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Neues2021

Meinem Schwiegerpapa zum Abschied

Für Emil Dehler (28.04.1935 – 23.10.2021)

Abschied

Er geht. Er ist unruhig. Er hat Schmerzen. Durst. Seine Hand hebt sich. Wie von einem Faden gezogen. Sie erzählt etwas. Davon, dass er trinken möchte? Ein Auto starten? Die Hand ruft. Spricht. Wir nehmen die Sauerstoffmaske ab. Wie ein Pilot. Wie jemand, der bereits die Erde verlassen hat. Der um die Erde kreist. Um uns. Seine Hand erzählt etwas. Der Arzt kommt. Spricht mit uns. Kündet das Unvermeidliche an. Er lebt doch noch. Er meldet sich zu Wort: Habt die Sonne im Herzen. Wir sehen ihn an. Er ist wieder unruhig. Die Hand spricht. Wir halten sie. Halten ihn. Wir halten ihn fest. Wie ein Pilot mit seiner Sauerstoffmaske. Seine Hand steuert. Habt die Sonne im Herzen. Er steuert auf die Sonne zu. So unruhig. Er fliegt. Verlässt uns. Bleibt bei uns. Ist die Sonne, die wir im Herzen tragen.

Jemand fehlt

Jemand stirbt. Er wird aus der Welt geräumt. Verstaut. In die Erde gepackt. Situationen werden nicht mehr erlebt. Träume bleiben ungeträumt. Warten die Träume auf den Träumer? Wartet die Kaffeetasse auf den, der sie ansetzt? Die Dinge warten. Werden weitergereicht. Müssen sich an neue Benutzer gewöhnen. Bleiben ungenutzt. Plätze bleiben leer. Unbesetzt. Die Löcher sind zu sehen. Man kann sie spüren. Sie füllen die Räume aus. Der leere Platz am Waschbecken. Im Bett. In der Dusche. Hüte, die auf einen Kopf warten. Mäntel, die angezogen werden wollen. Die im Schrank hängen und auf die Rückkehr ihrer Träger warten. Sie werden in Säcke gepackt. Verstaut. Weggegeben. Oder aufbewahrt, weil sie den Geruch dessen, der in die Erde gepackt wurde, bewahren. Weil ihr Geruch von einem Abendessen erzählt. Blicke fehlen. Werden erinnert. Ein Lächeln ist abhandengekommen. Jedes Lächeln fehlt. Keines kann entbehrt werden. Es wird nachgeahmt. Wird gefunden. Im Enkel. In der Tochter. Ist noch da. Jemand ist zurück.

Die Sonnenkatze

Du sitzt in der Kirche. Du sitzt und wartest. Frauen beten. Hier warst du schon lange nicht mehr. Dem Toten war es wichtig. Also bist du da. Es wird gebetet. Ein Murmeln, eine Brandung. Die Gebete rollen heran. Entfernen sich. Hin und her. Vor dem Altar ein Lichtfleck. Die Sonne bespielt den Raum. Das Licht legt sich aus. Legt sich hin. Wie eine schläfrige Katze liegt das Sonnenlicht vor dir. Die Stimmen der betenden Frauen wiegen dich. Die Lichtkatze räkelt sich. Gähnt. Wurde sie geschickt? Ist sie ein Himmelstier? Begleitet sie die Toten ins Jenseits? Du liegst in den Worten des Gebets wie in einer Hängematte. Du tauchst ab. Gleich wird die Kirche beginnen. Der Pfarrer seine Worte sprechen. Du befürchtest, dass er die Sonnenkatze aufscheucht. Lasst sie liegen. So könnte es bleiben. Ein ewiger Moment der Müdigkeit. Du und die Sonnenkatze, die vor dem Altar liegt. Mit einem leichten Lächeln. Habt keine Angst, schnurrt sie. Sie ist aus Sonnenlicht gemacht. Und aus Ruhe. Liegt dort und träumt. Du sitzt und spürst die Wärme ihres Körpers. Sie ist eine Schläferin. Und eine Schattenjägerin.

Unvorstellbar

Der Sarg fährt ein. Er versinkt in der Erde. Ein Loch wurde ausgehoben. So viele Löcher, denkst du. So viele Löcher, vor denen Menschen standen und weinten. Der Sarg wird nach unten gebracht. Der Mensch kehrt zurück. Er kehrt zurück in den Bauch von Mutter Erde. Dort liegt er in seinem Sarg. Du kannst es dir nicht vorstellen. Es ist unmöglich. Er kann dort nicht liegen. Man wird ihn ausgetauscht haben. Die Fantasie kann nicht weit genug greifen. Sie kann den Menschen, den du verloren hast, nicht in dieses Ding packen und versenken. Vielleicht hat man ihn ausgetauscht. Hat eine Puppe hineingepackt. Aber wo ist er dann? Er muss also dort sein. Er liegt und ruht. Er wartet auf die letzte Veränderung. Darauf, dass die Zeit ihn verspeist. Das kannst du nicht denken. Es ist das Unvorstellbare. Er liegt nicht im Sarg. Wo liegt er dann? Der Sarg fährt wie in einem Lastenaufzug nach unten. Und Erde fällt. Und Blumen fallen. Und alles wird zur Natur. Und eine Rose fällt. Und Tränen fallen. Und alles fällt. Du trittst heran, zurück. Die Trauergäste kommen. Nehmen dich in die Arme. Der Sarg liegt in der Erde. Niemand kann darin sein. Es ist unvorstellbar.

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Morgengestolper

1.

Er steht auf. Vielmehr kippt er aus dem Bett in den Morgen. Er lädt sich ab, als wäre das Bett eine Baggerschaufel. Deshalb liegt er auch noch eine Weile auf dem Boden. Aufstehen ist für ihn mehr ein Aufliegen. Er liegt also auf. Streckt sich. Herrlich, so ein Morgen. Seitlich könnten Sonnenstrahlen strömen, wenn es noch nicht zu früh wäre. So sickert Dunkelheit, die er mit dem Deckenlicht so weit flutet, dass nichts mehr von ihr übrigbleibt. Nach einer halben Stunde zieht er sich an der Kommode hoch. Er zerrt sich ins Senkrechte, bis er schließlich seine zwei Füße spürt. Der aufrechte Gang ist über ihn gekommen. Wenn auch langsam.Er schlappt hinüber in die Küche und gähnt. Letzte Schlafrückstände müssen aus dem Körper gepresst werden. Er schreit sie mit einem leicht debil klingenden Geräusch in die Welt. Für einen Moment sieht er wie dieses berühmte Gemälde von Munch aus. Nur ohne Brücke.Er tappt wie ein Zombie zur Kaffeemaschine hin, zum Antrieb, zum Motor, der ihn in Gang bringen soll. Der Motor muss mit Treibstoff gefüllt werden. Also hinein mit dem Kaffeepulver, dem Wasser. Eine explosive Mischung. Er betätigt den Schalter und schon röchelt der Motor vor sich hin. Er klingt so alt, wie er sich fühlt.Drei Schritte hin zum Küchenstuhl. Er plumpst hin. Gerettet. Länger kann in diesem Zustand kein Mensch am Stück um diese Uhrzeit stehen.Und nun wartet und kuckt er, wie der Motor das Schmieröl produziert, das er in seinen Tank füllen wird, um in den Tag hinein zu rasen. Rasen nicht. Er ist ein Gefährt mit wenigen PS.Die Augen halboffen, stolpert sein Blick in der Küche umher, bis er schließlich fällt. Er ist eingeschlafen. Zu viel Stress um solch unheilige Zeit.

2.

Er steht im Jogginganzug vor dem Haus. Bereit für den Morgenspaziergang. Der Anzug soll ihm einreden, er sei sportlich. Dabei hasst er es. Aber das Laufen gaukelt ihm vor, er könne vor dem Tod davonlaufen. Es redet ihm ein, er habe etwas getan. Also bereitet er einen ersten Schritt vor. Immer in Bewegung bleiben. Nicht stagnieren. Agil bleiben. Der erste Schritt ist noch nicht ausgeführt, da kommen ihm Zweifel. Was, wenn es kontraproduktiv ist? Wenn dies genau hier und jetzt zu einem Herzinfarkt führt? Er verharrt. Wird zu einem grünen Ampelmännchen. Zeigt an, ihr könnt alle gehen. Ich bleibe. Er überprüft sich. Horcht in sich hinein. Ist das nicht ein Stolpern? Ein Herz, das aus dem Takt geraten ist? Er nimmt den Schritt langsam zurück. Langsam. Ganz langsam. Keine unachtsame Bewegung mehr. Er zieht sich an die Tür zurück, schließt auf, taumelt in den Flur. Das ist ja noch einmal gutgegangen, denkt er. Und atmet erleichtert auf, bis ihm einfällt, dass er noch 16 Stufen hinauf zur Wohnung bewältigen muss. Wie soll er das denn schaffen? Er muss warten, bis wer kommt, der ihm hilft.