Ein Fall für Kommissar Zufall
Als Kind träumte ich oft von Teneriffa, und dies, obwohl ich die Insel nur aus dem Fernsehen kannte. Ich saß in einem der zahllosen schäbigen teneriffianischen Restaurants, die Pustekuchen anboten. Pustekuchen, so dachte ich lange, sei die typische Speise dieser weltberühmten Packeisinsel. Erst später sollte ich erfahren, dass ich falsch geträumt hatte. (Falsch zu träumen, entwickelte sich zu einer meiner jugendlichen Traumata.) Typisch war nicht Pustekuchen, sondern Robbenkloppersalat. Man muss junge Robben siebzehn Minuten windelweich kloppen, mit einem Teppichklopper oder einem Klopper, den man sich von einer der Schulen für Halbstarke besorgt. Anschließend zieht man die Windeln mit einem Abzieher ab. Danach muss man das Ganze noch mit Himbeermoschusochsenbalsamicoessig abschmecken. Kühl servieren.
Teneriffa zählt zu den weltweit größten Inseln mit einem riesigen Gesamtumfang. Es leben dort schätzungsweise 1 Milliarde Leute, die sich hauptsächlich vom Fischfang und dem Tourismus ernähren. Doch weiter im ereignisreichen Verlauf dieser mordsmäßig guten Erzählung. Teneriffa wurde im Jahr 1967 von dem spanischen Immobilienmakler Jose Cortez für seine Schwester gebaut, die sich seit ihrer Pubertät in den Ardennen nichts sehnlicher als eine eigene Insel gewünscht hatte.
Genug der Fakten. Steigen wir in das mit Action randvoll gefüllte Becken der Geschehnisse.
Mein Name ist Kommissar Zufall. Ich bin Privatdetektiv. Nicht nur irgendein Detektiv, sondern der beste Detektiv, den ich kenne. Merken Sie sich meinen Namen! Kommissar Zufall. (Ich werde Sie bei Gelegenheit abfragen!) Ich verdanke meinen Vornamen einer Laune von Mutter Zufall, die, als sie mit mir hochschwanger (sie war wirklich sehr hochschwanger!) war, vor dem Fernseher einen Krimi sah, in dem ein Kommissar einen Wagen vorfahren ließ. Das gefiel ihr so sehr, dass sie dachte, Kommissar sei der richtige Name für einen zukünftigen Kommissar. Leider wurde nichts aus ihrem Berufswunsch für mich. Ich entschied mich anders und gründete die Detektei Kommissar Zufall.
Als Kind löste ich bereits eine Menge Fälle, so den Fall der Berliner Mauer, den ich im Fernsehen verfolgte. Ich klärte meine Familie darüber auf, dass der Fall gelöst sei, weil es zukünftig keine Mauer mehr gebe. Sie konnten es nicht glauben. Meine Mutter weinte sogar, weil sie Verwandtschaft im Osten hatte, die sie – so hatte sie gehofft – nie wieder sehen würde. Falsch gedacht!
Um mich zu trainieren, saß ich die ganze Zeit über am Fenster und beobachtete mit meiner Oma die Straße. Was da alles los war! Wir notierten alles. Zahllose Autonummern. Wir kamen mit dem Notieren gar nicht hinterher, weil wir an einer stark befahrenen Kreuzung wohnten. Unaufhörlich kamen Autos und Menschen vorüber. Es war zum Lachen schön. Und so saßen wir da. Meine Oma und ich. Lauthals lachend, und notierend.
Davon will ich heute nicht berichten, sondern von einem meiner letzten Fälle, der mich nach Teneriffa führte, jener wunderbar mysteriösen Insel, die die meiste Zeit kaum zu erreichen ist, weil sie eingeschneit ist. Ich hatte den Auftrag erhalten, ein paar Tage vor Ort zu recherchieren. Leider hatte ich kurz nach meiner Ankunft vergessen, worüber.
Ich war mit einem Billigflieger geflogen. Es war eine stürmische Überfahrt, die mein Nervenkostüm arg strapazierte. Ich hatte den Notausgang geöffnet und übergab mich unaufhörlich. Gezeter und Gemecker der anderen Fluggäste, dass es fürchterlich ziehen würde. Ich ließ mich davon nicht aus der Ruhe bringen. Ich war viel zu sehr mit mir und meinem Körper beschäftigt, den ich normalerweise in einem Fuldaer Fitnessclub stählte. Ich hatte eine Dauerkarte, die es mir erlaubte, Tag und Nacht Gewichte zu stemmen. Ich liebte mich und meine Muskeln, die ich gerne auch zum Vergnügen junger Damen in Bewegung brachte. Man jauchzte und wollte sie anfassen, wogegen ich nichts hatte. Gar nichts. Immerhin war ich stolz auf meinen gebildeten Körper.
Nachdem ich mich ausgekotzt hatte, setzte ich mich in meinen zu engen Sessel zurück, der nicht einmal eine Massagevorrichtung besaß.
Nach etwa siebzehn Stunden kamen wir an.
Schneewehen schlugen mir entgegen. Der Geruch von gebratenen Schlittenhunden. Einheimische in Pelzmänteln rannten aufgeregt über die Start- und Landebahn und verstauten unsere Koffer in riesigen Schlittenbussen, die uns zu unseren Hotels bringen sollten. Wir waren alle in einem anderen untergebracht. Teneriffa verfügt über so viele Hotels, dass eine Zählung an der hohen Anzahl scheiterte. Ein Leben würde nicht ausreichen, sie alle zu erfassen. Ich wurde ins Golden Holden gebracht, benannt nach dem amerikanischen Schauspieler William Holden, glaube ich. Die an der Rezeption wussten von meiner Ankunft. Nette Leute in der Landestracht, die einen Eisbären bei der Jagd zeigt.
Da saß ich also. Deutschlands berühmtester Detektiv, gestrandet auf der Insel des Eises und des Schnees. Ich wählte die Nummer vom Zimmerservice und ließ mir ein typisches einheimisches Gericht bringen. Teuer, aber wenn ich schon mal hier war, wollte ich auch das Gericht, das aus einem Richter und elf Geschworenen bestand. Wo war der zwölfte? Ich mokierte und man ließ etwas im Preis nach. Nachher schlief ich seelenruhig, fast wie ein teneriffianisches Robbenbaby, bevor es von bösartigen Robbenbabyjägern erlegt wird. Selbst im Schlaf schwollen meine Muskeln ab und an bzw. an und ab.
Als ich am nächsten Tag erwachte, waren die Schneestürme, von denen sie im Fernsehen berichtet hatten, eingetroffen. Ich saß aufrecht im Bett und dachte an meine Oma, auch überlegte ich fieberhaft, warum man mich überhaupt hierher geschickt hatte. Um mich von meinen überfallartigen Gedanken abzulenken, machte ich ein paar Kniebeugen, außerdem stemmte ich die Kommode, in der meine Socken untergebracht waren. Training beruhigt mich.
Plötzlich ertönte ein Schuss. Mein Blick sauste aufgeregt wie eine Biene durchs Zimmer. Wo ein Schuss ertönt war, befand sich auch eine Waffe und ein Schütze. Das könnte ein weiterer Fall für Kommissar Zufall sein.
Um mich auf den Fall vorzubereiten, schaltete ich den Fernseher an und suchte nach einer Detektivserie. Da! Ich war auf dem Kanal gelandet, der 24 Stunden in der Woche Magnum zeigte. Gierig starrte ich auf den Bart von Tom Selleck. Wie er sich wieder mit dem Mann stritt, der die Hunde abrichtete, wenn Sie wissen, wen ich meine. Herrlich! Ich knetete das Kissen, bis es die Form eines Herzens hatte. Ich liege lieber in einem liebevoll zubereiteten Kissen. Den Schuss hatte ich nicht vergessen, natürlich nicht, dafür bin ich selbst viel zu viel Detektiv, als dass ich ein Verbrechen ungesühnt lassen könnte.
Jemand hatte an meine Tür geklopft! Ich musste eingeschlafen sein, mindestens 24 Stunden, den es lief keine Folge von Magnum mehr. Scheiße. Jetzt hatte ich die Auflösung verpasst. Ich mühte mich mühevoll aus dem Bett. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Außerdem schüttelte ich erst die Decke auf, das hatten mir meine Eltern beigebracht. Die Erziehung hängt in einem drin. Die kann man nicht so einfach abschütteln. Rasch noch das Kissen geknetet, dieses Mal zu einem Frosch, der kurz vor der Verwandlung in einen Prinzen stand, und schon spurtete ich die vier Meter zur Tür. Enthusiastisch riss ich sie aus ihren Angeln. (Es war eine der typischen teneriffianischen Türen, die an Angelruten befestigt war. Fremde Länder, fremde Sitten. Obwohl das kein Land war, sondern eine Insel. Egal.) Ich trat gewichtigen Schrittes auf den Flur hinaus. Niemand zu sehen. Frechheit. So lange hatte ich für das Bett ja nun auch wieder nicht gebraucht. Diese Inländer bzw. Ininsulaner hatten die Geduld eben nicht mit der Muttermilch eingesogen, wie ich es getan hatte.
Geduld war mein zweiter Vorname. Kommissar Geduld Zufall. Die meisten Leute hielten es für einen schlechten Scherz, wenn ich sie über meine Namen in Kenntnis setzte. Nein. Es lag wohl daran, dass meine Eltern Hippies gewesen waren. Freie Wesen, die in einem Wohnwagen durch die Lande zogen, bevor sie in jener Wohnung, an der von mir bereits erwähnten befahrenen Kreuzung, ihren Hauptwohnsitz einrichteten. Vielleicht weil Oma nicht mehr konnte. Ständig nackt, das war für alte Frau von über 80 nichts mehr.
Ich wollte und konnte diesen klopfenden Zwischenfall nicht auf mir sitzen lassen. Außerdem wartete der Fall des Schusses noch auf mich. Rasch zog ich meinen Bademantel über, den ich für solche Gelegenheiten dabei habe. Ich klopfte an einigen Türen, um Befragungen, die mir nötig erschienen, durchzuführen. Bei der ersten Tür, öffnete mir eine nackte Frau, die mich an Oma erinnerte, nur fünfzig Jahre jünger. Ich wollte wissen, was sie hier mache. Außerdem verlangte ich ihren Ausweise. Ich ermahnte sie, dass sie sich mal was anziehen sollte, immerhin befanden wir uns auf der Insel des Packeises. Hier hatte man sich schnell einen Schnupfen geholt.
An der dritten Türe verließ mich die Lust. Ich wanderte in mein Zimmer zurück und konnte gerade noch sehen, wie unten ein Gast von der Polizei auf einem Hundeschlitten verstaut wurde. Aha, der Schütze, schoss es mir ungestüm und wortgewaltig durch mein Hirn.
Um mich zu besänftigen, machte ich abermals den Fernseher an. Die Nachrichten liefen gerade und der Sprecher berichtete, dass Kommissar Zufall einen der meistgesuchtesten Täter der Eisinsel Teneriffa der Polizei zugeführt hatte. Kommissar Zufall! Das war doch ich. Ich konnte es nicht glauben. Da hatten meine zähen Befragungen an den Hotelzimmertüren also doch zum Erfolg geführt.
Ich griff zum Telefon und rief meinen Freund Tannhäuser in Frankfurt an. Ohne viel Umschweife schilderte ich ihm, dass ich, kaum auf Teneriffa angekommen, und nachdem ich das Landesgericht gekostet hatte, obwohl Gerichte nicht mein Fall waren, einen Fall um einen Schützen gelöst hätte, der aus unerfindlichen Gründen im Hotel geschossen hatte. Tannhäuser lobte mich mehrmals aufgeregt, bis ich ihn darauf hinwies, dass Schleimereien an mir abprallten. Aufgelegt. Mit einer charmanten Bewegung, die ihresgleichen im internationalen Detektivwesen sucht, knallte ich den Hörer auf die Gabel, die noch vom späten Frühstück übrig war. Diese Unordnung erinnerte mich an meine Hippieeltern, denen es ein Gräuel war, wenn man aufräumte. Sie mokierten sich ständig über mein Zimmer, wenn wieder mal alles übersichtlich im Schrank verstaut war. Mama meinte, sie hätte als Mutter versagt, was ich so nicht durchgehen lassen konnte. Ich bat sie meist nach solchen Ausbrüchen zu einem Gespräch, dass leider fruchtlos verlief, da meine Mutter sich in Erziehungsfragen nicht von einem Fünfjährigen beraten lassen wollte.
Da der Fall gelöst war, konnte ich wieder abreisen. Dieses Bild stand mir klar vor Augen. Ich packte rasch ein paar Unterhosen, die der Gast vor mir vergessen haben musste, und verabschiedete mich mit dem Hinweis, dass ich jederzeit bereit wäre, in und um Teneriffa herum, dem Verbrechen Einhalt zu gebieten.
Der Schneeschlittenbus hatte Verspätung, die ich damit zubrachte, einige Schneehaufen zu fotografieren. Auch die Häuser der Einwohner, die zur Gänze aus Schnee gemacht waren, mussten gebannt werden. Da würde sich Tannhäuser aber freuen. Die Fotos könnten auch ans Detektivmagazin Spanner gesandt werden. Die waren immer froh, wenn sie eine Story über mich bringen konnten. Kommissar Zufall löst schon wieder einen Fall. Ich sah die Schlagzeile bereits vor mir. Da! Der Bus zum Flughafen. Vermummte Frauen drängelten sich vor. Das konnte so nicht sein. Wo blieb denn da die Gastfreundschaft? Ich zerrte eine dicke Person zurück und verwies ihre Nase an einen Schneehaufen. Hiebe nach rechts und links, und schon hatte ich mir einen Platz ergattert. Ging doch, wenn alle sich bemühten.
Mehr gibt es nicht zu erzählen. Tannhäuser holte mich vom Flughafen ab, weil er so eingeschneit war, dass monatelang kein Flieger starten sollte. Wir fuhren mit seinem Schneemobil direkt von Teneriffa nach Frankfurt. Unterwegs löste ich noch ein paar Fälle, unter anderem in Städten wie Beirut, die mir aber wegen ihres Straßenlärms den letzten Schlaf raubten.
Ich muss zugeben, Teneriffa hing mir lange nach. Selten hatte ein Fall mich so aufgewühlt, aber zum Glück hatte mein Unterbewusstsein den Fall wieder einmal ohne mein eigentliches Zutun lösen können.
Ich bin der geborene Detektiv.
In Frankfurt war alles wie immer. Ich wohnte ja seit Jahren in Fulda, hatte aber in der Bundeshauptstadt eine Zweitwohnung, direkt neben dem Bundeskanzlerinnenamt. Ich wollte mich gerade in die Wanne legen, als das Telefon läutete. Es war der Außenminister, der einen Auftrag für mich in Dublin, der Stadt der Wasserkanäle, hatte.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Rezept Robbenkloppersalat:
– junge Robben genau siebzehn Minuten windelweich kloppen
– anschließend zieht man die Windeln mit einem Abzieher ab
– danach mit Himbeermoschusochsenbalsamicoessig abschmecken
– kühl servieren