Kategorien
Der Autor, den sie Horse nannten Mischmasch

Auf der anderen Seite ist es grüner

Das bin ich! Stehe wie ein Grashalm an der Grenze zum Nachbargrundstück. Wehe hin und her. Da sieht man nicht allerhand, aber manches. Die Perspektive wechselt unaufhörlich, auch wenn perspektivisch alles beim Alten bleibt. Ich blicke auf Gras, denn mehr befindet sich auf dem Land auf der anderen Seite nicht. Es wächst aus der Erde hinaus, was auf eine gewisse Verbundenheit schließen lässt. Der Wind hat mit ihm ebenso leichtes Spiel wie mit mir. Es lebt dort, ich hier. Beide tanzen wir.

Lebe seit Erstgedenken hier an diesem Ort. Manchmal kommt ein Bauer, der etwas weiter unterhalb mäht. Das ist kein Kinderspiel, sondern Völkermord. Körper um Körper fallen die Genossen, mit denen ich nie sprach. Sie glichen mir in Aussehen und in meinen Bewegungen. Man könnte sagen, dass es sich hier um einen gigantischen Open-Air-Ballsaal handelt, in dem wir seit unserer Aussaat beziehungsweise nach dem In-die-Höhe-schießen, mit Unterstützung des Wind- und Wetterorchesters, tanzen.

Ich gelte als ausgemachter Charmeur, der schon so manche Ziege, die sich an mir vergehen wollte, um den Verstand gebracht hat. Gott, so muss es sein, stand auf meiner Seite, wurden doch bereits drei Ziegen von seinen Blitzen dahingerafft. Tod durch Gotteszorn!

Es nicht leicht, an der Grenze zu einem anderen Grundstück aufzuwachsen. Das Gras auf der anderen Seite ist grüner. Die Kühe haben weitaus mehr weiße Flecken. Dort gibt es auch keine Diktatur. Nirgendwo ein Bauer, der sich an den Halmen vergreift. Freiheit, so weit das Auge reicht. Nicht mal Kinder, die sich mit einer Decke auf einen setzen wollen. Oder die einen – noch schlimmer – wie eine Wimper aus der Erde ziehen wollen. Das ist auch keine Art. So etwas schickt und gehört sich nicht.

Woher ich komme, kann ich nicht sagen. Vielleicht aus Ungarn oder aus Rumänien. Ich habe andere Halme darüber flüstern hören.

Als Grenzhalm muss man auf der Hut sein. Man muss die Lage des gegenüberliegenden Grundstücks ebenso im Blick haben, wie die Entwicklungen im eigenen Land, sonst versäumt man die gewaltigen Veränderungen, wie die Baumaßnahmen, denen das Grundstück hinter mir (an das ich nicht grenze, nicht unbedingt, also nicht in Form meines Halmkörpers) zum Opfer gefallen ist.

Wie ich von einem Schmetterling hörte, der sich kürzlich auf meiner Spitze niedergelassen hat, wird dort ein Schwimmbad entstehen.

„Ja, was ist denn das?“ habe ich ihn gefragt.

„Das ist ein Ort, an dem sich die Menschen versammeln, um sich der Sonne auszusetzen, und wenn sie genug von ihr haben, springen sie in einen künstlich angelegten See, um sich abzukühlen.“

„Klingt doch sehr widersinnig“, erklärte ich.

„Menschen“, gab der Schmetterling zurück, als würde das alles erklären.

Eben, es gibt ja stets ein erlebtes Eben, fährt ein Wind über mich hinweg, der es in sich hat. Winde können zornige Gesellen sein. Ich habe mal von einem gehört, der sich in einem Baum einnistete, und als der Baum nach ein paar Wochen verlangte, dass der Wind sich ein neues Zuhause suchen sollte, hat besagter Wind mit dem Baum kurzen Prozess gemacht. Er hat ihn samt Wurzelwerk, und der Baum war wirklich ein sehr bodenständiger und sehr verwurzelter Baum, ausgerissen und wie einen Speer quer über das Feld jenseits der drei Felder, die ich meine zu kennen, geworfen. Dort blieb der Baum mit seinen Ästen stecken und diente fortan als Mahnmal für alle Bäume der Umgebung.

Legt euch nicht mit Winden an, lautete die Botschaft.

Ich lege also meine Ohren an, bis der Wind wieder abflaut, weil ich keinen Ärger mit was für einem Wind auch immer haben möchte.

Man hat nur dieses eine Halmleben, das sollte man nicht vertun, indem man sich mit den falschen Elementen anlegt. Hübsch in der Sonne stehen, hoffen, dass der Mähdrescher die anderen einen Kopf kürzer macht, das ist alles, was ich im Moment tun kann.

Beruflich tut sich wenig. Was soll ein einfacher Halm hier auch erreichen. Ich könnte eine Karriere als Baum anstreben, oder als Sonnenblume. Sonnenblumen sind die Stars auf unserer Wiese, die ich seitlich einsehe. Sie recken ihre Köpfe, bis ein Mädchen kommt, kreischend, und es aus der Erde reißt, damit sein toter Leib die Mutter erfreut. Krank ist das. Und Mädchen sind Geschöpfe der Hölle.

Ich beobachte das Nachbargrundstück. Seit Tagen grünt es dort grüner als auf allen Wiesen des Universums. Könnte ich doch nur auswandern. Mein Glück, es sprießt keine drei Meter entfernt.

Ich habe von Schleuserbanden erfahren, die sich um den Transport eines sehnsüchtigen Halms kümmern. Ich würde gerne mit ihnen Kontakt aufnehmen. Mit jedem Tag, den ich länger an diesem Ort des Trübsinns bleibe, verkümmere ich mehr. Außerdem kam der Mähdrescher beim letzten Mal bedrohlich nahe.

Die Hölle ist es, das Paradies zu sehen, es aber nicht bewohnen zu dürfen.  An der Schwelle zum Glück zu leben, ohne sie je überschreiten zu können, das nenne ich Unglück.

Ich habe versucht, mit einem der neben mir lebenden Halme ein Gespräch anzufangen. Weit gefehlt. Das Pack macht einen auf Gewächs und antwortet mir nicht. Ich muss vorsichtig sein. Denunzianten gibt es überall.

Sollte die Flucht mir unmöglich sein, werde ich es trotzdem versuchen. Es muss doch möglich sein, drei bis vier Meter zu laufen, oder sich vom Wind tragen zu lassen.

Drüben ist es grüner. Das weiß doch hoffentlich kein Kind.

Werbung
Kategorien
Der Autor, den sie Horse nannten

Dienstag II

Die Regentropfen schießen mit einem unbedingten Willen zur Erde hinab, dass man um Haus und Hof fürchten muss. Ein Belagerungszustand. Man kann sich die himmlischen Herrscharen regelrecht vorstellen, die auf dunklen Wolken sitzen und mit ihren Wasserpistolen auf uns zielen. Da wird geballert, was das Zeug hält. Keine Gnade für Erdenbürger, im Speziellen für die in Fulda ansässigen. Die Rache Gottes, mit dem einmal zu viel Schindluder getrieben wurde. Er schreitet seine Armeen ab, ganz bestimmt, vielleicht sogar in diesem Moment. Ein eitler Geck, ein General Custer, der sich den Bart nach oben zwirbelt, der die Enden Richtung Unendlichkeit zieht. „Feuert, meine Engel!“, fordert er seine Gotteskrieger auf. (Das Wort Gotteskrieger vor der Veröffentlichung löschen, um die NSA nicht noch nervöser zu machen.)

Zur Linken steht mein allzeit bereiter Kaffee. Hocherhobenen Kaffeehauptes salutiert er meinen Bemühungen, die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge zu treffen.

Das Dachfenster des Villenobergeschosses hält stand, haben wir es doch aus einem Material fertigen lassen, das Regen abhalten soll. Glas. Die Technik ist vorangeschritten. Es scheint kein Halten mehr für die Menschheit zu geben.

Guten Abend, Welt!

Kategorien
Motorsäge des Schicksals

Freitag

Ideenlos.

Martha, meine Frau, meint, das liege an den Haaren, die senkrecht wie Antennen auf die Sterne ausgerichtet sind. Ich vermute, dass ich bereits als Kind vom CIA entführt und umgerüstet wurde, um die Sterne anzusprechen. Meine Haarspitzen senden unaufhörlich Signale, die quer durch das sich ausdehnende Universum geschossen werden. Manche der Funksprüche werden so lange unterwegs sein, bis das All sich wieder zusammenzieht. Es wird zu einem Rückprall kommen, sodass die Botschaften, die von meinen Haaren ausgehen, in einigen Milliarden Jahren wieder auf der Erde ankommen, um die bis dahin entstandene Spezies mit der Neuigkeit zu verwirren, es könnte Leben irgendwo dort draußen geben.

Meine Haare sind also an der Ideenlosigkeit schuld, weil jede Idee, kurz nachdem sie kleine Funken schlägt, bereits über den haarinternen Antrieb in den Weltraum geschossen wird. Dort oben schwirren sie rum, all meine sexuell aufgeladenen Ideen. Sie paaren sich, ihrer erotischen Ausstrahlungen wegen, und zeugen dabei kleine Teilchen. Das alles ist sehr verwirrend. Ein Gebiet der Astronomie, das nur wenigen bekannt ist.

Verfügt man über ein geeignetes Teleskop (sollten Sie keins besitzen, fragen Sie im Laden am besten nach einem geeigneten Teleskop), kann man die kleinen Ideenteilchen über den Nachthimmel spazieren sehen. Sie tragen meist eine gelben Regenjacke, einen Rucksack und treten in der Gruppe auf. Erst gestern Abend sah ich einen dieser Märsche. Etwa zwanzig Ideenteilchen rannten aufgeregt vom Mond Richtung Mars. Hinter ihnen eine ausgewachsene Idee, die mich mindestens einen Roman gekostet hat. Vermutlich ein Ideenteilchengartenausflug. Könnte gut sein, dass sie in den nächsten hundert Jahren zurückkommen.

Und ich? Ein Opfer meiner vom CIA einst veranlassten Umbaumaßnahmen. Ein lebendes Funkgerät. Eine Zwischenstation, um Ideen aufzufangen und abzugeben. Ein Missbrauchsopfer. Beständig zuckt mein Körper. Da! Schon wieder eine Idee, die in meinen Körper fuhr. Sie schüttelt mich durch, bohrt sich wie der gemeine Hirnkäfer durch mein Oberstübchen, macht sich schlank, schlängelt sich in die Haare, aktiviert den gedachten Raketenantrieb und schießt sich mit der Wucht einer Wuchte in die Tiefen des Weltraums. (Eine Wuchte, für alle die es nicht wissen, ist ein kleines Insekt, das, obwohl es zwei Millimeter klein ist, in der Lage ist, einen ausgewachsenen Mann an den Füßen anzuheben und umzuschmeißen.)

Ich bin eine Abschussrampe. Welch ein Schicksal.

Guten Morgen, Welt!

Kategorien
Mischmasch

Auslaufmodell

Hahn ist ein Außenseiter, einer, der am Rand steht und zusieht, was die tun, die in der Mitte stehen. Er drückt sich an den Hauswänden entlang, als müsste ihn das Mauerwerk absorbieren können. Er ist kein Chamäleon, obwohl er sich für eins hält. Er durchmisst das Viertel mit staksigen Schritten, die ihm schwer fallen, er hebt die Beine, weil ihm jeder Untergrund wie ein Sumpf vorkommt. Er steckt fest. Bis zum Hals in der Scheiße. Trotzdem soll er weitermachen. Schweiß, kalt wie Eis, klebt auf seiner Stirn, hinter der er sich verbirgt. Die Leute wissen nicht viel von ihm, nur dass er Trinker ist. Kein seltener Beruf im Viertel. Hier wird jeder Dritte Trinker, jeder, der was auf sich hält, fällt mit einer Flasche Wodka auf und hin und wieder durch eine Scheibe. Man will Scherben hinterlassen, damit man wenigstens etwas hinterlassen hat, wenn man in die Erde gelassen wird. Der Friedhof läuft mit ihnen über, ganz besoffen ist er von den Trinkern, die sich in ihn versenken wie in ein Buch, von dem man nicht mehr lassen kann. Liegen da rum und faulen. Alles wie zu Lebzeiten. Nichts ändert sich.

Die Aussicht auf den Tod lässt Hahn schneller trinken, denn jeder braucht ein Ziel, auch der Trinker. Also hetzt er von Flasche zu Flasche, von Schlägerei zu Schlägerei, von Frau zu Frau, von Fick zu Fick. Erschöpft erwacht er an den Nachmittagen, gequält von den Dämonen, die sich in seinen Blutbahnen austoben. Trinker zittern nicht des Entzuges wegen, sondern weil unzählige Teufel sie mit ihren Dreizacken um den Verstand bringen wollen.

Hahn ist kein Mensch, auch wenn er wie einer aussieht. Er ist ein Platzrein, ein Läufer und ein Schlagrein.

Jetzt ist es wieder soweit. Er dringt in Maries Wohnung wie Wasser, wie etwas, das sich aus der Kanalisation nach oben gedrückt hat und nach Scheiße und Unrat stinkt.

(Fürchterlich. Niemand hält das aus.)

Er pocht gegen die Tür, schwappt gegen Maries Wohnungstür. Eine Welle, die branden will. Hahn. Wieder betrunken, damit er das sein kann, was er schon immer sein wollte: Flüssigkeit, die sich verteilen kann, die überall ist, die zum Universum selbst wird.

Hahn läuft in die Wohnung, von Zimmer zu Zimmer, nässt alles ein. Ein Sturm, der alles verwüstet.

Du pisst dir in die Hose!, schreit Marie.

(Marie hat er irgendwann geheiratet. Er kann sich nur nicht mehr erinnern, wann und wo, und vor allem weshalb.)

Die Marie-Klage interessiert Hahn nicht, der es eh nicht hören kann, weil seine Ohren mit einem Rauschen gefüllt sind, einem seltsamen Geräusch, das tief aus der Erde kommen muss. Hahn lauscht dem Rauschen, Hahn, der sich über die Kinder beugt und ihnen seinen bösen Drachenatem in die Gesichter bläst, damit sie in See stechen können, damit sie ihm folgen können auf seiner Suche nach dem kürzesten Seeweg ins Grab.

Schon läuft er weiter, läuft er aus und dann von Zimmer zu Zimmer, bis er überläuft. Das kommt davon, wenn man sich seit dem frühen Morgen flutet. Hochwasseralarm im Hahnkörper. Das Hochwasser hebt die wenigen Speisen, die er sich gegönnt hat. Hahn reißt die Augen auf. Er scheint besessen zu sein. Schon wieder. Sein Körper zuckt. Da ist ein Dämon, der das Kommando über seinen Körper übernommen hat. Er schlägt sich auf die Brust, will das Ding aus seinem Körper haben.

Marie möchte schreien: Nicht hier!

Zu spät, viel zu spät. Er hält sich bereits den Bauch, leider nicht vor Lachen, auch wenn das Marie zu wünschen gewesen wäre.

Hahn übergibt sich. Es liegt nicht an ihm und dem, was er will, sondern am Mitteilungsbedürfnis seines Körpers. Es ist eine Art der Kommunikation, die den Leuten verraten soll: Ich habe die Schnauze voll.

Es stinkt fürchterlich, da kommt so vieles hoch, sein Lebensüberdruss, seine Ängste, seine Träume, Bier, Schnaps, ein paar Scheiben Toast, und ganz am Ende noch mal eine Wagenladung Angst. Angst hat er genug, der Hahn, mit der Angst könnte er handeln, könnte sie an den Ecken verkaufen, feilbieten. Könnte raunen: Hey, komm her, ich hab da was für dich. Kann jeder gebrauchen, macht das Leben erst wertvoll.

Marie schreit auf, weil sie es nicht mehr sehen kann, ihn,  diesen Seelenverkäufer von Mensch, der ihr Mann ist und der hier aufläuft und leck schlägt und mit ihrem Leben vollläuft. Sie würde ihm am liebsten eins überziehen, vielleicht mit einem Baseballschläger. Die Hiebe würden ihm gut stehen, bestimmt sogar, die Wunden würden ihn kleiden.

So steht sie neben ihrem Ehemann, der sich stoßweise übergibt und die Kinder aus dem Schlaf kotzt, bis sie ihren Papa mit Weinen begrüßen. Die Kinder kennen es nicht anders, denn wenn der Papa die Wohnung flutet, dann ersaufen sie an seinen Geräuschen, an seinem anschließenden Brüllen, gefolgt von Mama, die er mit gezielten Schlägen in die Ecke katapultiert. Schon schlägt der Gong zur ersten Runde. Die Nachbarin gongt sich an der Wohnungstür die Seele aus dem Leib. Sie treibt ihn an.

Sie wird die Polizei rufen, wenn hier nicht bald Ruhe einkehrt.

Marie würde gerne kehren, sie kann es aber nicht, weil sie längst mit einem gebrochenen Nasenbein vor dem Bett ihres Jüngsten liegt, der seine Mama jetzt beim Sterben beobachten darf. (Er weiß es noch nicht, aber er wird an diesem Bild ein Leben lang arbeiten. Er wird es kauen wie einen Kaugummi, an dem er ersticken wird, auch wenn die Leute behaupten werden, der Strick, den er sich um den Hals legen wird, hätte ihn getötet.)

Hahn knurrt etwas, das niemand versteht. Er ist jetzt ein Hund, der die Zähne fletscht, der aus der Wohnung stürmt, schon nicht mehr wankend, denn sein Hirn meldet ihm, dass es besser wäre, das Weite zu suchen.

(Bloß weg hier!)

Hahn schlüpft durch das Loch zwischen Tür und Rahmen, er schlägt die Schale entzwei, die ihn noch im Ei der Gesellschaft hielt und tappt in die Welt der Flüchtigen.

(Endlich!)

Hahn weiß bereits auf der dritten Treppenstufe, dass er das  hier nicht hätte tun sollen. Schlagen ja, aber nicht zu fest, denn sie könnte draufgehen. (Wird sie, aber das weiß Hahn noch nicht.)

Er will laufen: auslaufen, weglaufen, einlaufen, zulaufen, durchlaufen.

Hahn ist ein Läufer, das weiß jeder im Viertel. Also läuft Hahn rüber zu Engelmann und lässt sich volllaufen.

Dann kann er später wieder auslaufen. Mit gebreiteten Armen auf das offene Meer des Viertels rudern. Zu einem Schiff werden. Kentern.

(Erde zu Erde. Staub zu Staub.)

Hahn öffnet die Jacke, sie flattert im Wind, er setzt Segel und steuert den Hafen an, der ihn träumen lässt.

(Der Friedhof. Er wankt Richtung Friedhof, macht aber einen Umweg über Engelmann, der sein muss, weil Engelmann die Seefahrer mit allem Nötigen ausstattet.)

Hahn lässt das Bier laufen, literweise, er blickt auf seine blutige Hand und wundert sich.

(Die Teufel, die unter seiner Hand leben, müssen entkommen sein. Ein geglückter Ausbruchsversuch.)

Hahn flutet sich und wartet darauf, überzulaufen, denn wenn das geschieht, dann entleert er sich, dann treibt alles Böse aus seinem Körper auf die Straße.

Er will sich verflüssigen, will in alle Ecken des Viertels rinnen, will zum Viertel selbst werden.

Er hebt die Flasche und spürt, dass er kurz vor seinem Ziel steht.

(Zuerst im Magazin >>>>GETIDAN erschienen)

Kategorien
Lesereise des Grauens

Freitag

Ein Geräusch weckte mich an diesem Morgen, das aus der Küche kam. Ah, Hausaufgabe, mein treuer Wolfshund, pinselte mich mit einigen gekonnten Zungenstrichen an.

„Gleich, gleich“, murmelte ich, noch ganz in meinen Traum versunken, der sich um eine versunkene Stadt drehte, in der ich einen Film über eine versunkene Stadt drehte. Eine verzwickte Angelegenheit!

Weil Hausaufgabe keine Ruhe gab (er bellte etwa eine Stunde), schlug ich die Bettdecken schließlich doch zurück. Ich entledigte mich meiner drei Mäntel, die ich der Hitze wegen angezogen hatte. Ein altes Gesetz der Südhalbkugelbewohner besagt, dass man große Hitze mit großer Hitze bekämpfen soll. Feuer mit Feuer. Deshalb lasse ich in der Nacht die Öfen laufen und liege unter zahllosen Fellen. Und tatsächlich, es funktioniert. Ich schwitze derartig, dass ich von der eigentlichen Hitze draußen gar nichts mehr mitbekomme.

Ein Gang auf meinen Balkon überzeugte mich davon, dass etwas nicht stimmte. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Woran konnte das nur liegen? Blitzschnell analysierte ich alle Möglichkeiten. Ein Virus könnte die Menschheit befallen haben. Vermutlich hatte er die meisten meiner Freunde und Bekannte (und solche, die es noch hatten werden wollen) in bösartige Zombies verwandelt. Tote, für die in der Hölle kein Platz mehr war, und die nur deshalb auf die Erde zurückgekehrt waren, um sich in den Kellern und in den Erdlöchern der verschiedenen Tiere, die Erdlöcher bewohnten, zu verstecken. So musste es sein.

Ich kniff meine Augen zusammen. Ich kniff sie auf jene verwegene Art zusammen, die ich sonst nur benutzte, wenn ich dringend aufs Klo musste. Mein Verstand war zu einem Rechenzentrum geworden. Was könnte ich tun, um dem unabwendbaren Grauen zu entkommen? Ich würde mich zunächst einmal bewaffnen müssen. Ein bis drei Panzer würden für den Anfang genügen. Aber woher Panzer nehmen, wenn man sich nie welche zugelegt hatte? Die falsche Einkaufspolitik meiner Frau würde also unser Tod sein. Ich hatte es schon immer geahnt, schon damals, als sie nur Binden, aber keine Handgranaten einkaufen wollte.

Dabei hatte ich als Starautor alle Beziehungen, die vonnöten waren, um den Rest der Menschheit mindestens um 1245 Jahre zu überleben. „Lass die Binden“, hatte ich zu ihr gesagt. „Der russische Waffenhändler, der unten im Wohnzimmer sitzt, würde uns Atomsprengköpfe aus den Beständen der ehemaligen UdSSR verkaufen.“ Nichts zu machen. Sie ließ sich von mir und meinen unbestechlichen Argumenten nicht überzeugen.

Und da stand ich nun. Hilflos! Dort draußen waren sie irgendwo. Zombies. Gott stehe uns bei!

Guten Morgen, Welt!

Kategorien
Lesereise des Grauens

Sonntag

Auch wenn es nicht zum Sonntag zu passen scheint, zu diesem Sonntag, so möchte ich doch das Thema Beerdigungen ansprechen. Man kann gar nicht früh genug darüber sprechen, wie und wo und warum man dereinst unter die Erde gebracht werden möchte.

Die eigene Beerdigung sollte minutiös geplant werden, damit man nachher keine böse Überraschung erlebt.

Die Lieder, die Grabreden. Am besten schreibt man alles selber. Wenn möglich singt und redet man auch selber. Man könnte Gesang und Reden z.B. aufnehmen, um sie über einen über dem Grab errichteten Bildschirm der Trauergemeinde vorzuspielen.

Das hat was!

„Liebe Gemeinde, liebe Freunde und Verkannte, wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied von mir zu nehmen. Stets war ich allen ein guter Freund. Meine Frau wird bestätigen können, dass ich mich jahrein, jahraus rührend um den Haushalt kümmerte.“ So in der Art etwa.

Nie wird so viel gelogen, wie wenn man seine eigene Beerdigungsrede hält.

Versinkt man im Erdreich, sollte man sich mit den Tränen zurückhalten. Ein paar können schon vergossen werden, selbstverständlich, aber nicht zu viele, damit man sich noch in der Lage sieht, die Aufgaben der kommenden Wochen zu verteilen: „Du, meine liebe Frau, kümmerst dich bitte um meine Pfeifensammlung.“ Ein erstauntes Oh wird durch die Menge branden, wusste doch niemand um mein geheimstes Hobby: die Schiedsrichterei. Egal, wo wir hinfuhren, stets hatte ich meine Pfeifen dabei, um, ergab es sich, das eine oder andere Spiel, das sich in der jeweiligen Gegend auftat, zu pfeifen. Ich rannte in meinem kleinen Schwarzen über den Platz, nicht langsam, sondern wie ein aufgebrachter Wind, jedes Foul unbarmherzig ahndend. Beim Sex und beim Fußball kenne ich keinen Spaß. Der und der müssen mit Akribie und einem unbedingten Willen, das Beste aus sich rauszuholen, betrieben werden.

Während man also letzte Aufgaben verteilt, und während die Nationalhymne Frankreichs von einem Symphonieorchester geschmettert wird, und während man im Schneckentempo – die Trauernden sollen Zeit haben, ein letztes Lebenichtmehrwohl zu hauchen – ins Erdreich hinabgelassen wird, sollte man sich nebenher Gedanken über das Jenseits machen. Wie wird es beschaffen sein? Gibt es dort klimatisierte Räume? Wie hält man es dort mit dem Gebrauch von Kondomen? Ist Gott eine Frau, und wenn ja, wie sieht sie aus und – sind ihre Brüste wirklich so groß, wie wir uns das in unseren kühnen Träumen seit Jahren vorgestellt haben?

Sie sehen, die eigene Beerdigung ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Sie verlangt nach einem geordneten Geist, der sich früh um alle Eventualitäten kümmert.

Und sollten wir uns in diesem Leben nicht mehr begegnen, im nächsten wird bestimmt was daraus.

In diesem Sinne …

Sterben Sie wohl!

Kategorien
Das linke Ohrläppchen des Satans

Samstag II

Wenn es nach mir ginge (aber das wäre ja gänzlich etwas Neues), würde ich unaufhörlich schreiben; meine Finger würden sich entzünden, ja man müsste mich allabendlich bandagieren, weil ich meinen Körper beständig im Auftrag der Literatur ruiniere.

Wie Sie wissen, die Sie das Geschehen mit Hilfe einer Webcam sicherlich beobachten, ist dem nicht so. Ständig kommt mir etwas in Form eines Eisbechers, eines Sofas oder eines Bücherregals, an das ich mich lehnen soll, in die Quere. Im Grunde komme ich kaum zum Schreiben, weil ich mich hauptsächlich um Dinge kümmern soll, die Teil meines Magens werden wollen.

Liegenschaften wollen beschlafen werden, und ihre Zahl ist Legion. Inzwischen läuft die Villa mit Betten über: Himmel- und Höllebetten, Feuer-, Erde-, Luft-, und Wasserbetten, Nagel- und Schraubenbetten, Betten, die aussehen wie Stühle, Schränke und Tische. Es ist das wahre Grauen, das hier Einzug gehalten hat. Wir sind zu einer Fluchtstätte für Betten geworden; tatsächlich klopft ein weiteres Bett, während ich dies im fahlen Lichtschein einer flackernden Kerze schreibe, an unsere Tür und verlangt, eingelassen zu werden.

Sie sehen also, würden sich die Umstände meines täglichen Lebens ändern, könnte ich Wichtiges bewirken. Noch aber muss ich mich dem Diktat von Möbeln und Speisen beugen.

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Montag

Der Tod ist ein Arschloch, ein Dieb, ein Einbrecher, ein Entführer. Er steigt in die Häuser der Menschen und streift seinen schwarzen Sack über die Seelen der Toten, um sie fortzubringen. Wohin? Wir wissen es nicht. Seine Schritte sind leicht, sie berühren kaum den Boden. Er schwebt dahin. Er ist schnell, weil er eine Menge zu tun hat.

Leid sollte er einem tun. Niemand mag ihn. (Vielleicht ein paar wenige, aber die meisten würden ihm kein Bier ausgeben.) Laut dem Schriftsteller Terry Pratchett spricht er in Großbuchtstaben.

Sein Haus liegt inmitten eines Gartens, dessen Blumen schon lange nicht mehr erblühen. Die Sonne über seinem Haupt ist kalt. Winde aus dem Osten streichen um seine Nase, an der  Eiszapfen hängen. Wenn er niest, erzittern die schwarzen Katzen, die ihre Körper auf der Erde zurücklassen mussten. Nie hat er Urlaub, dabei würde er am liebsten mal einige Tage irgendwo auf einer Südseeinsel ausspannen. Sein Ruf ist schlecht. Man könnte auch von ruiniert reden.

Sein Rücken schmerzt ihn nicht. Wie froh wäre er, wenn es einmal so wäre. Einmal liegenbleiben und das Bett hüten müssen. Umsorgt werden. Jemanden an seiner Seite spüren, der sich um ihn kümmert.

Aber die Ewigkeit, die sein Auftraggeber ist (und nicht irgendein Gott, wie viele behaupten) kennt keine Gnade. Sie lässt nicht mit sich sprechen. Sie empfängt ihn auch nicht. Es würde keinen Sinn machen, sie aufzusuchen, weil ihr Büro dort liegt, wo keine Gedanken und Worte hinfinden können. Nicht einmal der Tod kennt den Weg, dabei kennt er die meisten Wege, die im Nichts enden, aber eben nicht die, die in der Ewigkeit münden, in der nichts mündet, nicht mal sie selbst. Das ist alles sehr kompliziert. Verwirrend.

Jetzt hat sich der Tod wieder unzählige Seelen geholt. Iain Banks ist unter ihnen.

Der Tod führt sie unter seinem schwarzen Tuch fort. Er wird sie an einen Ort bringen, der Unbeschreiblicher Ort heißt. Es ist nicht der Himmel, wie es sich manche erhoffen. Nicht die Hölle. Der Unbeschreibliche Ort gleicht in gewisser Weise der Ewigkeit. Niemand weiß, wo er liegt. Niemand wird von dort zurück finden. Versucht haben es schon viele.

Den Tod schert es nicht, was jemand auf Erden geleistet hat. Er macht nur seine Arbeit, die meist mit einem Murren quittiert wird.

Ob er sich denn nicht schäme, fragen ihn manche. Es gab auch schon solche, die ihn zu überrumpeln versuchten. Die ihm ans Leder wollten. Die den Tod totschlagen wollten. Dumme Idee. Klar.

Der Tod ist kein Arschloch. Er ist ein hart arbeitender Mann, der nur noch nicht begriffen hat, dass er streiken sollte. Hey, wer hört schon auf eine Wesenheit namens Ewigkeit, die keinen Anfang und kein Ende und vor allem keinen richtigen Nachnamen hat. So etwas hat doch etwas zu verbergen.

Es wird Zeit, die Verhältnisse im Jenseits zu hinterfragen. Eine Terroreinheit sollte mit gezielten Anschlägen an den Rändern der Ewigkeit beginnen.

Es ist an der Zeit, zu handeln.

Jetzt!

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Ostermontag

Wir haben uns gestern auf einer Feier der Familie befunden. (Für mich ist das nicht jene Familie, der man entschlüpft ist, der man im Blut verbunden bleibt, sondern die Familie, die man durch Heirat an seine Seite gezwängt hat, der keine Möglichkeit blieb und bleibt, die gute Miene zum bösen Spiel machen muss, und die ausruft, erblickt sie einen: Schön dich zu sehen!)

Die Familie lebt nicht zerstreut, wie es heute Mode ist; vielmehr haben sie beschlossen, sich in einem Haus gemeinsam einzukerkern. (Ein Haus, dies sei kurz angemerkt, das im Schatten einer riesigen Kapelle liegt, die so alt wie das Menschengeschlecht ist, vielleicht sogar noch ein wenig älter, denn ihre Entstehung geht auf Zeiten zurück, in denen die Götter noch über die Erde herrschten, ihre Kirchen und Kapellen selber bauend, bis ihnen der Gedanke kam, es fehle ein Wesen, um es in die Gotteshäuser spazieren und sie anbeten zu lassen. Und so schufen die Götter den Gläubigen, der in der Mo(r)derne nach und nach von seinem Glauben abfällt. Wie eine überreife Frucht liegt er vor dem Baum der Erkenntnis und fault.)

(Und noch eine Anekdote am Rande: Die Kapelle, so erklärte mir der Vater meiner Frau unlängst, würde inzwischen, fänden sich Christen doch nicht mehr zur stillen Einkehr dort ein, von Satanisten genützt, die stets den Zierrat der Kirche benötigen, um ihren gehörnten Führer anzurufen. Ohne den materiellen Bestand und Fundus des Christmenschen ginge es bei den Satanisten nicht, sei es, dass sie Oblaten schänden oder den Altar mit Blut besudeln. Ob ihre Kontaktaufnahme denn von Erfolg gekrönt sei, fragte ich meinen Schwiegervater, der meine Ansprache unwirsch aus der Luft schaufelte und mit einem Schnauben beantwortete.)

Doch nur zur Osterfeier im Haus POLANT.

Ich wagte es kaum zu klingeln, weil ich wusste, dass der kleine Knopf, den man in die Hauswand schob, einen Mechanismus in Gang setzte, der die Glocken der umliegenden Dörfer zum Schallen brachte. So erfuhr nicht nur mein Schwiegervater, dass wir angekommen waren, sondern auch alle Bevölkerungsteile ringsum waren aufgeklärt. (Ein wenig peinlich, wie ich finde.) Es muss einfach nicht sein, und so klopfte ich die Tür ab, in der Hoffnung, von der Familie meiner Frau erhört und eingelassen zu werden. Nach zwei Stunden schließlich bemerkte uns Schwester Mathilde, die eben, der Zufall spielte sie uns zu, mit einem Salat an der Tür gehorcht hatte, was denn draußen in der weiten Welt so vor sich ginge. Erstaunt sah sie uns an und drückte wieder und wieder die Klingel, um zu testen, warum der Mechanismus nicht funktioniert hatte, was er natürlich tat, wie Sie ahnen werden. Das Geläut der umliegenden Glocken verstummte für die nächsten drei Stunden nicht. Es war eine Tortur für Ohren und Nerven.

Schwester Mathilde nahm uns mit in die Kellerräume, die man erreicht, wenn man etwa vier Kilometer auf allen Vieren kriecht, um sodann einen festlich geschmückten Raum zu entdecken, in denen das Osterfest zelebriert wird.

Eiserne Arme grüßen von den Wänden, in den Fäusten Fackeln, deren Lichter unruhig flackerten und Schatten zeugte, die sich wieder und wieder an diesem Tag in unsere Gespräche mischen sollten. Räder waren zur Zierde aufgehängt.

Wir begrüßten die Familie, alle 450 Personen, die in POLANT leben. Viele hatten wir schon lange nicht mehr gesehen, so den schweigsamen Franz, der es sich zur Angewohnheit gemacht hat, kein Wort über seine Lippen dringen zu lassen. Still sitzt er in der Ecke, still erregt er sich, wird seiner Meinung nach Unsinn geredet, still isst er sein Mahl. (Der schweigsame Franz arbeitet daran, so vermute ich, vergessen zu werden. Er möchte sich aus der Geschichte tilgen, ja, er möchte sich aus dem Leben selbst stehlen, und dies scheint ihm nur möglich, wenn man sich der Sprache, die Welt erschafft, enthält. Vergisst man die Namen, aus der Welt besteht, vergisst man dereinst auch sich. Und man wird sich in Rauch auflösen, wird zu einem Schatten werden, der aus dem Schein der Fackeln tritt, um sich ein letztes Mal zu erinnern, wie es war, ein Mensch gewesen zu sein.)

Nachdem wir alle begrüßt hatten, ausführlich, mehr als ein paar Worte wechselnd, war es bereits Zeit, die Heimreise anzutreten. Wir verabschiedeten uns in aller Eile, schritten die Zeiger der Uhr doch auf die mitternächtliche Stunde zu, in der die Geister POLANT heimzusuchen pflegen.

Rasch, so rasch es unseren voluminösen Körpern möglich war, krochen wir in den Hausflur hinauf und schlüpften in die Nacht hinaus, die uns dankbar verschluckte. Man konnte ihr Kauen, ihr Schmatzen noch hören, da waren wir bereits in der Bestsellervilla zurück, dort ich eine Pfeife schmauchte. Ich reinigte die Flinte und legte mich schließlich todmüde auf einen Bären, dessen Tatzen sich sanft auf meine Hände legten.

„Schlaf wohl“, flüsterte ich meiner Frau zu, die nicht antwortete, die längst ihre Arbeit an der Schafzählstation aufgenommen hatte. Trotz meines immensen, schier ungeheuerlichen Vermögens, in die Kassen gespült durch meine Romane, konnte ein kleiner Nebenerwerb nicht schaden. Ich ließ sie zählen und schlief zufrieden von dannen.

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Ostersonntag

„Nehmen Sie doch noch was!“, sagte der Kellner. Mit zittriger Hand bugsierte er den Bauch von einem Tier auf meinen Teller. „Ich kann nicht mehr!“, stöhnte ich. Die Geburtstagsgesellschaft meiner Mutter (siehe Eintrag vom Samstag) sah mich entsetzt an. Der Kellner kniff ein Auge (das linke?) zusammen und fragte, ob ich die Küche beleidigen wolle. „Nein, nein“, stammelte ich. „Aber nach den 40 Gängen, die es jetzt schon gab, kann ich nicht mehr.“ – „Das ist keine Ausrede.“ Er griff nach dem Löffel und lud fettiges Fleisch darauf. „Essen!“ Alle schauten mich erwartungsvoll an. Auch meine Mutter und mein toter Vater, dessen Urne seitlich auf einem Tisch stand. „Du willst doch noch nicht meine Geburtstagsfeier durch unsinniges Hungern sabotieren?“, sagte Mutter. – „Nein, das will ich nicht“, gab ich zurück. Mutter zeigte auf die Urne. „Vater sieht auch schon unglücklich aus. Du wirst ihn mit deinen Marotten noch ins Grab bringen.“

Ich ließ den Löffel in meinen Mund schieben. Ich würgte, bekam den Riesenklumpen aber nicht runter. Ich spuckte alles neben meinen Stuhl. „Ferkel!“, schrie der Kellner und gab mir eine schallende Ohrfeige. Der Saal applaudierte und stampfte. Mit eingezogenem Kopf zog ich mich vor die Tür zurück und rauchte eine Pfeife. (Ich rauche neuerdings Pfeife, eine feine Mischung aus dem Orient, die mehr als glücklich macht.) Augenblicklich tauchte ich in ein Meer aus Sternen und fühlte mich gut. Ich ließ Ramon (Name geändert) die Pferde anspannen. „Hier kann ich nicht bleiben“, sagte ich zu dem tauben Pferdehirt. Meine Frau und die Kinder konnten nachkommen. Ich vergrub mich unter Decken, Jacken, Erde, Fellen, Fällen, Büchern und ließ den Pferdemetzger die Pferde zu Höchstleistungen peitschen. Nur zurück in meine Bestsellervilla LETZTES GESCHICK (Name geändert). Wir nahmen diversen Fußgängern die Vorfahrt, drängten eine mit Einkaufstaschen behängte alte Frau vor einen Porscho (Name geändert). So etwas tue ich nicht gerne, das braucht niemand zu glauben, auch wenn es eine Sekte in Sibirien gibt, die daran glaubt. Sie beten Fotos von mir an und glauben, ich würde alles, was ich tue, mit voller Absicht tun. Sie denken, hinter meinen Handlungen steckt ein Sinn, der, verstehen sie ihn erst, Gott erscheinen lässt. Außerdem glauben sie an den Weltuntergang in siebzehn Milliarden Jahren.

Zu Hause steckte ich mir erst mal den Finger in den Hals und übergab mich. Was da alles rauskam! Da ist man über sein Innenleben ganz überrascht. Die Klofrau bekam einen Schein auf ihren Teller, weil ich kein Kleingeld dabei hatte. Ha! Klofrau müsste man sein. Rumsitzen und Geld kassieren. Später bereute ich meinen Geldrauswurf und verlangte den Schein zurück. Sie jammerte, dass sie einen Stall voller Kinder hätte. Sie führte mich zum Fenster und zeigte zu einem meiner Ställe. „Dort wohne ich mit meinen achtzehn Kindern.“ Davon wusste ich nichts. Ich ließ sie vor die Tür setzen. Nein, bitte keine Leserbriefe. Ich bin kein Unmensch, aber ein Stall ist kein Zuhause für eine Frau mit so vielen Kindern. Sie durfte noch am Abend die Villa MÜHSAM (Name geändert) in Richtung Irgendwo verlassen. Sie wird es schaffen. Bestimmt.

Ich streckte mich auf dem Sofa aus, war ich doch am Ende meiner Kräfte angelangt.

Heute müssen wir schon wieder auf eine Familienfeier. In der Küche unterhalten sich meine Frau Bärbel (Name geändert) und der blondgelockte Mathematiker Gauß (siehe einer der letzten Einträge). Sie flüstern über das Flüstern, darüber, dass es eine Unart sei, zu flüstern. Ich nicke über einen Bildschirm, der in der Küche hängt.

Die Kinder schlafen noch. Sie dämmern dahin, verfangen in ihren kleinkindlichen Träumen von Panzern und Kriegsgräuel. Worüber Kinder so träumen!

Kaffeeprobe. Hm. gut das Zeug. Ich spucke in einen Eimer weitläufig aus. Der Strahl sitzt. Eigens engagiertes Publikum johlt! Nächster Kaffee.

Wir haben Ostersonntag. Guten Morgen, Welt!

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Guido Rohms gestammelte Welterklärungen (1)

Man kann die Zeit gut vor dem Internet vertrödeln, diesem großen Apparat, dessen elektrische Schnurenden tief in die Erde reichen und mit jedem Computer auf der Welt verbunden sind. Tippt man eine enorm wichtige Botschaft, die unbedingt alle erreichen muss, kriecht sie durch die Schnur in die Erde und springt mit Lichtgeschwindigkeit in die Bildschirme der Empfänger. Die sind erfreut und erstaunt, dass ihnen eben jemand aus Island mitgeteilt hat, dass er sich jetzt ins Bett legt. So kommt man in die besondere Lage, an jedem Magenknurren weltweit teilzuhaben. Wie Welt früher überhaupt nur ansatzweise funktionieren konnte, kann sich heute beim besten Willen niemand mehr vorstellen. Zum Glück lebt man heute!

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Elektropapst

Jetzt ist er gegangen. Ich habe es aus den Nachrichten erfahren. Ein letzter Flug im Hubschrauber über die Stadt. Ein letztes Winke-Winke in die Starrköpfigkeit hinein. Der Ring führte seine Hand, und ich musste an die Geschichte von Bertram denken, der mir erzählt hat, dass es der Ring ist, der sie steuert. Sie sind wie Marionetten, nein, keine Marionetten, eher wie diese kleinen Autos, die du in der Spielzeugabteilung kaufen kannst. Sie sind wie diese kleinen ferngesteuerten Autos.

Irgendwo – was weiß denn ich wo? – sitzt einer, tief unter der Erde, in den Katakomben, in einem schalldichten Raum, einem Bunker, der jede Rakete aushält, der sie abschütteln würde, als wär sie eine Fliege, er sitzt dort und steuert ihn – ich meine, ihn, den Papst, seine Heiligkeit. Der dort unten ist der wahre Papst. Das klingt völlig irre, ich weiß, aber Bertram hat es mir erzählt, und der muss es wissen, schließlich war er jahrelang Messdiener.

Der wahre Papst hockt also vor diesen Millionen von Bildschirmen. Millionen ist übertrieben. Tausend sind es bestimmt. Er muss den Überblick behalten, der wahre Papst. Ist doch irgendwie witzig zu erfahren, dass das Oberhaupt der katholischen Kirche eine Art kleiner Junge ist, der in einem Kellerraum sitzt und seinen ferngesteuerten Papst durch die Gegend hetzt. Warum er sein Modell jetzt wechselt, ich weiß es nicht, ich will es nicht wissen. Zu viel Wissen killt die neugierige Katze. Das wissen wir doch.

Alles dort existiert nur wegen ihm, dem wahren Papst. Das sind Bertrams Worte im O-Ton. Ich habe sie noch im Ohr. Solche Worte klingen eine ganze Weile nach. Alles dort existiert nur wegen ihm, dem wahren Papst.

Und dann hat mir Bertram erzählt, dass der wahre Papst unsterblich sei. Ein unsterbliches Kind, das seit all diesen Jahrhunderten in diesem Keller haust und sein Spiel spielt. Spiele, wie sie Jungen eben so spielen. Da müssen Kriege drin vorkommen, ein paar Affären, die Mafia, dubiose Tode. Es soll ihm ja nicht langweilig werden, dort unten in seinem schalldichten Kellerraum, diesem unsterblichen Jungen, der sich unterhalten muss. Bertram hat gesagt, es wäre wichtig, dass der Junge überlebt, denn wenn der Junge stirbt, sterben wir, weil, jetzt kommt es, jetzt müssen Sie ganz genau aufpassen, weil der Junge ist wir, und wir sind der Junge. Verstehen Sie? Er ist quasi unser Unterbewusstsein, das wir mit einem Körper ausgestattet haben, er ist unsere dunkle Seite, die sich selbstständig gemacht hat, die jetzt in diesem Keller sitzt und Elektropapst spielt. Wir unterhalten uns. Das ist die traurige Wahrheit.

Wir haben diesen schalldichten Kellerraum gegraben, nicht mit unseren Händen, aber mit unseren Gedanken. Schaufel für Schaufel haben wir kollektiv aus der Ferne bewegt. Wir haben die Welt ins Rollen gebracht, nicht die Welt, sondern die Dinge, die sich darauf ereigneten. Wir haben sie ablaufen lassen. Wir sind der Junge. Wir sitzen in den schalldichten Kellern unserer Köpfe und spielen ferngesteuerte Welt. Wir lassen den Jungen spielen, der mit dem Papst spielt.

Alles sehr verworren, ich weiß. Denken Sie eine Weile darüber nach. Sie werden so vieles in einem anderen Licht sehen. Wir sind Papst. Wenn ich den Satz heute höre, muss ich bitter grinsen.

Bertram hat gesagt, es gibt Möglichkeiten, sich aus dem Spiel auszuklinken. Man muss die Batterie entfernen. Natürlich habe ich ihn blöd angesehen. Batterie entfernen? Bertram hat genickt und auf sein Herz gezeigt. Er hat dagegen getippt, als hätte es einen Vogel, als würde es spinnen.

„Du musst es rausschneiden“, hat Bertram gesagt.

Niemals. Das werde ich nicht tun. Die Batterie bleibt, wo sie ist.

Aber alles ist anders. Die Nachrichten zeigen eine Welt, die nicht fremdbestimmt ist. Wir alle steuern sie. Mediation kann helfen, aus dem Keller zu kommen. Ich übe täglich. Ich sitze da und versuche an nichts zu denken. Mann, das ist die Hölle! Es ist nahezu unmöglich. Egal, was wir tun, wir sind ständig online, wir sind am Steuern.

Im Vatikankeller sitzt der kleine Junge und lässt seine Kardinäle entscheiden, welchen Elektropapst er als nächstes ins Spielfeld führen wird.

Eins ist sicher. Das Spiel soll ihn nicht langweilen. Ihn? Uns?

Es ist verfahren!

Kategorien
Funkenmariechen des Todes

Das Kind

Aus Karl Bordmanns Aufzeichnungen

 

… es ist zum Heulen. Kinkerlitzchen. Es kann nicht von mir stammen. Eva behauptet es. Sitzt rum und heult, das dämliche Weib. Ich habe ihr schon hundertmal erklärt, dass es Einbrecher gewesen sein müssen. Hurensöhne, die in dieser Gegend auf einem Raubzug waren. Und weil sie nichts gefunden haben, zerschlugen sie das gesamte Mobiliar.

Jetzt will sie mich verlassen. Soll sie doch gehen. Es ist sowieso alles am Ende. Mir fehlen die Kräfte, um noch etwas zu schreiben.

Am Horizont braut sich ein Sturm zusammen. Er wird alles mit sich reißen. Ich kann es in meinem kleinen Finger spüren. Dieses Ziehen.

Sitze hier in meinem Sessel und trinke. Eva wühlt oben. Vielleicht packt sie ihre Koffer. Ich werde sie nicht aufhalten. Ich könnte es tun. Ich habe es schon einmal getan. Was hat das gebracht? Nichts! Reden wir nicht darüber. Ich will nichts davon hören. Es gibt Bilder, die nicht verschwinden wollen. Ich werde …

 

… ein Klopfen. Ich bin mir sicher, ein Klopfen gehört zu haben. Eva ist fort. Gott sei ihrer erbärmlichen Seele gnädig. Es war eine Menge Arbeit, sie nach Hause zu bringen. Die Erde ist feucht. Sie ist schwer, zu schwer für einen alten Mann wie mich.

Unten ist etwas. Ich müsste nachsehen. Nein. Soll es doch dort sein. Soll es umherkriechen. Es kommt aus dem Meer. Manchmal muss ich lachen. Ich kenne es. Es kommt aus meinem Kopf. Aber es lebt. Obwohl es aus meinem Kopf kommt, lebt es. Ist das nicht wunderbar. Es ist mein verfluchtes Kind. Meines und Evas. Wir haben es gezeugt, als ich sie …

 

… Papa! Es ruft nach mir. Es will, dass ich nach unten komme. Scheiß auf alles. Ich werde hier liegen und langsam verrotten. Liegen und sterben. Das ist es. Ich habe die Schnauze voll. Ständig bimmelt das Telefon. Die Nachbarn. Oder eine ihrer Freundinnen, die sie suchen. Sie werden sie nicht finden. Ich müsste mir die Finger waschen, der Dreck der Erde sitzt noch darunter. Das Kind schleift sich unten über den Boden. Es ruft nach mir. Papa! Das ist zum Lachen. Das ist zum Weinen. Es ist das hässliche Kind einer hässlichen Liebe. Ich sollte nach unten gehen. Sollte es mit der Schaufel zu Mama bringen. Dort gehört es hin. Würde nichts bringen. Weil es in meinem Kopf geschlüpft ist … Mehr trinken!

 

… kaum glauben. Ein wunderschöner Sonnentag. Und ich bin noch am Leben. Ich habe den Sturm überlebt, diesen Orkan, den Gott sandte, um das Böse vom Antlitz des Planeten zu wischen. Im Haus herrscht völlige Ruhe. Die Brandung schlägt wie ein Pendel. Regelmäßig, so wie mein Puls. Es könnte alles gut werden.

Ich werde nach unten müssen. In den Keller. Ich habe keinen Wein mehr. Und wer mich kennt, der weiß, dass ich ohne Wein kein Mensch bin. Ich bin eine leere Hülle. Eva wusste es. Sie hat es gesagt. Wieder und wieder. Gott, halt doch deine schäbiges Maul, hab ich gerufen, aber sie hat es wiederholt. Die Worte kamen wie Kugeln aus ihrem Mund. Wie ein Maschinengewehr war sie. Eine … Jetzt ist sie nicht mehr. Es ist gut, was ich getan habe. Gut. Es geht um die Ruhe, die ich mir verschafft habe. Die Zeit, die mir bleibt. Wenn ich nur gesünder wäre, ich würde etwas schreiben, dass sie schon lange nicht mehr gelesen haben. Einen Schrei. Den würde ich aufschreiben. Ich habe ihn gehört. Er ist noch in meinem Ohr und …

 

… unser Kind. Ich habe es gesehen. Es ist … es lag … Mir fehlen die Worte. Eine Missgeburt. Eine totale Missgeburt. Ein schleimiges Etwas. Es lag unten auf den Fliesen. Hinter sich eine Schleimspur aus Blut. Eva muss es in ihrem … Sie muss es dort unten bekommen haben. Und dann hat es sich befreien können. Ich weiß nicht … Es muss die Erde zur Seite geschoben haben und hat sich über die Terrasse ins Haus geschleift. Ich habe mich nicht verhört. Es hat gerufen. Papa, hat es gerufen. Es wollte zu mir. Ich habe es nicht berührt. Nein, das kann ich nicht.

Ich habe mir Wein geholt. Bin nach oben zurück. Hier sitze ich und schreibe. Ich schreibe alles auf, alles, was …

 

… in der Nacht konnte ich es hören. Es hörte sich wie ein Miauen kann, gefolgt von einem Wimmern. Und dann hörte ich ganz deutlich, wie es wieder Papa rief. Nicht. Nein. Es hat nicht gerufen. Es hat es geflüstert. Ich sollte gehen. Nein! Ich darf nicht gehen. Es ist ein Kind des Hasses. Es wurde mit Blut gezeugt. Es wurde mit einem Hammer gezeugt. Mit einer Schaufel. Papa. Das kann nicht sein. Ich werde vermutlich nur verrückt, nur verrückt, verrückt.

Es hört sich an, als wäre es auf die unterste Stufe gekrochen, als würde es sich auf dem Weg nach hier oben befinden. Ich könnte wen anrufen. Wen? Ich könnte es erschlagen. Sie wie … Ich will jetzt nicht daran denken.

Ich muss mir diese Welt aus dem Kopf trinken. Dann wird schon alles gut. Alles wird gut. Alles …

 

… Tür zugeschlossen. Ich denke nicht, dass es etwas bringt. Ich werde es nicht abhalten. Es weint. Ich bin ein schlechter Vater. Es kratzt an der Tür. Es muss über lange Fingernägel verfügen. Es hört sich an, als würde man Metallspitzen über das Türblatt ziehen. Es heult, es kratzt. Es ruft mich.

Es wird kommen.

Es will doch zu seinem Papa!

Es …

 

… Ruhe.

Das hat nichts zu bedeuten. Das ist die Ruhe vor dem Sturm. Ich habe die Waffe geladen, die kleine, die Eva in ihrem Nachttisch aufbewahrte.

Ich bin bereit. Wenn es kommt, werde ich den Lauf tief in meinen Mund stecken und mich entfernen. Ich weiß nicht, ob die Kugel tödlich ist. Ich vermute es. Ich hoffe es.

Draußen ist seit Stunden nichts zu hören. Stunden? Es könnten auch nur Minuten sein. Das Kind sammelt sich. Konzentriert sich. Es hat nicht aufgegeben. Nein.

Mein Blick ruht eisern auf der Tür. Hier wird es ein zweites Mal schlüpfen. Es will in meine Welt.

Ich denke es ist Zeit, es zu begrüßen.