Ostern liegt schräg gegenüber von Western. Der Ostern konnte sich als Genre bisher nicht behaupten, dafür aber der Eastern.
Ostern liegt schräg gegenüber von Western. Der Ostern konnte sich als Genre bisher nicht behaupten, dafür aber der Eastern.
„Nehmen Sie doch noch was!“, sagte der Kellner. Mit zittriger Hand bugsierte er den Bauch von einem Tier auf meinen Teller. „Ich kann nicht mehr!“, stöhnte ich. Die Geburtstagsgesellschaft meiner Mutter (siehe Eintrag vom Samstag) sah mich entsetzt an. Der Kellner kniff ein Auge (das linke?) zusammen und fragte, ob ich die Küche beleidigen wolle. „Nein, nein“, stammelte ich. „Aber nach den 40 Gängen, die es jetzt schon gab, kann ich nicht mehr.“ – „Das ist keine Ausrede.“ Er griff nach dem Löffel und lud fettiges Fleisch darauf. „Essen!“ Alle schauten mich erwartungsvoll an. Auch meine Mutter und mein toter Vater, dessen Urne seitlich auf einem Tisch stand. „Du willst doch noch nicht meine Geburtstagsfeier durch unsinniges Hungern sabotieren?“, sagte Mutter. – „Nein, das will ich nicht“, gab ich zurück. Mutter zeigte auf die Urne. „Vater sieht auch schon unglücklich aus. Du wirst ihn mit deinen Marotten noch ins Grab bringen.“
Ich ließ den Löffel in meinen Mund schieben. Ich würgte, bekam den Riesenklumpen aber nicht runter. Ich spuckte alles neben meinen Stuhl. „Ferkel!“, schrie der Kellner und gab mir eine schallende Ohrfeige. Der Saal applaudierte und stampfte. Mit eingezogenem Kopf zog ich mich vor die Tür zurück und rauchte eine Pfeife. (Ich rauche neuerdings Pfeife, eine feine Mischung aus dem Orient, die mehr als glücklich macht.) Augenblicklich tauchte ich in ein Meer aus Sternen und fühlte mich gut. Ich ließ Ramon (Name geändert) die Pferde anspannen. „Hier kann ich nicht bleiben“, sagte ich zu dem tauben Pferdehirt. Meine Frau und die Kinder konnten nachkommen. Ich vergrub mich unter Decken, Jacken, Erde, Fellen, Fällen, Büchern und ließ den Pferdemetzger die Pferde zu Höchstleistungen peitschen. Nur zurück in meine Bestsellervilla LETZTES GESCHICK (Name geändert). Wir nahmen diversen Fußgängern die Vorfahrt, drängten eine mit Einkaufstaschen behängte alte Frau vor einen Porscho (Name geändert). So etwas tue ich nicht gerne, das braucht niemand zu glauben, auch wenn es eine Sekte in Sibirien gibt, die daran glaubt. Sie beten Fotos von mir an und glauben, ich würde alles, was ich tue, mit voller Absicht tun. Sie denken, hinter meinen Handlungen steckt ein Sinn, der, verstehen sie ihn erst, Gott erscheinen lässt. Außerdem glauben sie an den Weltuntergang in siebzehn Milliarden Jahren.
Zu Hause steckte ich mir erst mal den Finger in den Hals und übergab mich. Was da alles rauskam! Da ist man über sein Innenleben ganz überrascht. Die Klofrau bekam einen Schein auf ihren Teller, weil ich kein Kleingeld dabei hatte. Ha! Klofrau müsste man sein. Rumsitzen und Geld kassieren. Später bereute ich meinen Geldrauswurf und verlangte den Schein zurück. Sie jammerte, dass sie einen Stall voller Kinder hätte. Sie führte mich zum Fenster und zeigte zu einem meiner Ställe. „Dort wohne ich mit meinen achtzehn Kindern.“ Davon wusste ich nichts. Ich ließ sie vor die Tür setzen. Nein, bitte keine Leserbriefe. Ich bin kein Unmensch, aber ein Stall ist kein Zuhause für eine Frau mit so vielen Kindern. Sie durfte noch am Abend die Villa MÜHSAM (Name geändert) in Richtung Irgendwo verlassen. Sie wird es schaffen. Bestimmt.
Ich streckte mich auf dem Sofa aus, war ich doch am Ende meiner Kräfte angelangt.
Heute müssen wir schon wieder auf eine Familienfeier. In der Küche unterhalten sich meine Frau Bärbel (Name geändert) und der blondgelockte Mathematiker Gauß (siehe einer der letzten Einträge). Sie flüstern über das Flüstern, darüber, dass es eine Unart sei, zu flüstern. Ich nicke über einen Bildschirm, der in der Küche hängt.
Die Kinder schlafen noch. Sie dämmern dahin, verfangen in ihren kleinkindlichen Träumen von Panzern und Kriegsgräuel. Worüber Kinder so träumen!
Kaffeeprobe. Hm. gut das Zeug. Ich spucke in einen Eimer weitläufig aus. Der Strahl sitzt. Eigens engagiertes Publikum johlt! Nächster Kaffee.
Wir haben Ostersonntag. Guten Morgen, Welt!
Heute ist ein Geburtstag. Nicht meiner. Dessen Datum kennt ein jedes Kind auswendig. Da können Sie aus ihrer Haustüre raus und können sich ein Kind schnappen. Es wird ihnen augenblicklich meinen Geburtstag nennen. Noch vor dem eigenen. Oder dem der Mutter. Oder des Vaters. Das ist ein Naturgesetz. Sie müssen sich nicht zieren, wenn Sie sich ein Kind nehmen. Fest zugegriffen, in den Oberarm hinein, damit es weiß, dass es jetzt über das Geburtsdatum von dem Autoren befragt wird, den alle lesen. Das Kind wird seinen Spaß haben, wenn sie es vom Spielplatz stehlen. Weil, wird das Kind denken, gespielt hab ich genug, höchste Zeit, dass mich einer wegen des Geburtsdatums von dem Autor befragt. Sonst hätte ich es ja nicht auswendig lernen müssen, wird es vielleicht noch denken. Aber das weiß man nicht, weil man nie recht weiß, was so ein Kleinkinderhirn denkt. Der ist unergründlich, so ein Kinderdenkapparat. Es wird ein rechtes Durcheinander sein, weil ein Kinderhirn noch in der Entwicklung steckt. Jede Menge neuronale Veränderungen. Explosionen, eine um die andere. Das ist mehr ein Kriegsgebiet, als ein Hirn.
Darum sollte es gar nicht gehen, weil heute ein Geburtstag ist, nämlich der meiner Mutter väterlicherseits. Die wird heute 70. Ja, da staunt der Leser! 70!
Natürlich hat so ein Mensch, der 70 wird, schon eine Menge erlebt. Zwei Weltkriege. Hitler. Den auch. Und das ist keine Kleinigkeit, so ein Scheusal überlebt zu haben. Über Hitler brauche ich Ihnen ja nichts zu erzählen. Da ist bereits alles gesagt, geschrieben, gesendet. „Hitlers willige Wollknäuel“, „Hitlers willige Unwillige“. Jedes Fitzelchen von dem Leben ist in einen Filmbeitrag gepresst worden, damit wir verstehen, wie einer war, der so laut schreien und so böse sein konnte. Das liegt in der menschlichen Fernsehzuschauernatur. Wenn man schon vor dem Guckkasten sitzt, will man auch ein wenig gebildet werden. Da kann man ruhig mal erfahren, warum Hitler der pure son of satan war.
Ich meine, wir, die Heutigen, wir hätten den ja nie gewählt. Weil wir, die Heutigen, wir gehen ja erst gar nicht mehr wählen. Nein, das machen wir nicht. Alles Zeitverschwendung. Da macht man sein Kreuz, aber ändern tut sich eh nichts. Dann lieber vor dem Fernseher sitzen bleiben und sich die Welt erklären lassen. Warum wie was ist? Wir werden schon erfahren, warum wir, die Heutigen, nicht mehr wählen können. Vielleicht weil wir gar keine Zeit haben. Bei dem Fernsehüberangebot. Da kommt man von der Glotze gar nicht mehr weg. Am Ende würde man noch die ersten Hochrechnung einer Wahl verpassen.
Über all das wollte ich gar nicht berichten. Sondern von meiner Mutter erzählen, die heute 70 wird.
Wie soll ich Ihnen meine Mutter nur erklären, hm, warten Sie, vielleicht so: Eigentlich hat sie graues Haar, aber dank der Chemie ist es braun geworden. Sie legt schon viel Wert auf ihr Äußeres. Da ist alles akkurat geschnitten. Die Fingernägel, die Blusen, die Röcke. Man sieht ihr gar nicht an, was für ein Elend sie mit ihren 70 Jahren schon erlebt hat: Napoleon, die russische Revolution. Die war ja quasi überall dabei. Die hatten damals noch Zeit. Da gab es keinen Fernseher. Da musste man sich die geschichtlichen Großereignisse direkt vor Ort ansehen. Nix mit: Schalt doch mal um, Peter. Sondern: Wir fahren jetzt mal Richtung Osten, Peter, da soll schon wieder etwas passiert sein. Dabei hat der Peter, mein Vater mütterlicherseits, vielleicht bereits müde auf den Zeitungspapieren neben dem Schweinestall gelegen. Die hatten ja damals nix, nicht nur nix, sondern noch weniger, sodass das Wirtschaftswunder begeistert aufgenommen wurde, weil alle dachten: Nur Vernichtungskrieg ist auf Dauer auch nix, da muss auch mal ein bisschen Wirtschaftswunder folgen. Wie mein Vater also auf den Zeitungspapieren neben dem Schweinestall gelegen hat, hat er sich gesagt: Nö, heute will ich nicht, immer irgendwo hinfahren, weil da Geschichte passiert, ist doch auf Dauer auch scheiße. Und dann ist er vielleicht liegengeblieben und meine Eltern haben den ganzen verpatzten Endsieg verpasst. Geschichte verpennt. Das kann uns, den Heutigen, nicht passieren, weil wir jede Minute medial versorgt werden. Da gibt es keine Sekunde, die nicht von der Geschichte aufgeladen würde.
So, und weil meine Mutter heute 70 wird, muss ich jetzt Schluss machen mit Tagebuch. Wir lesen uns eh morgen wieder.
Und so verbleibe ich mit einem wohlbekannten: Guten Morgen, Welt!
Karfreitag! Draußen sind die Kinder der Kirche der letzten Dynastie Gottes unterwegs und drehen an ihren Glücksrädern, riesige Holzräder, die von zwei bis drei von ihnen getragen werden müssen. Sie bleiben stehen, Schweiß läuft ihnen in Strömen über das Gesicht, bis es sich in einen Wasserfall aufzulösen droht. Der Kleinste streckt sich, seine Hände reichen kaum hinauf, und dreht das Rad. Ratternd wirbelt es wie ein Propeller. Es nimmt Geschwindigkeit auf und bläst den frisch gefallenen Schnee die Straße entlang. Die Fenster der Häuser meines Personals öffnen sich. Frauen und Männer strecken aufgeregt und neugierig ihre Köpfe hinaus, starren gebannt auf das Rad, das sich nun verlangsamt, das von Untergangszenario zu Untergangsszenario schreitet, bis es sich für das Feld „Tod der Menschheit durch Pong“ entscheidet. Man applaudiert. Die Glücksräderkinder stellen ihr Rad ab und verbeugen sich.
Plötzlich schreit eine alte Frau, die für das Bügeln meiner linken Socken zuständig ist: „Quatsch!“
Der Anführer der Glückradkinder, ein langgezogenes dürres Etwas, dessen Kopf kaum auszumachen ist, tönt aus den Wolken hinab: „Die Welt wird untergehen, wie es das Rad voraussagt!“
„Quatsch“, erwidert die alte Frau. „Außerdem solltest du mich mal waschen. Du stinkst!“ Sie rümpft die Nase und schlägt das Fenster zu und verschwindet.
Damit haben die Glücksradkinder nicht gerechnet. Verdutzt bleiben sie stehen, nur ihr Anführer, ein gewisser Peter Walter (Name geändert) tritt unsicher auf der Stelle. Die anderen warten, zucken mit den Schultern, verdrehen die Augen.
„Wir müssen jetzt weiter, Peter!“, rufen sie mit einem Megafon in die Richtung, in der sie seinen Kopf vermuten.
„Die Frau hat gesagt, ich würde stinken!“, donnert Peter.
„Nein, nein“, beruhigen ihn seinen Kameraden und unterstreichen die Ernsthaftigkeit ihrer Beteuerungen mit einem unterdrückten Lachen.
„Lacht ihr etwa?“
„Nein!“ Alle schütteln die Köpfe. Man möchte weiter, immerhin sind heute noch einige hundert Weltuntergänge vorauszusagen.
Ich zog gemütlich an meiner Partagas No. 4 und genoss das Schauspiel, in meiner Linken eine Flinte, sollte sich die Menge dort unten nicht bald auflösen. Außerdem musste ich der Köchin noch Anweisungen geben, erwarten wir heute doch den Mathematiker Gauß. (Der Mathematiker Gauß ist eine Frau, blond, und sie rechnet mit dem Schlimmsten. Sie ist für diesen Rechenweg bekannt. Außerdem betätigt sich Gauß nebenher noch als Hütchenspielerin, die durch die Großstädte der Republik tingelt, um ahnungslose Banden von Rumänen auszunehmen. Dank eines von ihr ebenfalls erfundenen Rechenwegs, kann sie voraussagen, in welcher Handinnenfläche die Kugel verschwinden wird. „Das wäre Betrug“, stottern die betrügerischen Hütchenspieler meist, aber Gauß lässt sich von den drohenden Blicken nicht erweichen und fordert die Herausgabe aller Gelder. So ist Gauß, ein eiskalter Mathematiker, der hin und wieder auch schon zu Ostern mit Schnee gerechnet hat.
Die Glücksradkinder diskutieren noch immer mit Peter, der inzwischen auf dem Standpunkt steht, dass das Leben keinen Sinn hat, wenn man stinkt und er wolle es hier an dieser Stelle durch Luftanhalten beenden. „Nicht jetzt, nicht heute!“, rufen seine Kameraden. „Wir sind doch eh zum Untergang verdammt. Spätestens in dreihundert Jahren werden wir alle von einer Flutwelle weggespült“, versuchen sie Peter zu beruhigen, der endlich, sich der Argumentation beugend, aufgibt und murrend den Marsch zum nächsten Haus aufnimmt. Ein Schritt für ihn, schon sind sie da.
Kinder, denke ich und schließe mit einem verzeihenden Lächeln das Fenster.
Als ich mich umdrehe, eilen Köche, Schlangenbeschwörer und Tischplattenträger durch mein Wohnzimmer, dessen Ende einzig mit einem speziellen Teleskop auszumachen ist. Mein Pferdehalter reicht mir mein Pferd, damit ich in die Küche reiten und nach dem Rechten sehen kann. (Rechts stehen die Bananen. Man muss ausdauernd patroulieren, damit sich keine schwarzen Flecken auf die Schale setzen. Diese unseligen dreckigen schwarzen Flecken, die gekommen sind, um uns das Leben zur Hölle zu machen. Eine außerirdische Intelligenz … Aber dazu später mehr.)
Guten Morgen, Welt!
So ist das! Ich war an einem entscheidenden Punkt meiner Karriere angelangt. Unruhig wälzte ich mich über meine Bettseite. Die Decke, aus den Fasern einer seltenen Schlingpflanze genäht, zog sich um meine Beine, bis es zum Blutstau kam. Sollte ich aufstehen? Ich wusste keine Antwort auf diese bohrende, geradezu drängende Frage. Ich schrieb sie auf eine der Tafeln, die ich stets neben dem Nachttisch stehen habe. (Der Nachttisch ist aus Dunkelheit gefertigt, aus einem tiefen Schwarz, das mir manchmal einen Schauer über den Rücken jagt. Starrt man zu lange in den Nachttisch, bekommt man ein Gefühl für die Nichtigkeit allen irdischen Daseins.)
Von draußen dröhnte ein Hämmern und Sägen zu uns herein. Die Vorbereitungen für die Passionsspiele waren (und sind noch) in vollem Gange. Peitschenhiebe zerschnitten die Morgenkühle.
„Ob ich aufstehen sollte?“, fragte ich meine Frau Marianne (Name geändert).
Keine Antwort. Das eigentümliche Wesen spielte mir schon wieder Schlaf vor. Das tat sie zu gerne. Lag da und tat so, als ob sie tief und fest schlafen würde. Sie tut das zu allen möglichen Gelegenheiten. Erst neulich, während des Abendessens, ich sprach sie eben zur politischen Situation im Unterdorf an, fiel sie aus heiterem Himmel in einen Tiefschlaf. Platsch! Ihr Gesicht war in der Suppe gelandet, die sie einatmend wegschlürfte, während sie gleichzeitig das Nimmerland ihres Unterbewusstseins aufsuchte. Und nicht nur beim Essen geschieht das Unglaubliche. Sie schläft bei allen möglichen Beschäftigungen ein, selbst beim Sex. Spreche ich sie darauf an, schläft sie sofort ein. Ich solle meine Sexschlafstörungen behandeln lassen, schlug sie vor. Oder sie mit Tabletten kurieren. Schlaftabletten, die gebe es überall. In jeder Apotheke. In der Türkei und Griechenland kosten sie fast nix, deshalb sei der Südländer auch so ein eingeschlafener Liebhaber. Das wisse man aus zahlreichen Forschungsromanen, in denen von der Liegfestigkeit z.B. der Italiener berichtet würde. Sie könnte mir gern aus dem ein oder anderen tragischen Erfahrungsbericht etwas vortragen. „Lass mal“, sagte ich. „Ich bekomme meine Schlafprobleme schon in den Griff.“ – „Aber hurtig, immerhin bin ich eine Frau und will mal nichts von meinem Mann haben. Ich kann dich nicht ständig ertragen. Das zerstört mein Nervenkostüm!“ Sie griff bei dieser Gelegenheit neben ihren Nachttisch (Beschreibung s.o.) und präsentierte mir ihr völlig zerfleddertes Nervenkostüm. „Auweia!“ rief ich. „Das kannst du nicht mehr anziehen. Das müssen wir in die Nervenheilanstalt bringen. Die können dort vielleicht noch etwas retten. Ich werde mich darum kümmern.“ Ich klatschte in die Hände meines Butlers Yeats (Name geändert) und wies ihn an, dass man das Kleid meiner Frau augenblicklich in eine Nervenheilanstalt verbringen müsste, mindestens für sieben bis neun Jahre.
„Nein!“ schrie meine Frau auf und zerrte entnervt an ihrem Kostüm, bis es ihr in Fetzen um den Hals hing.
So war das damals, als ich das Nervenkostüm meiner Frau retten wollte.
Inzwischen habe ich mich entschieden, ob ich aufstehen soll oder nicht. Ich fuhr mit dem Golfwagen in die Küche und ließ die Kaffeemaschine einschalten. Der Himmel über GESALZENES GESTÜT (geänderter Name unserer Villa) ist grau. Nichts Neues unter der fehlenden Sonne.
Barnabas (Name geändert), mein Wolfshund sieht mich mit seinen tieftraurigen Augen. (Wir haben ihm verschiedene Augenpaare anfertigen lassen. Tieftraurige, melancholisch eingefärbte, freudige, erwartungsvolle, hoffungsvolle, hoffnungslose und tote Augen. Da hat das Tier wenigstens eine Auswahl und muss nicht ewig mit dem selben Hundeblick durch die Gegend trotten.) Ich weise Jürgen (Name geändert) auf seine Fehlentscheidung bezüglich der Augen für diesen Tag hin. Das würde mich runterziehen, erkläre ich dem Hund. Er zieht sich beleidigt mit einer bibliophilen Ausgabe der „Hundejahre“ von Günter Grass in seinen Hundesalon zurück, um sich das zottelige Fell eindrehen zu lassen, immerhin sind wir heute bei einer gewissen Schwester Agnes eingeladen, einer heiligen Frau, die trotz ihres Gelübdes, drei Kinder zur Welt brachte. O Wunder des Katholizismus! Das lege daran, dass sie beim Beten ständig einschlafe. Da hätten die Burschen aus der Umgebung leichtes Spiel mit ihr. Aha! So ist das also.
Ich nehme einen ersten Zug von meiner Partagas No. 4 und denke über mein kommendes Werk des Tages nach. Mir ist heute nach einem Gedicht, nach diesem Zweig der deutschen Literatur, der längst verkümmert, geschnitten und verbrannt werden müsste. Mir schwebt ein Gedicht über die Kühltruhe vor. Ich sitze eine Weile vor dem überdimensionalen Bildschirm (8 Meter im Durchmesser) und grüble. Einzig, mir will nichts einfallen, also lasse ich einen der vom Prenzlauer Berg entführten Dichter vor mein Antlitz peitschen. „Er möge mir ein Gedicht schreiben“, faucht ihn mein Fauchstimmenverzerrer (hergestellt von Fender – dazu später mehr!) an. Der Prenzlauer Bergdichter krault sich seinen Bart, fährt sich durch das Haar, weil da eine Strähne gerade lag, bohrt ein Loch in seinen Pullover und beginnt: „Würmer, die ihr wurmt/mich und mein tragisch Los/gekauft auf dem Jahrmarkt/der täglich sich windet/der erblindet am tauben Fisch/iss nimmer mehr//iss nimmer mehr.“ Der Prenzlauer Bergdichter stolpert – entzückt von seiner Ode über einen vergifteten Fisch – in den Raum zurück. „Na“, sage ich zu ihm, dieses Mal ohne Fauchstimmenverzerrer, „das war ja nichts. Da kann ich keinen Blumentopf mit gewinnen.“ Die Wangenknochen des Bergdichter springen auf und ab. So etwas habe noch niemand zu ihm gesagt. Das habe noch keiner gewagt. Er hält inne. Überlegt. „Doch!“ ruft er aus. Und dann fallen ihm die Namen seiner Kritiker wie Hämmer auf die Füße, sodass er sie quiekend verkündet: „Martin, Detlef, Marie, Gundel, Sebastian …“ Seine Litanei will kein Ende nehmen. Ganz gegen Ende blickt er mich an, überlegt, ja, der Bergdichter sinnt und tönt dann von seinem inneren Prenzlauer Berg: „All diese Namen sollen mein neustes Großgedicht sein. Ich werde es …. ich werde es … NAMENLOSES ENTSETZEN nennen.“ Zufrieden über sich zündet sich der Bergdichter eine Selbstgedrehte an und lässt sich in den Keller führen, dort all die anderen entführten Dichter ein karges Dasein bei Diskussionen und spontanen Lesungen fristen müssen.
Mit einem Gedicht ist es nichts geworden. Ich werde den Tag trotzdem tätig werden lassen.
Guten Morgen, Welt!
Hier bei einer meiner Predigten in der hauseigenen Kapelle
Die Welt ist ja kein Zuckerschlecken. Das weiß man ja. Da muss man nur die Tageszeitungen studieren. In denen steht alles, was einem den Tag versauen kann. Darum soll es jetzt nicht gehen. Sondern über das Büffet.
So ein Büffet ist ein prima Angelegenheit, wenn man es für sich alleine hat. Aber wehe, der Mensch bekommt eine Konkurrenz. Einen Mitesser kann man nicht gebrauchen. Und ehe man sich versieht, hat der die Töpfe, aus denen man sich eben noch nähren wollte, geleert. Bei einem stark frequentierten Büffet, da heißt es, schnell sein, sonst hat sich die Heuschreckenplage aus Tischnachbarn bereits bedient. Hat alles kahl gefressen, um es deutlich zu schreiben. Und dann hat man das Nachsehen. So ein Büffet kann zu einem alttestamentarischen Desaster geraten, wenn man sich nicht beeilt. Drum muss man auch mal mit der Gabel zustechen können. Das ist kein Verbrechen, sondern eine unbedingte Notwenigkeit. Bei einem Büffet geht es um die Arterhaltung des Selbst. Benimm ist da zweitrangig. Für den kann man sich nichts kaufen, und satt macht er auch nicht.
Man muss den Eingang im Auge behalten. Wenn sich eine Schulklasse anschickt, das Restaurant zu betreten, sollte man keine Zeit verlieren. Rasch muss man mit einem Teller (leer) zum Büfett stürmen und aufladen, um den Teller (überfüllt) am Tisch abzustellen. Ruhe sollte man sich keine gönnen. Teller um Teller müssen zum Tisch, bis man der Meinung ist, die gehamsterten Speisen stellen die kläglichen Reste des Büffets in den Schatten. Aber Vorsicht! Es könnte in der Folge geschehen, dass man ihren Tisch mit dem Büffet verwechselt. Geschieht dies, dürfen sie spucken, treten, beschimpfen. Man muss den Leuten manchmal lautstark klarmachen, dass ihnen jegliche Form der guten Kinderstube abgeht. Dass hier Diebstahl vorliegt. Mundraub!
Sind wir doch mal ehrlich. Ein Büffet, das ist Krieg. Nur der Starke wird sich durchsetzen und satt werden. Der Schwache wird einzelne Nudeln erhalten, ein Stück Zwiebel. Das war es dann.
Es geht dabei um eine Art des kulinarischen Darwinismus. Es sind nur wenige, die von der Vorsehung dazu auserwählt wurden, dem Büffet seine Schätze abzutrotzen. Der Rest schaut in die leeren Töpfe.
Ein leerer Topf, der ist ein Symbol, der sagt etwas über den Zustand des Büffets aus, über das Restaurant, die Küche.
Wer sich zum Essen vom Büffet entschließt, der muss schließlich wissen, auf was er sich einlässt. Auf Krieg nämlich, totalen Krieg.
Das ist doch kein Kindergeburtstag, so ein Büffet, sag ich immer. Das Büffet ist für den gemacht, der Hunger hat, und für den, der weiß, wie man eine Gabel in einem Auge versenkt, der weiß, wie man mit einem Steakmesser wirft.
Da kann man nicht nachher kommen und sich beschweren. „Ich wollte doch nur … mit meiner Familie … und so!“ Ja, was bilden die sich denn ein?! Am Ende kommen noch die Alten und Kranken und wollen von einem Büffet essen. Und dann?
Nein, nein, nein, meine Damen und Herren, ein Büffet, das ist für den Soldaten unter den Gourmets erschaffen worden. Ein Büffet, das ist der Schlachtplatz des Dickbäuchigen, des Ausgehungerten.
Das Büffet, das ist der letzte Ort, an dem der Fresser noch ungehindert Fresser sein kann.
In diesem Sinne: Mahlzeit!
Zurück aus dem Kurzurlaub! Die Welt scheint eine andere geworden zu sein. Unsere Wohnung wirkt fremd. Nahezu unwirklich.
Den Hund, der uns anknurrte, haben wir noch nie gesehen. Unsere Einrichtung ist ausgetauscht worden. In der Küche stand eine wildfremde Person und kochte unbekümmert vor sich hin.
„Was machen Sie denn da?“ schrie ich die alte Frau an.
Meine Frau und ich jagten sie samt ihres Mannes vom Hof. Die Beteuerungen der Leute, sie seien unsere Nachbarn, liefen ins Leere. Eine bekannte Lüge von Wohnungstrickdieben, die die Abwesenheit der Besitzer nutzen, um schnell alles umzugestalten und sich einzunisten.
Aber nicht mit uns!
„Das waren Profis“, sagt meine Frau. „Sie haben selbst die Räume neu angeordnet. Das Klo befindet sich plötzlich ganz woanders.“
Kopfschüttelnd schreiten wir die Zimmer ab, die mit Geschmacklosigkeiten überlaufen.
Jetzt erst mal auspacken. Später mehr!
Müde! Ich hatte mir den Wecker in der Nacht mehrmals gestellt, um die Unterbrechung des Schlafs und seine Auswirkungen auf den menschlichen Geist zu untersuchen. (Eines meiner vielen Forschungsprojekte!)
Hatte der Wecker mich erst aus den tiefen Traumsphären an die Oberfläche gerissen, galt es innerhalb weniger Sekunden eine Aufgabe zu erledigen, wie etwa das Waschen des Gesichts mit einem von meiner Assistentin Gundel (Namen geändert) zuvor angefeuchteten Lappen. Das Gesicht sollte dabei so reinlich wie möglich werden, und dies, obwohl man noch wenige Augenblicken zuvor fest, tief und zufrieden (in dieser Reihenfolge) geschlafen hatte. Wie ich feststellen musste, ist ein derartiges Unterfangen gänzlich unmöglich zu bewältigen. Andere Aufgaben bestanden darin, Toast in die zwei Schlitze des Toasters zu schieben, „Guten Morgen“ zu murmeln oder sich die Schuhe zu binden. Ich konnte in diesem wagemutigen Experiment nachweisen, dass ein Mensch zu all diesen Dingen nicht fähig ist, gibt man ihm nicht die mehrstündige Möglichkeit, geeignet (!) zu erwachen. Zigarre und Kaffee, das ist das mindeste, müssen gereicht werden; auch sollte eine Haushaltskraft das Haar kämmen, während man die ersten Gedanken einsammelt, um z.B. eine Meisterleistung wie diesen Tagebucheintrag zu vollbringen. Alles andere ist als unmenschlich anzusehen und sollte schnellstmöglich den Vereinten Nationen sowie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Gehör gebracht werden.
Nun aber ans Tagwerk. Meine Frau Heidrun (Name geändert) und Tochter Veronika (Name geändert) sind bereits erwacht. Aufgeregt wie kleine Bienchen summen sie durch die Wohnung, ist heute doch der große Tag unserer Auslandreise (siehe die letzten Einträge, sieh genau und lies, irgendwo findet sich etwas zu dem Sachverhalt) in die DDR. Wir werden mit unserer Kutsche zur Zonengrenze reisen, um uns dort von den Schergen des Bösen absuchen zu lassen. Der Grenzer ist, wie ich hörte und in diversen Dokumentationen zum Thema auf ARTE sehen konnte, eine penible Person, die kein Haar auf dem anderen lässt. Selbst zwischen den Zehen sehen sie nach, in den Augenbrauen, in den Ritzen, die entstehen, wenn man seine Lippen nicht recht pflegt, in den Mund- und Augenwinkeln, in den Pausen, die zwischen zwei Sätzen entstehen. WIR, dies muss uns klar sein, und ich als Bestsellerautor, der bereits drei Verlage sanierte, in besonderer Weise, sind der Klassenfeind. Wir sind das kapitalistische Übel, das an der Wurzel zu packen und herauszureißen ist, mit Schwung, da muss man die Füße quer stellen, wenn man an einer solchen Wurzel zerrt, man darf nicht nachlassen, nie, bis man die Wurzel in der Hand hält, das Krebsgeschwür des Kapitals. Ich riet Frau und Tochter, sich luftig anzuziehen, ein wenig Luft über die Brüste und das Geschlecht, das müsste genügen, um als wandelnder Offenbarungseid davon Zeugnis abzulegen, wie hehr unsere Absichten sind, wie wenig es unser Begehr ist, Westpropaganda in die DDR zu schmuggeln. Es wird schon alles gut gehen!
Es ist wichtig für einen Milliardär wie mich, sich auch einmal die Schattenseiten des Lebens anzusehen, Menschen, die hinter einer Mauer leben müssen, belauscht von den besten Freunden, von der Familie gar. In diesem Reich des Bösen gibt es keine Hoffnung, zumal meine Romane dort nicht erhältlich sind, wie ich hören musste. Es gibt dort nichts, und selbst das gibt es nur in Rationen. O du armselig Volk, höre mir zu, lausche meiner Worte, die dir verkünden: Die Freiheit ist nah. Einst wird das Regime fallen. Der gesamte Osten wird der Marktwirtschaft zustreben. Und dann heißt es auch für dich: Haste nix, biste nix!
Mein treuer Wolfshund Bruno (Name geändert) drängt an meine Seite, er will Gassi gehen. Ich rufe nach dem Personal, oh dieses verfluchte Personal, nie ist es persönlich da, wenn man es braucht. „So eilt doch!“, rufe ich. „Eilt doch! Bruno (Name geändert) muss Aa machen. Gehet und lasst ihn sich erleichtern.“ Endlich springt einer der offiziellen Wolfshundeausführer herbei, den ich mit einem rügenden Blick bedenke, um das arme Tier, das kaum noch an sich halten kann, die siebzig Stockwerke mit dem Lift (dem Hundelift selbstverständlich) nach unten zu bringen, damit er auf seine vier Kilometer entfernte Hundetoilette eilen kann.
Währenddessen ist mir (wieder einmal) der Kaffee über diesem weltliterarischen Tagebucheintrag erkaltet, sodass ich (schon wieder) neuen aufsetzen lassen muss. (Dazu bitte den Eintrag von gestern lesen!)
Guten Morgen, Welt!
Verfluchte Kälte! Ich wurde gegen halb sechs vom Geheul der Wölfe geweckt. Die Biester treiben sich schon wieder um mein Anwesen herum. Außerdem ein Eisbär. Diverse Adler. Da draußen ist eine ganze Armee von Tieren.
Ich zog meinen seltenen Aalpelz aus und zeigte ihn der sich bewegenden Natur, damit sie wusste, was es geschossen hatte, wenn die Kugel traf. Wieder so eine Redewendung. (Ich rede in der letzten Zeit ständig in Redewendungen. Der Aalpelz stinkt fürchterlich. Ich werde ihn nachher gleich mal in die Waschmaschine stecken.)
Meine Frau Elke (Name geändert) schläft noch. Sie hat einen gesegneten Schlaf. War wohl doch nicht die schlechteste Idee, einen hauseigenen Priester zu engagieren, der sie jeden Abend im Bett segnet. Ich hoffe, da passiert nichts, was ich wissen müsste. Priester sind ja Sexbestien, das liest man immer wieder in den Zeitungen. Meiner nicht. Er ist achtzig Jahre und lebt in einem kleinen Schrein hinter unserem Haus. Den Schrein habe ich extra für ihn bauen lassen. Da hat er alles, was das Priesterherz benötigt. Die Wände sind mit einer Kruzifixtapete beklebt. Sieht nett aus, alle diese kleinen Kreuze mit dem leidenden Jesus dran. Nichts für mein Schlafzimmer, aber so sind sie eben, die Wortverteiler des Herrn. Sein Bett hat ebenfalls die Form eines Kreuzes. Wir lassen ihn abends von der Dienerschaft mit seinem Bett bzw. Kreuz durch den Park stolpern. Er hat seinen eigenen Passionsweg bekommen. Da soll er mal nichts sagen. Ich kümmere mich um meine Leute. Vor seinem Schrein lagern sogar einige meiner Angestellten, die sich als Römer verkleidet haben. Wenn er in der Nacht Durst bekommt, reichen sie ihm mit einer Lanze einen in Essig getauchten Schwamm zum Fenster hinein. Meinen Schäflein soll es an nichts mangeln. Am Morgen hält er meist eine kleine Automobilmesse ab. Wir fahren den Ferrari, den Aston Martin und den anderen Schrott vor seinen Schrein. Er hält eine Predigt, beschwört den Heiligen Christophorus, segnet alle und verschwindet wieder in seinem Schrein. So einen Priester kann ich nur empfehlen. Den sollte jeder besitzen, und wenn man noch keinen hat, dann aber ab in den nächsten Laden für Seelenbedarf und sich einen gekauft. Dann gibt es auch keine Probleme mit einer späteren Himmelfahrt.
Während ich also ein paar der Eisbären und Wölfe von meinem Fenster aus abschieße, wird mein Kaffee kalt. Scheiße, denke ich, jetzt muss ich mir neuen aufsetzen lassen. Der Kaffeeanschalter, ein gewisser Herr Ming (Name geändert) aus Karlsruhe, seines Zeichens Ex-Liebhaber meiner Frau Viktoria (Name geändert) spurtet bereits in die Küche. Als ehemaliger Europameister im Hundert-Meter-Lauf ist er schneller an der Maschine, als ich „Wilhelm wüsste gerne, warum Hartmut früher Hermine hieß“ aussprechen kann. Herr Ming (Name geändert) fragt über das Funkgerät an, ob er die Kaffeemaschine anschalten darf. „Moment noch“, knurre ich, einen Zug von meiner Partagas No. 4 nehmend und einen letzten Schuss auf einen Schneehasen abfeuernd, der mir als Anführer der tierischen Unternehmung aufgefallen war. Da! Getroffen! Der Hase streckt die Arme zum Himmel und bricht melodramatisch zusammen. Jetzt blutet er aus, sodass sich der gesamte Schnee innerhalb weniger Sekunden rot färbt. Die anderen Tiere stürmen zu ihm hin. Sie stellen sich in einem Kreis um ihn auf. Es soll wohl ein Kreis sein. Ist aber ein Oval. Tiere! Ha!
Durch Funk gebe ich Herrn Ming den Befehl die Kaffeemaschine einzuschalten. Herr Ming zählt langsam und auf English rückwärts, bei SIRROW betätigt er den Startknopf und gibt durch, dass alles gutgegangen sei, der Kaffee laufe, er würde sich, mein Einverständnis vorausgesetzt, noch ein paar Minuten aufs Ohr hauen. Klar! Ich bin als Arbeitgeber bekannt, der seinen Angestellten jeden Wunsch von den Augen abliest. (Mit einigen Angestellten war ich sogar bereits schon auf einer eigenen Tour: Guido Rohm liest aus „Den Augen meiner Angestellten“. Mensch, das war eine tolle Zeit!) Herr Ming (Name geändert) als sadistischer Masochist hat damit begonnen, sich ein paar Minuten aufs Ohr zu hauen. Heute ist das linke dran. „Aber nicht zu fest!“ warne ich ihn. „Sie wissen ja, Herr Ming, auf dem rechten Ohr hören sie kaum noch was.“ – „Was?“ fragt Herr Ming. Ich überlasse ihn seinen sexuellen Ausschweifungen und werfe meine Partagas No. 4 aus dem Fenster. Sie verglüht mit einem Zischen, das Carl der Geräuschmacher imitiert. Carl (Name geändert) beherrscht alle Geräusche, die in einem Haushalt entstehen können, etwa wenn eine Tür ins Schloss fällt, wenn eine Marmeladenbrot auf den Boden fällt, wenn ein Fuselsturm das Wohnzimmer unter sich begräbt.
So, das waren wieder ein paar Einblicke in mein Leben als gefeierter und beliebter Bestsellerautor.
Guten Morgen, Welt!
Wie ich euch heute Vormittag berichtet habe, war, wenn ihr euch erinnert, und das tut ihr bestimmt, weil ihr meinem Tagebuch ja sicherlich mit großer Anteilnahme und Aufmerksamkeit folgt, der Himmel über Fulda grau, was daran gelegen haben kann, dass eine Wolkendecke verhinderte, dass die Sonnenstrahlen bis zu unserer Wohnung durchdringen konnten. Im Laufe des Tages gab sich das aber dann. Und so saßen wir, meine Frau und ich, in der Abtstellkammer, weil wir keine Lust darauf haben, irgendwann in ferner Zukunft an Hautkrebs zu krepieren. Wir haben in der Abstellkammer Dinge getan, über die ich hier den Mantel des Schweigens breiten will (den Mantel haben wir einst auf einem Flohmarkt für Redensarten erstanden), weil auch Kinder gern in diesem Tagebuch lesen. Erst gestern schrieb mir der dreijährige Tommy aus Köln: „Duda kacka!“ Ja, Tommy, da hast du vielleicht nicht unrecht.
Wie meine Frau und ich so in der Abstellkammer saßen, erinnerten wir uns an den Vormittag, an dem es uns in die Bücherei verschlagen hatte. Wir wollten eigentlich Lebensmittel einkaufen, aber wie es so geht, wir verliefen uns, und ehe wir uns versahen, fanden wir uns in der Landesleihbibliothek unter einem Roman mit dem Titel „Verwegene Wege“ wieder, der von einem Jungen handelt, der irgendwann feststellt, dass er nicht handelt, überhaupt nicht, er sitzt die ganze Zeit über auf seinem Bett, vergessen von aller Welt, von seinen Eltern, den Großeltern, den Stofftieren, bis er sich entschließt, die Handlung mit einer zündenden Idee in Gang zu bringen, die schließlich ihn und die gesamte Welt in die Luft sprengt. So endet der seltsame Roman, den ich euch, liebe Leserinnen, unbedingt ans Herz legen möchte, aber dafür müsst ihr hier nach Fulda kommen und bei uns klingeln, aber bitte dreimal, damit ich weiß, dass ihr es seid.
Büchereien, um das noch zu erwähnen, sind wunderbare Einrichtungen, in denen man vor allem Ruhe findet. Man kann sich zwischen den Regalen hinlegen und endlich einmal ausschlafen; es kann sehr lange dauern, bis man gestört wird.
So, das war eine kleine Zwischenmeldung. Ich hoffe es geht euch gut. Sollte sich die Sonne bei euch sehen lassen, seid keine Dummköpfe und springt mit einem Hecht (den müsst ihr vorher kaufen) in eure Abstellkammer. Hautkrebs ist nicht zu unterschätzen, außer man genießt ihn mit ausgelassener Butter. Bis bald, meine lieben Freundinnen!
Ein Satz sagt mehr als 1000 Bilder. Aber was ist ein Satz? Ein Satz ist ein Universum, der Urknall eines Gedankens. Dieses Ungetüm aus Knall-, Zisch-, Reibe- und Klacklauten. Jeder Satz hat eine Ewigkeit verdient, jeder Satz nimmt sich eine Ewigkeit, jede Ewigkeit dauert einen Monat. Alles andere ist Jahrmarkt, Geschwätz, eitle Hektik.
Wir, die Unterzeichneten, geben dem Satz wieder, was des Satzes sein soll, den Raum, also die Zeit. Einen Monat. So lange braucht ein Satz, dann explodiert er zum Universum und dann ist er bereit für den nächsten Satz, das nächste Universum. Sätze, Welten, Ewigkeiten.
Im Jahr 2113 werden wir ein schmales Bändchen publizieren. Zwischenergebnis. Sollten wir es selbst nicht mehr erleben – wir rauchen beide -, dann werden andere an unsere Stelle getreten sein, Gedanken ballen, Sätze bilden. Sie. ganz. langsam. zur. Explosion. bringen. Bis, in etwa 80 Milliarden Jahren, die Universen den höchsten Grad ihrer Ausdehnung erreicht haben und in sich zusammenfallen werden. Zurück in einen einzigen Punkt von unfassbarer Dichte. In einen Gedanken.
Guido Rohm, Dieter Paul Rudolph
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Der Himmel ist grau. (Sicherlich könnte er auch blau oder orange sein, ein Grün würde sich ebenfalls gut machen, und wäre er erst mit Haaren übersät, was würden wir staunen.) Aber dem ist nicht so, weil er grau ist. Ein Hellgrau, wie man es von zu oft getragenen Ärztekitteln kennt, oder von diesen kleinen Steinen, die man auf der Straße finden kann. (Oho, seid vorsichtig, wenn ihr euch nach diesen kleinen hellgrauen Steinchen bückt. Ehe ihr euch verseht, hat euch ein Auto überfahren, ein LKW, und plötzlich seid ihr tot, maustot, so wie die Maus, die von der Katze das Genick gebrochen bekommen hat, und das wollte ihr doch nicht, weil ihr fortan keinen Kuchen mehr essen könnt, keine Schokolade, es ist furchtbar.)
Wir sind gestern an einem Unfall vorbeigekommen. (Ich hätte ein Foto machen sollen. Hm, ich überlege, ob es Sinn macht, den Unfallort heute noch einmal anzufahren. Wahrscheinlich nicht. Bestimmt war die Polizei längst da und hat alles aufräumen lassen.)
Es ist niemand zu Schaden gekommen. Da kann ich euch schon mal beruhigen. Ein LKW hatte einen Teil seiner Ladung verloren. Eine Windböe muss seine Plane aufgerissen habe, ritschratsch, wie ein Junge, der es besonders eilig hat, sein Geschenk auszupacken, und es kann ja auch sein, dass der Wind gerade des Weges kam und dachte, dieser LKW, der ist ein Geschenk für mich, mal nachsehen, was drin ist. Also riss er sein Geschenk auf und ließ die Innereien auf die Straße purzeln. Er wollte ja damit spielen, sonst würde das Geschenk seinen Zweck nicht erfüllen. Klar! Der Wind ist nicht blöd und hat die Sache durchschaut, er hat über alles richtig nachgedacht. Ihm kann man keine Schuld geben. Die kann man niemand geben. Es war einfach so eine merkwürdige Straßen-Geburtstags-Windböe-Situation. Die beiden Fahrer sind ausgestiegen (Fahrer und Beifahrer natürlich! Ihr seid mir aber welche, jetzt habt ihr euch schon die Hände gerieben und gedacht, er hat sich verschrieben, er hat sich verschrieben) und sind zu einem Fast-Food-Restaurant gelaufen. (Den Namen der Kette – McDonald’s – habe ich extra ausgelassen. Man sollte keine Schleichwerbung machen, nie, auf keinen Fall, das könnt ihr euch hinter eure Ohren schreiben. So etwas ist in einem gewissen Sinne (?) unanständig, außerdem müsstet ihr auch alle anderen Fast-Food-Restaurants erwähnen, denn ansonsten wäre das schon MÄCHTIG (ich habe jetzt mal ein besonders großspuriges Wort gewählt, um den Sachverhalt zu betonen) ungerecht. Und ungerecht seid ihr ja nicht, nicht ihr, weil ihr meine Leser seid, die Namen wie Dieter, Olli oder Ludger tragen, und solche Leser haben die Gerechtigkeit bereits als Kind mit MÄCHTIG großen Löffeln gefressen.
Fahrer und Beifahrer sind also, vermutlich weil sie unter Schock standen, gemächlich wie zwei alte Standuhren (hihihi, was für ein Vergleich!) seitlich der Straße zu dem McDonald’s-Restaurant gelaufen, vermutlich, weil sie erst mal zwei, vier Burger essen mussten, um ihren Zuckerhaushalt in Ordnung zu bringen. Ich kann das gut verstehen, kann es nachfühlen, weil der Gedanke, wenn man seinen Laster vor etwa einer Minute von einer Windböe aufgerissen bekommen hat, nahe liegt, sich ein McDonald’s zu suchen, um zwei, vier Burger zu essen. Oder man kauft sich gleich das Happy Meal, da ist alles drin, was für den Körper gesund ist, und nicht nur das, sondern gleich noch ein Spielzeug, mit dem man den ganzen Frust aus sich herausspielen kann. Derweil stand das Windgeschenk, gerupft wie ein Huhn, auf der Straße und wartete auf die Polizei, die sich um die Aufräumarbeiten kümmern muss. Sie ruft wen an, der es in Tüten packt und wegschafft. Und alles unter den erschrockenen Augen von Fahrer und Beifahrer, die sich gerade die Reste ihres Burgers zwischen den Zähnen hervorholen und ihre Spielzeuge präsentieren, den Polizisten und der Windböe, die selbstverständlich größtes Verständnis für Fahrer und Beifahrer hat.
Das alles haben wir gestern beobachtet, leider ohne ein Foto davon gemacht zu haben.
So. Und was wollte ich überhaupt erzählen? Ich weiß es nicht mehr, ihr wisst ja wie das ist, man schreibt in sein Tagebuch und kommt so ins Plaudern, aber am Ende weiß man gar nicht mehr, was man ursprünglich berichten wollte. Man hat sich in Nebensächlichkeiten verloren. Ich denke, es ist nicht weiter schlimm, weil sind wir doch mal ehrlich, das Leben besteht doch aus lauter solchen Nebensächlichkeiten, die irgendwann das ergeben, was wir unser Leben nennen, oder? Und jetzt habe ich am Schluss beinahe noch so etwas wie eine Moral einbauen können, und da denke ich, gut gemacht, mein Junge, und ich klopfe mir auf die Schulter und wünsche euch allen einen wunderschönen Tag, auch wenn der Himmel grau wie das Gesicht eines Kettenrauchers ist.
Man kann die Zeit gut vor dem Internet vertrödeln, diesem großen Apparat, dessen elektrische Schnurenden tief in die Erde reichen und mit jedem Computer auf der Welt verbunden sind. Tippt man eine enorm wichtige Botschaft, die unbedingt alle erreichen muss, kriecht sie durch die Schnur in die Erde und springt mit Lichtgeschwindigkeit in die Bildschirme der Empfänger. Die sind erfreut und erstaunt, dass ihnen eben jemand aus Island mitgeteilt hat, dass er sich jetzt ins Bett legt. So kommt man in die besondere Lage, an jedem Magenknurren weltweit teilzuhaben. Wie Welt früher überhaupt nur ansatzweise funktionieren konnte, kann sich heute beim besten Willen niemand mehr vorstellen. Zum Glück lebt man heute!