Ich wuchs in einem Dorf auf, das so klein war, dass es nur zwei Häuser gab. Die Hauptstraße führte zwischen den beiden Häusern entlang. Mein Vater saß oft vor unserem Haus und starrte auf die Hauptstraße.
„Sei vorsichtig“, sagte meine Mutter zu ihm.
Er stellte einen Gartenstuhl auf und blickte auf den fehlenden Verkehr. Manchmal kam ein Auto vorbei. Dann geschah wieder stundenlang nichts. Mittags klappte er den Stuhl zusammen und kam ins Haus zum Essen. Er aß viel zu schnell, weil er nichts, was an der Hauptstraße geschah bzw. nicht geschah, verpassen wollte. Manchmal steckte er seinen Finger in den Mund und hielt ihn in den Wind. „Der Wind kommt von rechts“, sagte er. Das notierte er sich dann in sein kleines Notizbuch, dem er den Titel „Wie die Winde wehen“ gegeben hatte. Dort stand dann z.B.: 3. April 1981, Mittags 12.45 Uhr, leichter Wind von links. Es sollte ihm dabei helfen, sich zu erinnern.
…
1985 spielte ich mit dem Gedanken, eine Punkband zu gründen. Leider gab es in unserem Dorf niemand, der in meine Band gepasst hätte. (Höchstens Oma Tilde. Aber die war damals so sehr damit beschäftigt, bald zu sterben, dass sie keine Zeit für mich und die Band hatte.) Die Ehe der Nachbarn war ohne Kinder geblieben. Ich fragte meine Eltern, ob ich den Keller als Proberaum haben könnte. Vater war das egal. Er hatte nur die Hauptstraße im Kopf. Sie beschäftigte ihn unentwegt.
„Ich muss raus, es könnte sein, dass heute ein Auto vorbeikommt“, sagte er.
Also blieb ich das einzige Mitglied der ANALDENTISTEN, so nannte ich meine Band. Ich spielte kein Instrument, aber das war egal, weil es hier um Punk ging. Ich nahm einen Kuli in die Hand, der mein Mikro war.
Die erste Probe lief prima. Ich liebte, was ich da machte. Nach einer Weile hockte ich mich auf den Boden und stellte mir meine zukünftigen Auftritte vor, bis Mama nach unten kam und ihren Kuli zurückverlangte. Das war das Ende für die ANALDENTISTEN.
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Oma Tilde starb 30 Jahre lang. Sie saß die meiste in einem Sessel in ihrem Zimmer. Wenn ich sie besuchte, stöhnte sie laut auf. Sie werde bald sterben. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber das wollte sie nicht hören. Im Sommer trugen Vater und ich sie in den Garten. Sie schrie, sie wolle wieder in ihr Zimmer. Die Natur verstöre sie. Überall werde gestorben, sagte sie und zeigte auf das verbrannte Gras. Vater trug mir auf, es zu gießen. Oma Tilde beruhigte das nicht. So einfach sei das nicht.
Später, als sie dann wirklich starb, konnte wir es zunächst nicht glauben. Wir ließen ihre Leiche so lange im Sessel sitzen, bis der Gestank uns überzeugte, dass sie diesmal Ernst mit dem Sterben gemacht hatte.
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Sonntags saßen wir alle auf Klappstühlen hinter dem Haus. Wir spuckten Kirschkerne auf leere Dosen. Wer mit Kirschkernen gut spucken konnte, der war wer im Dorf. Die anderen ließen ihn in Ruhe. Man galt als eine Art Revolverheld. Oma Tilde war unschlagbar. Sie spuckte wie ein Maschinengewehr. Die Dosen fielen im Sekundentakt, und einmal spuckte Oma einen Kirschkern bis weit über den Wald und die Berge. Vielleicht landete er auch auf dem Mond. Oma war so etwas wie der Billy the Kid unseres Dorfes. Sie war überhaupt sehr eigen. Sie kaute Tabak und schimpfte wie ein Hafenarbeiter. Das war lange bevor sie mit dem Sterben anfing.
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Meine Mutter wusch sich täglich. Sie fiel damit in unserem Dorf auf.
Sie stand meist früh auf und wusch sich unter den Achseln, die wie die Sonne strahlten, wenn sie mit ihnen fertig war. Derart aufgeputzt ging sie über die Hauptstraße. Mit erhobenen Armen, der Achselhöhlen wegen. Es kam nicht selten zu Unfällen, die mein Vater nutzte, um seine illegale KFZ-Werkstatt aufzurüsten.
Aus Oliver Nordens „Wie wir das Leben aussaßen“, Erinnerungen eines Gescheiterten