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Der Autor, den sie Horse nannten

Dienstag

Kaum war ich aus Wien zurück, warteten bereits die nächsten Aufgaben auf mich. Für einen Schriftsteller gibt es immer etwas zu tun. Die Villa musste wieder einmal gründlich kontrolliert werden. Hatten die Putzmänner etwa geschludert? Mit einem weißen Handschuh fuhr ich über die Möbel. Der zweite kam dazu. Ein erstes Rennen meiner Hände wurde ausgetragen. Links lag vorne, drückte sich in die Innenkurve des runden Esstischs. Früher fuhr ich – Sie werden sich erinnern, und wenn nicht, werden Ihre Eltern Ihnen davon erzählt haben – professionelle Handrennen. Der reinste Circus. Wir zogen von Land zu Land. Von Tisch zu Tisch. Die Rennleitung mietete sie in den besten Hotels der Welt an. Wir galten als tollkühne Helden der Tische. Unfälle gab es zuhauf. In Rio brach sich Nicki Leiser seinen Mittelfinger. Ein tragischer Zwischenfall, der ihm seine Karriere kostete.

Ich lenke ab. Ich fuhr also, aus Gründen der Qualitätskontrolle, ein Rennen mit meinen in weiße Handschuhe gepackten Händen. Und was musste ich entdecken? Ein Staubkorn. Ich ließ die Putzmänner kommen, ließ sie in Reih und Glied antreten. So etwas dürfe nicht mehr vorkommen, erklärte ich. Immerhin war ich nur drei Tage in Wien, in der dortigen Außenstadt, um mich mit einer Bloggerin zu treffen. Gemurmel brandete an mein linkes Ohr. Das rechte vernahm nichts. Deshalb behaupten also manche, ich sei auf dem rechten Ohr taub. Ja, sie hätten richtig gehört. Eine Bloggerin, der ich ein Interview gegeben habe. Tanzend. Im Regen. Die Beifallsbekundungen der Putzmänner schreckten mich aus meinen Tagträumen auf. Wien lag hinter mir. Meine Frau dürfte es nie erfahren. Dabei war gar nichts geschehen.

In diesem Moment wehte Bettina (Name geändert) herein. Unter dem Arm einen Thriller. Sie gilt als die mächtigste Leserin der Welt. Siebzehn Bücher in zwei Tagen. Sie liest sie alle an die Wand.

„Zurück?“, rief sie. Ich blinzelte ihr zu. Sie ließ das Buch fallen, griff nach meiner Hand.

Wir verschwanden im Schlafzimmer. Hemmungsloser Sex. Achtmal. Ich fuhr Handrennen auf ihren Brüsten. Zwischenstopp am Bauchnabel. Reifenwechsel. Und weiter ging es.

Erschöpft lag sie schließlich neben mir.

„Früher“, sagte sie und keuchte, „früher hast du mehr Runden gepackt.“

Die Gewissheit traf mich mit einem gezielten Schlag. Das Alter machte auch vor mir nicht halt. Ich war siebenundzwanzig. Gott, ich verfiel. Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt.

Guten Morgen, Welt!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Dienstag

Ich zuckte zusammen. Was war das?

Eine riesige Spinne hatte meine rechte Hand angefallen. Ich hatte schon von diesen Monstern gehört. Oder geträumt? Fliegende Spinnen, die sich auf rechte Schriftstellerhände spezialisiert hatten. Sie stürzten sich von der Decke, an der sie sich oft über Tage festhielten. Mit ihren an den Füßen befestigten Saugnäpfen. Dort saßen sie und harrten der rechten Hand, die kommen musste. Nie erwischte es eine linke Hand. Beine überhaupt nie. Bäuche schienen tabu.

Ich schüttelte sie von meiner Hand, dieser für mich so lebenswichtigen Hand, die ich noch brauchte. Was würde ich ohne sie tun? Umsatteln auf die linke Hand. Meine Kollegen würden mich auslachen. Ich würde zum Gespött des Betriebs. Da kommt er, der linke Autor, würden sie feixen. Sie würden mich auf der bald beginnenden Buchmesse nachäffen. Ich sah es bereits vor mir. Eine Gruppe halbstarker Autoren des Suhrkamp-Verlags, die hinter mir herliefen und mit der linken Hand in die Luft tippten.

Rasch untersuchte ich mein Schreibwerkzeug. Nichts geschehen, zumindest sah es so aus. Nur diese kleine Schwellung, die sicherlich zurückgehen würde. Und die Spinne? Sie war mir entkommen, war unter den Schreibtisch gehuscht und klammerte sich mit ihren Saugnäpfen an die Wand. Sie war außer Atem. Das konnte man ihr ansehen. Der Angriff hatte sie Kraft gekostet. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Kaffee hilft gegen alles. Ein altes Rezept meiner Großmutter, die selig gegen Ende ihres Leben gestorben war. Sie war im Schlaf gegangen. Hatte sich mit 103 Jahren dazu entschieden, nicht mehr zu erwachen. Dazu später mehr.

Meine Frau kam um die Ecke gezischt. Marielle, mein stets geiles Eheweib. Wollte sie jetzt Sex? Ich würde nicht können. Ich starb. Und dies jämmerlich.

„Da, da, da“ stotterte ich und zeigte auf die Fliegenspinne, die sich unschuldig gab. Die aussah, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Die reine Ausgeburt der Hölle.

Marielle griff beherzt nach der Fliegenklatsche. Sie schlug zu: einmal, zweimal, unzählige Male. Sie schlug sich in einen regelrechten Rausch. Erschrocken zersprang das Tier in tausend Einzelteile. Keine Chance, sie noch mal zusammenzukleben. Aber wer wollte das schon? Ich nicht!

Es ist Wahnsinn, heller Wahnsinn, was ich täglich so erlebe.

Guten Morgen, Welt!

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Funkenmariechen des Todes

Mittwoch

Wieder und wieder sitze ich da und starre die Wand an. Meine Frauen versorgen mich mit dem Nötigsten. Sie bringen mir eine Handvoll Kies, weil ich ihn, so ihre Ausführungen, früher geschätzt hätte. Wenn ich einmal abtauchen sollte, könnte mich Kies retten. Das wären meine Worte gewesen. Sie reiben ihn auf meine Haut, bis sie rau wird und aufplatzt. Das Blut interessiert mich nicht. Es läuft aus den Wunden und verteilt sich in kleinen Pfützen auf dem Boden.

Ich denke, auch wenn ich mich momentan nicht äußere, dass sie Angst um mich haben. Die Wachen auf dem Dach wurden verdoppelt. Aus dem nahen Wald ist ein Horn zu hören.

Hin und wieder erwache ich aus meinem Zustand, schüttele den Kies ab, und spurte zum Rechner, um rasch ein paar Worte zu notieren. Ist das geschehen, kehre ich zu meinem Platz vor der Wand zurück.

Es gibt auf der Wand nichts zu sehen, auch wenn es alle vermuten. Sie können sich nicht vorstellen, warum man sich sonst vor eine Wand setzen sollte. Es ist mehr die Ruhe, die ich dort aufsuche. Das Nichts, das auf der Wand zu finden ist, beruhigt meine aufgebrachten Nerven.

Dies wird einer der wenigen Augenblicke sein, an denen ich nicht dort hocke und starre. Ich schreibe. Die Frauen wedeln mir Luft zu und wollen mich davon überzeugen, nicht vor die Wand zurückzukehren.

Ich denke nicht, dass ich auf sie hören werde. Die Wand hat eine Kraft, die ich benötige. Meine Augen saugen das starre Einerlei, das sie ausstrahlt, ein.

Sie sollten mich nicht besuchen kommen. Niemand sollte mich in diesem Zustand sehen.

 

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Funkenmariechen des Todes

Die Welt ist ein Wald aus Augenblicken

Ich sitze hier, denkt er, und starre die Wand an, und auch das ist das Leben, auch das ist Lebenszeit, wenn ich an einem Tisch sitze und warte, wenn ich im Bett liege und warte, wenn ich im Zug sitze und den Schaffner schon sehe, und nach meinem Ticket greife, und warte, das ist ja auch alles Zeit, denkt er und sieht sich im Spiegel an, sieht sich an, was ihn von dort ansieht, und er fragt sich, bin das ich, oder ist das ein anderer. Und weil er keine Antwort weiß, bekommt er Angst, und er blickt fort, hinaus aus dem Fenster. So viele Augenblicke, denkt er, die niemand etwas bedeuten, nicht einmal mir, der sie vergisst, weil es zu viele sind, weil man sie nicht alle aufbewahren kann, weil sie nichts bedeuten, obwohl wir nicht wissen, ob sie etwas bedeuten, oder nichts bedeuten. So viele Augenblicke, die in ihrer Summe unser Leben ergeben, bis zu dem Augenblick, in dem wir sterben. Und er weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll, also blickt er weiterhin aus dem Fenster, vor dem andere Leben ihre Augenblicke sehen. Die Welt ist ein Wald aus Augenblicken.

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Funkenmariechen des Todes

Empörend

Ich bin ja heute Morgen aufgewacht.

Schon wieder!, fluchte ich entrüstet.

Die Wand sah mich stur an. Sie sagte kein Wort. Das Licht kam von draußen. Ich verwies es des Zimmers.

Drauf drehte ich mich wie ein Pfannkuchen in seiner Pfanne. Farbe von allen Seiten, damit ich Geschmack auf mich bekomme. Zum Reinbeißen, dachte ich.

Mit einem Schrei fuhr ich empor. Empörend diese Träume vor dem eigentlichen Erwachen.

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Funkenmariechen des Todes

Arschgeigen

Das ist doch eine Scheiße. Den Stift möchte man dem in die Stirn hauen, der es rausbekommen hat, alte Sau.

Das wird sie sich nicht gefallen lassen, die Ministerin. Schließlich ist man wer oder was, wie ist man auch, irgendwo und irgendwann. Man versteht ja die eigenen Worte im Kopf nicht mehr. Jetzt soll man den Doktor hergeben, als ob der an der Garderobe hängen würde. Da hat man sich dran gewöhnt. Da hat man ein Recht.

Der bleibt hier, sagt sich die Ministerin und putzt sich die Brille. Mal gucken, ob das alles stimmt, was die schreiben, die Journalisten, die Kanaillen, die Säufer, Penner. So ein Journalist gehört an die Wand.

Das hat sie sich jetzt nur gedacht. Ausgedacht. Hier oben im Koppe. Der bringt alles fertig. Auch einen Betrug. Das machen doch alle so. Jetzt kommt mir doch nicht blöd, denkt sie.

Nicht mit mir. Sie wird den Titel im Keller verstecken. Da könnt ihr mal suchen, Affenbande.

Der Titel bleibt hier. So oder so.

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Funkenmariechen des Todes

Ideenlos

Das ist ja immer so eine Sache mit der Spannung. Der Autor hält inne und beobachtet seinen Agenten, von ihm erschaffen, geboren in seinem kühnen Hirn. Dahin schreitet das Wesen, das merkwürdige, sich an der Türklinke vergehend, als ob sie ein junges zartes Mädchen wäre.

Vergewaltigung, möchte man aufschreien, unterlässt es aber.

Wie, so sinnt das geniale Autorenhirn, soll es weitergehen? Wer steht vor der Tür?

Figuren führen ein Eigenleben. Auch der Autor ist gespannt. Mühsam beugt er sein Haupt in den Text, über all die Buchstaben hinweg, um zu ersehen, wer oder was sich vor der Tür auffinden lassen könnte.

Knarrend öffnet sich die Tür, von Agentenhand gezogen, bis sie rechts an der Wand einen Widerstand findet, der sich aufgrund seiner baulichen Substanz nicht so einfach wegdenken lässt.

Zu aller Enttäuschung steht niemand im Türloch und grüßt. Kein Neuankömmling, der die Geschichte befördern will.

Ach, es ist mehr als eine Schmach für diesen Textteil, so ganz ohne Spannung auskommen zu müssen.

Wer hat denn nun geklingelt? Ein Nachbarsjunge. Der Philosoph von unten?

Sprecht, ihr unmündigen Leser, solltet ihr die Antwort kennen.

Der Autor indes lehnt sich zurück, hat er sich doch diese Zeilen nicht ersparen können, und dies, obwohl er ohne Idee an diesem Morgen vor seinem Roman saß.

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Funkenmariechen des Todes

Guldaer Notizen (2)

Mit großen Augen, Meeraugen, in denen man ersaufen möchte, stehen die Kinder unter dem Geweih, das der Vater vor einigen Tagen im Wohnzimmer an der Wand anbrachte. Zahllose bunte Päckchen liegen darunter.

Nur wenige Stunden noch, dann werden die Kinder das Papier hastig, mit Schweißperlen auf der Stirn, von den Geschenken reißen, um es zu falten und zu bewundern. „Seht her!“ wird ein Blondschopf rufen, dem ein rotes Papier mit Goldsternen Tränen in die Augen schießen lassen wird. Die Pappschachteln, leer, da sie nur für das Papier gekauft wurden, werden zurückbleiben, bis der Vater sie einsammeln und wegwerfen wird.

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Funkenmariechen des Todes

Wenn die Wandlungen ein Lied pfeifen, dann geh hin und lausche

Die Wand steht ihren Mann. Standhaft erträgt sie jede Fliege, die sich auf ihr verirrt. Sie verspürt keinen Durst. Hunger ist ihr ein Fremdwort. Geduld ist ihr keine Tugend, sondern ihr Alltag, der keine Wochenenden, keiner Ferien kennt. Nie jammert sie. Fürchtet nicht das Dunkel. Und sollte sie doch Angst verspüren, so spricht sie zumindest nicht darüber. Kerzengerade salutiert sie jedem, der eintritt. Sie blinzelt nicht mit den Augen. Verliert keine überflüssigen Worte. Sie schweigt über die Gespräche, deren Zeuge sie wird. Kein Bild verschönert sie. Nichts hängt an ihr. Rechts trifft sie auf ein Fenster, links auf eine Kollegin, die von einer Tür durchwachsen ist.

Durchlässig ist die Kollegin. Menschen schreiten durch sie hindurch. Es könnte sie kitzeln. Man weiß es nicht. Ist die Tür offen, sieht es aus, als würde die Wand laut lachen. Ein schallendes Gelächter, das einem rasch unheimlich wird. Männer mit Akten gehen durch die Türöffnung, durch das Loch, das verschließbar ist.

Die Wand ohne Tür könnte sehnsüchtig zur Kollegin blicken. Sie wurde deshalb noch nicht befragt. Würde sie auf eine solche Frage antworten, wäre das allemal einen Eintrag in eine der Akten wert. Noch hat niemand gefragt. Es sieht momentan nicht danach aus, als würde sich einer oder eine finden, der oder die eine solche Frage zu stellen gewillt ist.

Nur wenige hier denken über die Wände nach, die dies bemerkt haben könnten. Auch dazu äußerten sie sich bisher nicht.

Die Wand mit Tür, ist selbige geöffnet, lacht ein zahnloses Lachen. Zähne könnten eingesetzt werden, würden aber den Eintritt erschweren. Deshalb wird es wohl auch nicht zu solchen Implantaten kommen. Über Zahnärzte für Türöffnungen ist nichts bekannt. Einem solchen Beruf scheint es an Kundinnen zu mangeln.

Sitzt man vor der Wand ohne Tür, kann es zu einem kleinen Blickaustausch kommen. Die Wand mustert die Person, die an einem Schreibtisch vor ihr sitzt, während die Augen der Person eine Träumerei auf die weiße Fläche der Wand projizieren. Bilder aus der Kindheit der Person. Eine Sehnsucht. Manchmal auch der rasche Gedankenblitz, der sich fragt, ob die Wand über eine Art von Augen und Gedächtnis verfügt.

Die Wand überhört in Ermangelung von Ohren die Frage. Es ist nicht weiter schlimm, wurde sie doch nicht ausgesprochen. Gedankenleserei ist der Wand fremd, nicht aber die stille Hoffnung, einmal gestreichelt zu werden. Gestrichen wurde sie schon oft. Es tat ihr gut. Sie nahm es mit einem unterschwelligen Kichern, kaum vernehmbar, hin. Gestreichelt hat sie noch niemand.

Sie wird die Hoffnung nicht aufgeben. Sie lauscht auf die Buchstaben, die die Menschen aussprechen. Sie will lernen. Bald schon wird sie erste Wort flüstern. Vielleicht in der Nacht, wenn sie nicht gehört wird. Sie übt fleißig. Drei Buchstaben. ICH.

Man sollte die Wände nicht länger übersehen. Sollte sich an sie lehnen und horchen, ob etwas geflüstert wird. Es könnten drei Buchstaben sein.