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Funkenmariechen des Todes

Zum Jahreswechsel

Wenn man den Tag so ruhig und unbesonnen in seinem Wohnzimmer ablegen durfte, fällt es schwer, ihn noch einmal überzustreifen, nur weil es die Etikette des Jahreswechsels verlangt. Was für ein Theater um einen Satz neuer Monate, die in einem Jahr eh wieder abgelebt sind. Man sollte nicht auf die Zeit bauen, sondern auf den, der sie pflegt. Es kommt eben auf den richtigen Umgang mit ihr an, man muss sie zu leben wissen. Dann erspart man sich auch diese ständigen Jahreswechsel.

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Funkenmariechen des Todes

Wie man im Datenstrom ersaufen sollte

Wenn ich in meinem Bett liege, den Kopf sanft gebettet, vor mir mein Kindle, kommt es mir so vor, als wäre ich von ein paar dreisten Science-Fiction-Filmen eingeholt worden. Was vor wenigen Jahren noch undenkbar schien, ist nun zu einem Stück Realität geworden. Die Zukunft lebt jetzt, sie tobt sich aus. Das Leben verflüssigt sich. Nicht mehr lange, dann wird alles mit allem vernetzt sein, während ich als Fliege und Spinne gleichzeitig in diesem Gespinst hocke. Alles ist möglich.

Es könnte sein, dass man eine Kopie von mir erschafft. Vielleicht ist es auch schon längst geschehen. Nicht ich schreibe meine Geschichten, es könnte mein anderes Ich sein, das sie in den Morgenstunden in die Tastatur klappert. Alles sehr verwirrend.

Der (heißt es der oder doch das?) Kindle löst die gedruckten Bücher nicht ab, nicht für mich, er ist eine Erweiterung, gedacht für all die Gebrauchstexte, die ich nicht mehr als einmal lesen werde. (Die Welt ist voller Gebrauchstexte, Verbrauchstexte, die ich weitaus mehr liebe als jene Texte, die scheinbar für die Ewigkeit geschrieben wurden. Ewigkeitstexte müssen eine besondere Konsistenz aufweisen, einen stählernen Wortbau, der sie für die Reise, die nie enden soll, wappnet. Verbrauchsliteratur will gelebt, will weggelesen, will zerlesen werden. Sie ist so lebendig wie die Literatur, die ich mir wünsche. Vielleicht mag ich deshalb die US-amerikanischen Schriftsteller so sehr, weil ihre Schreibweise mich an die Kinderautoren erinnert, die ich gegenwärtig verschlinge (Ende, Dahl, Lindgren). Sie erzählen auf eine herrlich altmodische Lagerfeuerart ihre Geschichten, ohne mir dabei beständig zublinzeln zu müssen, wie es die Ewigkeitsautoren ja gerne tun. Ihr Blinzeln soll heißen: Na, habe ich das nicht gut gemacht. Da staunst du, was? Hier, dieser Satz ging über sieben Seiten, er ist berechnet worden.)

Ich mag die gute neue Zeit, die im Internet entsteht, die alles in eine Bewegung versetzt, in einen langen Strom, der unablässig in alle Richtungen fließt. Dieser Strom spült Dinge an mein Land, die ich auflese, um sie später wieder dem Wasser anzuvertrauen. Das Netz ist ein Gewässer, in dem noch jeder umkommen wird, man muss nur wissen, wie man sich töten lässt. Mein Ich ist ein Kunstprodukt, das bei Facebook Dinge mag, die es gar nicht mag, denn wenn ich mich strömen lasse, wenn ich selbst zu einem literarischen Fluss werde, überrolle ich irgendwann die Firmen mit meinen Informationen, die keinen Pfifferling wert sind.

Jetzt ist mein Kaffee kalt geworden, und dabei wollte ich längst an meinen neuen Roman arbeiten – Mensch, Rohm, reiß dich zusammen!

Was bleibt, ist Ihnen, liebe Leser:innen (auf meinen Lesungen sind hauptsächlich Frauen; Frauen sind es, die lesen, allein schon deshalb muss man sie lieben, auch wenn ich nur meine liebe, die großartige A) ein glückliches 2013 zu wünschen. Wir lesen uns im nächsten Jahr, das ja bereits mit seinem Kopf zwischen Tür und Rahmen steckt. Vielleicht lesen wir uns auch früher, weil mir irgendeine Unsinnigkeit eingefallen ist, die ich meinem Notizbuch unbedingt anvertrauen musste.

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Notiz zu MOONRISE KINGDOM

MOONRISE KINGDOM ist ein Film, der mich ausgesperrt hat. Seine Bilder, die wie mit dem Lineal gezogen wirken, gingen an mir vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Das ist beim Betrachten eines Films nicht sein Fehler. Ich hätte vermutlich genauer hinsehen müssen. So ist nichts aus uns geworden.

Dabei hatte ich mir vorgenommen, mich zu bemühen, weil ich ganz wild darauf war, einen wunderbaren Film zu sehen, einen, der mich verwirrt, betört, der die Haare nach hinten wirft, um den Ansatz einer Glatze zu offenbaren. Dieser war ein Kinderkarussell, auf das ich an diesem Tag nicht steigen wollte. Schade.

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Neben dem Leben leben

Man kann doch nicht den ganzen Tag vertrödeln und verschreiben, man muss doch auch mal leben (wo habe ich das nur gehört oder gelesen?). Ganz klar, denke ich mir, da hat jemand recht, dagegen kann man nichts sagen, und dann denke ich gegen das Denken an, denke, muss man denn wirklich leben, um gelebt zu haben, reicht es nicht aus, geträumt zu haben, sich einen Hügel angesehen zu haben, einen Regentropfen auf einem Geländer, um zu sagen, ich habe auch gelebt, irgendwie, mehr nebenher, nicht so großspurig, nicht mit großen Schritten, dafür in vielen kleinen Augenblicken, die am Ende vielleicht wie ein Leben aussehen werden, wie ein großflächiges Lebensmeer, eines, das kaum von den anderen zu unterscheiden ist. Neben dem Leben leben, das ist es.

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Rückkehr von den Toten

Die Frau, die unter uns wohnt, ist nicht gestorben. Alle dachten es, eine Nachbarin, dann noch eine Freundin oder Bekannte, ich weiß nicht, wer die Dame war, und ein Herr, der mit ihr gekommen war.

„Sie hat den Schlüssel stecken, antwortet nicht. Wir haben angerufen, so oft schon, aber sie rührt sich nicht.“

Und wieder wurde geklopft und gerüttelt, wurde nach der vermeintlich bereits Verstorbenen gerufen. Noch ein Anruf, und noch einer, so schnell kann man ja nicht aufgeben, auch wenn man vor der Tür bereits über die Beerdigung spricht, solange, bis die Tote die Tür plötzlich öffnet, lebendig wie eh und je, und sich wundert, was der ganze Auflauf soll. Bei solch einem Theater, erklärt sie ungerührt, könne man nicht schlafen, nicht einmal sie.

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Provinz

A und ich (und unsere Kinder) sitzen ja hier in der Provinz fest, und deshalb kann ich mir die meisten Filme, die mich interessieren, erst ansehen, wenn sie als DVD erscheinen. Wir müssten sonst nach Frankfurt fahren, aber dafür sind wir zu bequem, zu eigenbrötlerisch, zu besessen von unserer Wohnungshöhle, die wir nur verlassen, um in der Umgebung zu jagen. Daher kann ich mir erst heute MOONRISE KINGDOM ansehen. Und ein paar Folgen WALKING DEAD warten auch noch, auch einige Fragen, die ich beantworten soll; eine erste keucht in meinem Maileingang und bettelt um Beantwortung. Ich will sie nicht mit ein paar schnellen Worten abspeisen, also muss sie warten, während ich darüber nachdenke, was ich zu ihr sagen werde.

 

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UIVERSAL SOLDIER – DAY OF RECKONING

Wir haben uns gestern UIVERSAL SOLDIER – DAY OF RECKONING angesehen, und ich war gespannt, weil ich mich erinnern konnte, >>>>mit welch hymnischen Worten Oliver Nöding darüber geschrieben hatte, mit Worten, die sich überschlugen, die auf den Tisch gestiegen waren, um mir zu zeigen, wie groß dieser Film ist.

Also lehnte ich mich zurück, vor uns ein Glas Bowle, nach der ich momentan so verrückt bin, und harrte der ersten Bilder, die mich – keine Frage! – mit einem Tritt in eine Ecke meines Hirns katapultierten. Ja, das hatte ich gesucht! Das war mir versprochen worden: Bilder, die schmerzen, die wehtun, die meine Sehgewohnheiten in Frage stellen. Kino, wie ich es mir erhoffe, wie ich es bisher nur bei einem >>>>Gaspar Noé fand. Ich kenne die anderen Teile der Reihe nicht, nicht einen, und deshalb fiel es mir schwer, auszumachen, wo ich denn gelandet war. In einem Albtraum? In einem Höllenbild? Die Kamera stieß mich von Beklemmung zu Beklemmung, so ging es die ersten Minuten, ich weiß gar nicht, wie lange der böser Zauber währte. Und dann verschwand er, alles verwandelte sich in Dinge, die ich so schon gesehen hatte, der Film wurde zu der Imitation eines Terrorfilms, das war kein Terrorkino, kein Film, der in meinem Kopf saß, mit einem breiten Grinsen und mir drohte, dass hier jeden Moment alles in die Luft fliegen würde.

Die Autoverfolgungsjagd, schlecht, so wie ein Rennen auf einem Jahrmarkt, ein Rennen beim Autoscooter. Ich rempel dich, du rempelst mich, wir rempeln, bis wir die Langweile in den Film gerempelt haben, bis nichts mehr von den bizarren und morbiden Bildern übrig bleibt, die zuvor wie ein schleichender Leichenwagen durch den Film fuhren. Schlägerei folgte Schlägerei, keine kinetischen Offenbarungen, sondern nur die Suche nach dem Ende des Films, meine Suche, die sich nicht einstellen wollte.

Ich mag den Film nicht, weil er die Kunst, die man ihm unterstellt, spielt. Er ist ein Falschmünzer, ein Türsteher, der vor einem Club steht, in dem nichts zu finden ist, es gibt nur den Türsteher und sein Versprechen eines großartigen Erlebnisses. Er ist eine Mogelpackung, die trotzdem ihre Momente hatte, ihre ersten Bilder, ihren Einstieg, der zum besten gehört, was ich im scheidenden Jahr sehen durfte. Er ist ein Vorhallenfilm, einer, der mit einer großen Dunkelheit beginnt, die rasch zu einer von vielen Nächten verkommt. Er bietet mir eine Dunkelheit, die ich bereits kenne, leider, denn ich hätte so gerne einen Film entdeckt, wie ihn mir Oliver Nöding versprochen hatte, und er hat ihn ja auch gesehen, der Glückliche, nur ich eben nicht, aber das ist nicht weiter schlimm, weil ich so auf Filme stoße, die ich mir vermutlich nie angesehen hätte, und man lebt doch auch der Dinge wegen, die man nicht mag, die einen abstoßen, sie werden auch Teil unserer Hirnasservatenkammer, in die man alles das packt, was man an den Tatorten seines Lebens fand, all die Waffen, die einen umbringen sollten, die einen stechen und bluten lassen wollten, auch wenn sie es nicht schafften. Sie werden zur Geschichte, zu unserer Geschichte; wir sind das, was wir finden, oder auch das, was uns aufspürt.

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Die Einsamkeit der Seitenstraße

Wie man sich wohl fühlt, als kaum wahrgenommene Seitenstraße? Nagt die Einsamkeit am Teer? Man altert und altert, bis die Stadtoberen beschließen, eine Schönheitsoperation vornehmen zu lassen. Facelifting. Eine neue Schicht wird über das Gesicht gezogen, sodass nichts von dem übrig bleibt, was einen über so viele Jahre prägte. Die wenigen Autos, die über einen rollten. Die schnellen Nummern(schilder) am Abend und am Morgen. Dazwischen nur das Warten auf die Rückkehr der Geliebten. Nicht einmal Altenheime gibt es, in denen sie einen unterbringen könnten. Man wird versteckt wie eine Lüge, ein Geheimnis, von dem niemand etwas wissen soll. Kinder spielen nicht auf ihr, weil jene, die hier wohnen, ihre Ruhe haben wollen. Es ist zum Weinen, und wenn man über sie läuft und ihre Risse sieht, ihre Falten, die sie ganz allein für sich aushalten muss, dann kann einem schon der Atem stocken. Da ist niemand, mit dem sie sprechen kann.

Einst sehnte sie sich nach der Hauptstraße, die nicht weit entfernt liegt. Wunderschön ist sie. Begehrt. Stark befahren. Ein Hit unter den Straßen. Eine, die man nicht vergisst.

Heute tut der Seitenstraße die Hauptstraße leid. So benutzt. Eine Hure, die übergangen wird, als wäre sie ein Nichts. Nein, auch die Hauptstraße wird nicht wirklich wahrgenommen.

Sie sind das, was die Menschen aus ihnen gemacht haben.

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Guldaer Notizen (16)

Erste Schüsse tönen durch die Straßen und künden von den Aufständen, die Gulda zu erschüttern drohen. Die „Allianz gegen 2013“ will das >>>>neue Jahr verhindern, wenn es sein muss, auch indem man das alte, so die Allianz in einer ihrer Videobotschaften, besetze.

Bürgermeister Höller hat die Bevölkerung gebeten, sich dem Zeitterror zu widersetzen. Das neue Jahr werde pünktlich am 31. Dezember gegen Mitternacht die Stadttore passieren.

Der Rädelsführer der Allianz, Ottmar Laden, kündigte an, solle es zu einem Einmarsch des neuen Jahres kommen, werde man auch aus dem Untergrund zu kämpfen wissen, aber ruhen, nein, ruhen werde man nicht.

Es brodelt in der Stadt. Ein Krieg scheint kaum noch zu vermeiden zu sein.

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Guldaer Notizen (15)

Die Sonne muss sich verirrt haben. Schnee müsste liegen. Oder es müsste regnen. Hageln könnte es auch. Aber Sonne?

Die Guldaer würden ihr ja gerne den rechten Weg weisen. Sie müsste längst woanders sein. Irgendwo im Süden. Da scheint sie doch gerne, das hat man im Fernsehen sehen können. Vielleicht Mallorca. Hawaii.

Wie stellen wir es nur an, dass sie weiterzieht, fragen die Guldaer sich. Wie stellen wir einen Kontakt zur Sonne her? Wie sollen wir mit ihr kommunizieren?

Man könnte sich auf Leitern stellen, die auf den höchsten Hügeln der Umgebung stehen, gehalten von den stärksten Männern. Einer, ein kleiner Kerl, müsste hinaufklettern und die Sonne anstrahlen, denn aufs Strahlen versteht sie sich.

Das Strahlen würde nicht reichen, erklären Kritiker. Man müsste die Sonne mit Wasserbomben bewerfen. Sie verjagen. Man könnte ihr mit der Nacht drohen. Ein dunkler Geselle, der, wenn er sein letztes Sternbier getrunken hat, bestimmt hier auftauchen wird, um ihr, der Sonne, eins auf die Nase zu geben.

Alles Unsinn, schimpfen die Sonnenanbeter. Man solle der Sonne danken, dass sie sich ausgerechnet zu dieser Jahreszeit so sehr um ihre Kinder müht. Man sollte auf die Knie fallen. Ein paar Opfer bringen. Mehr nicht.

Wie man es auch dreht und wendet, es herrscht Uneinigkeit unter den Guldaern über den Stand der Sonne.

 

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Guldaer Notizen (14)

Willem Kong ist an diesem Morgen gestresst.

Erst musste er eine Zigarette rauchen, dann einen Kaffee trinken, und schließlich saß er noch zwei Stunden in seinem Lieblingssessel und lauschte dem inneren Geräusch seines Ohrs, das ihn an das Brausen des Windes auf offener See erinnerte. Er deutete es zumindest so, auch wenn er es noch nie in natura hören durfte.

Er stellte sich vor, dass er der Kapitän eines Piratenschiffs sei, das sich auf dem Weg nach China befand. Stolz stand er neben dem Steuermann, der ihn plötzlich mit dem verkniffenen Gesichtsausdruck seiner Frau musterte und ihn darauf hinwies, dass er sich jetzt gefälligst aus dem Sessel bequemen solle, denn schließlich müsse man noch einkaufen gehen. Der Kühlschrank fülle sich nicht von allein.

Widerstrebend öffnete Kong die Augen und nickte.

Ja, dachte er, ein Piratenleben ist wahrlich gefährlich. Eben bist du noch an Bord deines eigenen Schiffes, um im nächsten Augenblick bereits in Ketten auf den Sklavenmarkt geführt zu werden.

Aber wer weiß, vielleicht würde es ihm ja gelingen zu fliehen.

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Guldaer Notizen (13)

Der Samstag und der Sonntag bilden den Innenhof des Wochengefängnisses. Der Freitag ist die Tür, die den Guldaern aufgetan wird, damit sie sich ein wenig die Gedanken und die Füße vertreten können. Ist es erst wieder Montagmorgen, müssen alle in ihren Zellen zurück sein. Wehe, es fehlt einer, dann ist das Theater groß.

Bis es soweit ist, probieren sie eine Freiheit, die begrenzt ist. (Es gibt keine unbegrenzte Freiheit. Höchstens man ist das Universum selbst.)

Manche von ihnen sitzen im Sand und bauen mit einer Schaufel ein Haus. Andere tun so, als ob sie ins Kino gehen würden. Viele geraten wegen der Enge des Hofs in Streit. Meist sind es die Ehepaare, die sich bereits die Woche über ertragen müssen, und die nun nicht einsehen wollen, wo denn die versprochene – wenn auch begrenzte – Freiheit zu finden sei. Sie liegen sich in den Haaren, reißen daran, bis sie sich den nächsten Friseurbesuch ersparen können.

Immer ist einer darunter, der die anderen beruhigen, der sie auf die Schönheit der Natur aufmerksam machen will. Niemand hat seinen Blick, nur er. Niemand kann den Wald sehen, der aus einem Baum in der Mitte des Hofs bestehen soll.

Da ist doch kein Wald, erklären sie ihm, das ist nur ein Baum.  Er lächelt sie selig an, ganz verzaubert ist er von sich und der Stimmung des Augenblicks, und erwidert, dass das Paradies stets mit einem Baum beginne, mit weniger noch: mit einem Grashalm, der Idee eines Grashalms, mit einem Lächeln. Gläubige, die an seinen Lippen  wie an einem Felsvorsprung hängen, finden sich stets, weil es in jeder Gemeinschaft Leute gibt, die Gefahr laufen, den Halt zu verlieren. Sie klammern sich an alles, was ihrer Hoffnungslosigkeit wieder auf die Füße helfen könnte. Sie nicken und nicken, und wenn der Prediger sie auffordert, sich von allem Hab und Gut zu trennen, weil es sie schwer mache und nicht zu den Engeln fliegen lasse, leeren sie ihre Taschen, eilig, denn das Wochenende verstreicht und sie haben sich noch nicht aus dem Innenhof befreien können.

Es ist ein wildes verrücktes Treiben, das man dort beobachten kann. (Am besten genießt man es von einem der Wachtürme aus.) Man muss es gesehen haben. Gefangene, die „Einkaufsstraße“ spielen, die sich in ein Luftrestaurant setzen und sich die Bäuche mit Blättern vollschlagen. Männer pressen Luft durch die geschlossenen Lippen und tun so, als würden sie Motorrad fahren.

Ist erst der Montag erreicht, werden sie in ihren Zellen sitzen und Versicherungsunterlagen unterschreiben, sie werden Bankangestellte sein, die die Konten der Mitgefangenen auszuplündern versuchen, sie werden Seife und Shampoo verkaufen und sich unentwegt nach dem Innenhof sehnen. Im Sommer dürfen sie ihn drei Wochen betreten. Heisa, das wird ein Fest werden. Ihre Münder biegen sich bereits jetzt unter der Last der Vorfreude.

Und dann schaben sie mit ihrem Löffel eine weitere Kerbe in die Wand neben ihrem Bett und träumen von den Kerben, die noch fehlen, bis sie ihren dreiwöchigen Innenhofurlaub antreten dürfen.

Nein, das Leben ist nicht schlecht, sagen die Guldaer. Man muss sich seine Zelle nur gemütlich einrichten, dann kommt die Lebensqualität schon von ganz allein.

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Guldaer Notizen (12)

Willem Kong ist der unbekannteste Heimatdichter Guldas. Er ist so unbekannt, dass ihn seine Frau bereits zweimal für einen Einbrecher hielt und den Hund auf ihn hetzte. Der Hund erkannte ihn selbstverständlich auch nicht und verbiss sich in seinem Hinterteil. Selbst seinem Arbeitgeber (Kong kann, Sie werden es längst vermutet haben, nicht von seinem Schreiben leben und arbeitet deshalb beim Amt für Verbrechensförderung) muss er täglich Rede und Antwort stehen, wer er überhaupt ist. Seine Kollegen beäugen ihn misstrauisch.

„Was will der Fremde da?“, flüstern sie hinter vorgehaltener Hand, manchmal aber auch ganz offen, so dass Kong es hören kann.

Kong hat sich ein T-Shirt machen lassen, auf dem zu lesen steht: Ich bin Willem Kong, Nachbar, Freund, Arbeitskollege, Ehemann, Verwandter.

Willem Kong schreibt momentan an seinem neuen Roman mit dem Titel „Ich“.

„Ich“ handelt von einem Mann, der von seiner Mutter Ich getauft wurde. Seine Eltern sterben bei einem Überfall auf das Milchgeschäft des Dorfes, in dem sie gerade ihre Kuh verkaufen wollten. Ich kommt in ein Waisenhaus. Er hält es dort nur wenige Tages aus, dann türmt Ich und hat allerlei Abenteuer mit Handtaschenräubern, Exhibitionisten und Fallschirmspringern zu bestehen.

„Ich“ ist ein schlechter Roman, und Kong weiß auch gar nicht, warum er noch an ihm schreibt. Es könnte am Titel liegen, der ihm gefällt.

Wenn Kong von der Arbeit nach Hause kommt, und nachdem er seiner Frau erklären konnte, wer er ist, setzt er sich an „Ich“.

Der Roman wird ihm von Tag zu Tag fremder. Ja, er erkennt ihn kaum wieder. Kaum zu glauben, dass die ganzen Worte von ihm sein sollen. Sie klingen, als hätte ein anderer sie geschrieben.

Kong schüttelt den Kopf und setzt sich vor den Fernseher. Er sieht sich „Adel verpflichtet“ an, weil der Film ihn von seinen Sorgen und Nöten ablenken soll.

Er hat ihn sich bereits eine halbe Stunde angesehen, als seine Frau plötzlich aufschreit, ihn entsetzt anblickt und wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer stürmt. Kong schüttelt betrübt den Kopf und konzentriert sich wieder auf Alec Guinness.