

„Was?“, fragte Helena ungläubig. Ihr war schlecht, sie kam sich wie in einem drittklassigen Film vor. Das konnte doch alles nicht wirklich geschehen, auf keinen Fall, das hatte sie nicht verdient.

„Du hättest es wissen müssen“, sagte Bob. „Du hast sie und ihre Religion beleidigt. HONY hat Angst, dass es zu Anschlägen kommen könnte.“

„Anschlägen?“

„Du bist ja sicher.“

Sicher? Sie sah sich um. Sie hatte momentan sieben Bodyguards im Haus. Sie überlegte. Hatte der eine von ihnen nicht besonders langes Nasenhaar? War das ein Hinweis? Sie würden sie töten, abschlachten.

„Am besten, du schließt dich ein, bis ich da bin“, sagte Bob und legte auf.

Sie würde es nie wieder tun. Sie blickte zum Himmel. Oh, große Nase, verzeih mir. Ich habe gesündigt, aber ich will es nie wieder tun.

Justin, dieser verdammte Schweinehund war an allem Schuld. Wäre er nicht auf die Idee mit dem Flug gekommen, wäre heute noch alles gut. Der Vertrag mit HONY wäre nicht geplatzt, sie müsste nicht um ihre Zukunft bangen, ach, dieser Hund.

Sie schlang ein Handtuch um ihre Hüfte und watschelte gesenkten Kopfes ins Haus zurück. Sie fühlte sich so allein, so allein. Ob sie Mama anrufen sollte? Papa?

Die Terrassentür, sie hatte die Terrassentür vergessen, aber das war jetzt egal. Erst mal ins Schlafzimmer, dort befand sich auch ihre Waffe, dieser kleine, niedliche Revolver, mit dem sie schießen konnte. Sie hatte es für „Heiß geliebt im Bombenhagel“ geübt. Ein großer Film über die Liebe und den Krieg.

Sie kramte den Revolver raus und schloss die Schlafzimmertür. Sie setzte sich aufs Bett und weinte. Das war alles so unfair, aber sie würde ihre Nase verteidigen, komme, was da wolle. So einfach würden die sie nicht bekommen.

Irgendwann schlief sie ein. Sie träumte von einer großen, haarigen Nase. Die Nase verfolgte sie den WALK OF FAME hoch und runter.

„Es tut mir leid“, schluchzte sie im Schlaf. „Es tut mir leid.“

Als sie am Morgen erwachte, musste sie niesen. Noch niemals zuvor hatte sie sich über einen Schnupfen so sehr gefreut, wie an diesem Morgen in Malibu.

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Michael Püppertz

punkt

„Jetzt machen Sie aber mal ’nen Punkt!“ von Michael Püppertz, Tuschezeichnung, 2013

Wenn ich ein Bild male, benutze ich am liebsten Fingerfarbe. Ich muss die Leinwand spüren, muss sie mit meinen Fingern erfahren. „Brummbrumm-brummbrummbrumm.“ So hört sich das an, wenn ich über die Leinwand fahre. Manchmal schreie ich: „Quietsch!“ Ich halte an und sehe mich um, genieße die Aussicht. Ich erfahre die Leinwand als Landschaft. Es wird Nacht. Ich kehre ein, erschaffe mir ein Gasthaus. Da stehe ich, mit dem Kopf an der Leinwand und schlafe. Kunst ist der Versuch, die Leinwand zu „erleben“. – Michael Püppertz