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Der Autor, den sie Horse nannten

Dienstag

Kaum war ich aus Wien zurück, warteten bereits die nächsten Aufgaben auf mich. Für einen Schriftsteller gibt es immer etwas zu tun. Die Villa musste wieder einmal gründlich kontrolliert werden. Hatten die Putzmänner etwa geschludert? Mit einem weißen Handschuh fuhr ich über die Möbel. Der zweite kam dazu. Ein erstes Rennen meiner Hände wurde ausgetragen. Links lag vorne, drückte sich in die Innenkurve des runden Esstischs. Früher fuhr ich – Sie werden sich erinnern, und wenn nicht, werden Ihre Eltern Ihnen davon erzählt haben – professionelle Handrennen. Der reinste Circus. Wir zogen von Land zu Land. Von Tisch zu Tisch. Die Rennleitung mietete sie in den besten Hotels der Welt an. Wir galten als tollkühne Helden der Tische. Unfälle gab es zuhauf. In Rio brach sich Nicki Leiser seinen Mittelfinger. Ein tragischer Zwischenfall, der ihm seine Karriere kostete.

Ich lenke ab. Ich fuhr also, aus Gründen der Qualitätskontrolle, ein Rennen mit meinen in weiße Handschuhe gepackten Händen. Und was musste ich entdecken? Ein Staubkorn. Ich ließ die Putzmänner kommen, ließ sie in Reih und Glied antreten. So etwas dürfe nicht mehr vorkommen, erklärte ich. Immerhin war ich nur drei Tage in Wien, in der dortigen Außenstadt, um mich mit einer Bloggerin zu treffen. Gemurmel brandete an mein linkes Ohr. Das rechte vernahm nichts. Deshalb behaupten also manche, ich sei auf dem rechten Ohr taub. Ja, sie hätten richtig gehört. Eine Bloggerin, der ich ein Interview gegeben habe. Tanzend. Im Regen. Die Beifallsbekundungen der Putzmänner schreckten mich aus meinen Tagträumen auf. Wien lag hinter mir. Meine Frau dürfte es nie erfahren. Dabei war gar nichts geschehen.

In diesem Moment wehte Bettina (Name geändert) herein. Unter dem Arm einen Thriller. Sie gilt als die mächtigste Leserin der Welt. Siebzehn Bücher in zwei Tagen. Sie liest sie alle an die Wand.

„Zurück?“, rief sie. Ich blinzelte ihr zu. Sie ließ das Buch fallen, griff nach meiner Hand.

Wir verschwanden im Schlafzimmer. Hemmungsloser Sex. Achtmal. Ich fuhr Handrennen auf ihren Brüsten. Zwischenstopp am Bauchnabel. Reifenwechsel. Und weiter ging es.

Erschöpft lag sie schließlich neben mir.

„Früher“, sagte sie und keuchte, „früher hast du mehr Runden gepackt.“

Die Gewissheit traf mich mit einem gezielten Schlag. Das Alter machte auch vor mir nicht halt. Ich war siebenundzwanzig. Gott, ich verfiel. Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt.

Guten Morgen, Welt!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Montag

Es gab eine Zeit, da spielte ich mit dem Gedanken, eine  Tischkickerfigur zu werden. Ich dachte, da muss man nicht viel machen. Sie amputieren dir die Arme und ziehen dir stattdessen eine Metallstange durch die Schultern. Rumhängen und benutzt werden, das war mein Traum vom Glück. Ich würde gefeiert werden, obwohl ich nicht mal etwas tun müsste.

Nie wieder einsam. Ich würde mit meinen Kollegen in einem Tischkicker in einem Gemeindezentrum leben. Die Kinder kämen vorbei und würden große Partien austragen. Solche, die in die Geschichte eingehen würden. Und ich würde nichts tun müssen, außer Kopf und Füße hinhalten.

Meine Eltern meldeten mich tatsächlich an. Als sie mich ins Krankenhaus brachten, um mich zu operieren, bekam ich Angst. „Ich wäre doch zu sehr gebunden“, erklärte ich Mutter und Vater, die das verstanden. Sie hatten meinen Wunsch, eine Tischkickerfigur zu werden, eh nie verstehen können. Also rissen sie mich vom OP-Tisch und nahmen mich wieder mit nach Hause.

Heute bin ich froh, dass ich keine Figur in einem Tischkickerteam wurde. Nur auf einem Platz leben, nie etwas anderes sehen. Außerdem kann einem rasch schlecht werden, durch die Bewegungen, die die Kinder mit einem ausführen. Die Bezahlung ist beschissen. In den meisten Fällen bekommt man gar nichts. Nein, das ist kein Leben, das man sich wirklich wünschen sollte. Man hat im Grunde nie Feierabend, weil es zu einer Symbiose mit dem Tischkicker kommt. Wer sich entscheidet, ein Star der Tischkickerszene zu werden, muss wissen, dass er durch die Metallstange, an der man mit mehreren anderen Spielern hängt, zu einem Fleischstück auf einem Spieß wird. Und wenn man sich jetzt mit seinem Nebenmann nicht versteht? So einfach aussteigen kann man nicht. Beine und Mund werden nämlich zusammengenäht. Ernährt wird man durch eine Speziallösung. Gesehen habe ich es noch nie. Aber es muss sie geben. Sonst würden die ganzen Jungs der unzähligen Teams weltweit jämmerlich verhungern. Im Grunde wird man zu einer Marionette. Zu einem Sklaven derer, die einen benutzen, um sich einen netten Nachmittag zu machen. Tischkickerfiguren sind keine Stars, sondern durch eine Operation gezüchtete Sklaven. Widerlich! Wir sollten nicht länger zuschauen. Gehen Sie hin und befreien Sie diese armen Wesen! Führen Sie ihn an, den Aufstand der Tischkickerfiguren!

Guten Morgen, Welt!

 

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Lesereise des Grauens

Mittwoch

Das Kind ist immer noch krank. Die Krankheiten von heute, dachte ich. Früher war das alles schneller erledigt. Da ließ man die Patienten zur Ader, und wenn gar nichts mehr half, schnitt man die betreffende Stelle ab. Schnipp, schnapp. Dem Patient ging es zwar nicht unbedingt besser, aber der Brandherd der Krankheit war eliminiert.

„Ich hoffe, die Viren springen nicht auf mich über“, sagte ich zu meiner Frau. Ich malte ein verheerendes Szenario leerer Stadien, wenn meine Stimme in Mitleidenschaft gezogen würde. Sie zeigte für meine Aufregung kein Verständnis. Immerhin sei ich weder ein Opern- noch ein Popstar. „Danke“, sagte ich. So deutlich hätte sie das nun auch wieder nicht zum Ausdruck bringen müssen. Ich wusste um meine wunden Stellen, um meine vertanen Chancen und Möglichkeiten. Wäre alles etwas anders gelaufen, würde ich in diesem Augenblick vielleicht vor fünfzigtausend Menschen in Rio … Lassen wir das!

Um sicherzugehen, dass ich mir keinen Schnupfen eingefangen hatte, wusch ich mir die Hände. Naseputzen ist ebenfalls empfehlenswert. Ich spielte ein kleines Medley aus Hits von Benny Goodman und John Coltrane. Meine Frau bekam ganz weiche Knie, wie ich da so im Gegenlicht der Küchenlampe stand und unsere alten Lieder auf meiner Nase spielte. „Du beherrscht sie ja noch!“ schrie sie entzückt auf. Ich nahm das Tempo von der Nase und lächelte sie auf diese Art an, die einen gewissen sexuellen Unterton mitschwingen ließ. „Ich habe es nie verlernt“, sagte ich. Der Morgen war jung, wir waren jung, die Gegenstände um uns herum waren jung, sogar der Müllbeutel war jung. Ich hatte selbst gesehen, dass meine Frau ihn mit abwesenden Augen während meiner Jazzbeglückung ausgewechselt hatte, um keinen schlechten Geruch in der Luft liegen zu haben. Sie denkt eben mit, das hat sie von ihrer Mutter, die auch schon dafür bekannt war, gerne mal die eine oder andere Sekunde mitgedacht zu haben. Erbgut! Ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Natur, der uns mehr prägt, als wir oft wahrhaben wollen.

Guten Morgen, Welt!

Schnupfen 003

Hier schnäuze ich gerade eine der alten Nummern von Benny Goodman, die wir in unserer Jugend so gerne gehört haben

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Lesereise des Grauens

Dienstag

Während in England ein Baby zur Welt gekommen ist, habe ich schlecht geschlafen. Ich habe das Bett wie der Bauer den Acker durchpflügt, ohne zu säen allerdings. In dieser Nacht war Erntezeit. Ich habe das Unwohlsein des Körpers aufgenommen und in der Hand gewogen. Ich habe es für schlecht befunden. Und jetzt?

Ganz ehrlich, am liebsten würde ich mich übergeben. Keine Ahnung, was da los ist! Es könnte sein, dass ich etwas „falsches“ gegessen habe. Ein halbes Rind, nachher noch einen eingelegten Auerhahn. Ich höre schon die Meckereien der Leute, die mich vor meiner Maßlosigkeit warnen wollen.

Alle großen Schriftsteller waren maßlos. Sie haben gesoffen, gebetet, gefressen, als ob es kein Morgen geben würde. Klar. Das hat gar nichts damit zu tun, ob man Schriftsteller oder Müllmann ist. Es hat damit zu tun, ob man sich im Griff hat. Und im Griff, das muss ich mal auf das Tablett eines solchen Tagebuchs legen, habe ich mich überhaupt nicht.

Viel lieber lasse ich mich mir entgleiten. Ich rutsche mir am liebsten durch die Hände. Nur um zuzusehen, wie ich am Boden aufpralle und in tausend Stücke zerspringe. Anschließend lese ich mich auf.

Und das, heute wird es schwierig, passen Sie also auf, tue ich im wahrsten Sinne des Wortes. Ich liege im Bett oder auf dem Sofa und lese mich auf. Ich versuche mich in einem Roman zu finden. Irgendwo dort draußen ist ein Buch, das meine Geschichte erzählt. Ausgerechnet meine. Das ist verrückt. Das ist der Wahnsinn! Wie konnte das Roth wissen? Updike? Ich lese wie im Fieberwahn. Ich gesunde durch die Krankheit des Lesens. Und dann? Ein Wunder ist geschehen. Ich bewege meine Füße, meine Beine. Ein Wunder! Ich kann laufen. Dank eines Romans, der mir eine Geschichte schenkte, meine Geschichte, kann ich wieder laufen.

Und weiter geht es. Maßlos leben. Wieder lasse ich mich durch meine Finger gleiten. Das alte Spiel. Ein Unbelehrbarer!

Guten Morgen, Welt!

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Das linke Ohrläppchen des Satans

Montag

Überwältigt von der Technik, die mit mir ein mysteriöses, undurchschaubares Spiel treibt, saß ich vor eingefrorenen Bildern, ich, der sich eben erst ins Internet einklinken wollte, um zu lesen, zu schreiben, saß plötzlich vor einer unbeweglichen Welt, einer, die verharrte, die den Atem anhielt, die diverse Skripte nicht ausführte, was immer das heißen sollte, dabei schreibe ich doch bereits wie ein Wahnsinniger, aber die Skripte wurden nicht ausgeführt; es trat ein Fehler im weltliterarischen System auf, das bestimmt, ich legte meinen Kopf an den Rechner, bereits von den Amis und den Briten abgehört wird, die ihre kleinen Spionageprogramme über meine Texte laufen lassen, über das eine oder andere Skript, über alle Skripte, weil sich da Wörter fanden, die verdächtig erscheinen, solche Wörter wie: Einkaufszettel, Parklandschaft, Regenwetter, Systemzusammenbruch, Revolution und Eieruhr. Alles gefährliche Wörter, weil Wörter ein Innenleben führen, das die Außenwelt manipulieren will; Wörter sind die Wesen, die sich in unsere Hälse setzen und schlüpfen wollen; dabei, so überlegte ich, den Kopf bzw. das Ohr noch auf dem Rechner, müssen die Amis, Briten und Russen doch gar nichts vor mir befürchten, zumindest nicht offiziell, weil ich nichts plane, weil ich nichts vorhabe, ich gehe mit nichts schwanger, nicht mal mit einer … Aber so ganz stimmt das nicht, es gibt da diese revolutionäre Idee für meinen neuen Roman, den könnten sie gemeint haben; jetzt fällt es mir wie Schuppen von Haut, Augen, Haaren, dass sie sich auf die Idee zu meinem neuen Roman einschießen. Die großen Weltmächte, die auf dem absteigenden Ast sind, auf dem, der sich senkt, der schon bald den Boden berührt, gieren nach meiner neuen Romanidee, diesem großartigen Anti-Krimi, an dem ich gerade schreibe. Ich halte inne. Das Wort, das ist es, das gefällt mir, das muss ich notieren, hinein in mein gestammeltes Notizbuch, das für jeden einsehbar ist, in das jeder blicken kann, ob er vom Geheimdienst ist oder nicht. Ich schreibe Anti-Krimis. Somit wäre endlich die Schublade gefunden, nach der wir alle schon so lange gesucht haben. Gott sei meiner armen, meiner erbärmlichen Seele gnädig, und dies bis in alle Ewigkeit, Amen!

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Funkenmariechen des Todes

Freitag

Schon wieder ein neuer Tag. Wenn das so weitergeht, ist mein Leben vergangen, ohne dass ich Zeit für die wirklich wichtigen Dinge hatte. Ich müsste mal Schneebälle im Sommer werfen. Oder einem Kaninchen das Fell über die Ohren ziehen. Ich schreibe ja schon wieder wie ein ausgehungerter Fuchs. Da wird in die Tasten gehauen, dass meiner Frau Bettina (Name geändert) die Buchstaben nur so um die Ohren fliegen. Sie kann schon gar nichts mehr sehen. „Das ist ein wahrer Orkan!“ schreit sie und schlägt nach den kleinen Dingern, die Worte ergeben können, wenn man sie in die richtige Reihenfolge bringt. Sie sitzt jetzt in der Küche und schaut dem Chefkoch Ismael (Name geändert) über die Schulter. „Das sieht lecker aus“, sagte sie zu ihm. Er nickt und schneidet weiter die Zwiebeln. „Gleich werde ich sie noch hacken“, sagt Ismael. „Ich werde sie so klein schneiden, dass sie man sie nur noch unter einem Mikroskop erkennen kann.“

Ich habe keine Zeit für solchen Unfug. Die nächsten Romane wollen beendet werden. Heute Abend geht es auf den dreißigsten Geburtstag meiner Schwiegernichte. Vermutlich werde ich mich sinnlos betrinken, weil die Leute so etwas von einem Starautor erwarten. Ich will sie da mal nicht enttäuschen, sondern schlucken, was Magen und Leber aushalten. Es könnte sein, dass ich auf das Essen kotze. Das passiert manchmal. Wenn sie mich auch mal einladen wollen, zieren Sie sich nicht. Ich freue mich über jedes Besäufnis, für das ich nicht bezahlen muss.

Meine Tochter Gesine (Name geändert) rohmort derweil im Schönheitssalon der Villa rum. Sie wäscht sich, weil sie jetzt in dem Alter ist, in dem man einem jungen Mann begegnen könnte. Da will sie ja nicht durch einen unangenehmen Duft auffallen. Wir sind eben eine Familie voller Exzentriker. Die Menschen, die sich in die Villa verirren, schütteln immer den Kopf über die Dinge, die wir hier so treiben. „Da duscht ja jemand“, sagen sie und schütteln ihre Köpfe. Ich grinse nur über beide Backen und erkläre ihnen dann, dass man hier auch kocht. Meist schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen. Sie können das alles gar nicht glauben. „Ihr Schriftsteller seid eben alle Exzentriker“, sagen sie. Eben!

Gauß, der blondgelockte Mathematiker (siehe alten Eintrag zum Thema) wird heute auch noch ankommen. Wir könnten fest damit rechnen. Ha! Der alte Naturwissenschaftler, der eine Frau ist, ist sich aber auch für keinen Witz zu schade.

So, das war es vorerst!

Guten Morgen, Welt!

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Funkenmariechen des Todes

Montag

Ich war heute müde, nicht auf so eine amateurhafte Weise müde wie der Müde Krieger, sondern richtig müde. Dramatisch müde. Ich gähnte, dass es meinem Umfeld angst und bange wurde. Man schlotterte, kam man in meine Müdigkeitsnähe. Mensch ist der müde, hörte ich sie murmeln. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Eis auch nicht. Dabei hatte ich – Müdigkeit hin, Müdigkeit her – einen Riesenhunger. Also stapfte ich müde zum Kühlschrank. Nur Gekühltes drin, dabei wollte ich etwas Warmes. Einen Schweinebraten. Oder einen Rehbock. Nichts zu machen. Tier war all. Nichts im Topf. „Koch mal!“, fuhr ich meine Frau an. – „Koch doch selber!“. Das tut unserer Vorehe nicht gut. Da kann es leicht geschehen, dass man nie heiratet. Obwohl die Leute denken, dass wir verehelicht sind, weil ich immer „meine Frau“ schreibe. Das ist aber nur besitzanzeigend gemeint.

Weil nichts zu holen war, setzte ich mich wieder hin. Erschöpft. „Ich will gar nichts essen!“, rief ich. „Ich bin nämlich viel zu müde!“

Weil ich die Müdigkeit irgendwie rumbringen musste, betrachtete ich meine Hände, die wie gemacht zum Klavierspielen sind. Klavierspielerhände. Also haute ich in die Tasten. Mitten in die Luft. Ich brachte sie zum Schwingen, zum Swingen. In Windeseile füllte sich die Wohnung mit Tänzern. Geht doch, dachte ich. Endlich mal was los hier.

Später betranken wir uns alle und zertrümmerten die Wohnung. Jetzt bin ich hellwach, weil ich nicht weiß wie ich den entstanden Schaden bezahlen soll.

Müdigkeit ist gefährlich. Das ist die Moral von diesem Tagebucheintrag.

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Funkenmariechen des Todes

Sonntagmorgen: Ich

Es ist noch früh und trotzdem  – oder gerade wegen der frühen Stunden, die er so genießt, die ihn sich frisch und tatkräftig erscheinen lassen, so voller Power – sitzt er an seiner Tastatur, vor ihr, so wie vor einem Gebetsschrein, einem Heiligenbildchen, einem Kreuz, um darum zu beten, einen guten Text zu schreiben, eine Passage, die ihm den Tag versüßt, zumal heute Sonntag ist, da haben alle anderen frei, nur er nicht, weil ein Schriftsteller niemals frei hat, denkt er, und überlegt, ob er hier nicht ein Klischee produziert, ob er hier nicht in eins hereinfällt.

Rohm! Das ist seine Name und er flüstert ihn innerlich: Rohm! Und er kann nichts damit identifizieren, kann sich nicht in diesen paar Buchstaben finden, denn das sind sie doch, ein paar Buchstaben und mehr nicht, da ist nur der Sinn, den ich den Buchstaben gebe, die ohne mich keinen Sinn hätten, die sinnlos und blöd in der Gegend herumstehen würden, die paar Buchtstaben: Rohm; zumal das ja falsch geschrieben wäre, wie die Leute gern erwähnen, ROHM muss ROM heißen, sagen sie und erzählen sogleich von ihrem letzten Romaufenthalt und vom Papst und der Papstneuwahl, und das da jetzt etwas geschehen müsse, so gehe es nicht weiter, all die sexuellen Übergriffe, allein bei dem Wort Übergriffe wird Rohm schlecht, aber sie sehen es seinem Gesicht nicht an und schwatzen weiter von Rom und vom Goethe, wie fein der geschrieben habe, und ja, sie hätten alles von ihm, die Gesamtausgabe, die stände neben dem Hesse und die neben dem Konsalik, doch da schlucken sie, den wollten sie nicht erwähnen, dabei hört Rohm von ihm am liebsten, der Konsalik macht sie plötzlich zu Menschen, er würde gerne sagen, reden sie weiter von ihrem Konsalik, ich will davon hören, von den Augenblicken, wenn sie mit einem Buch von ihm, dem Konsalik, im Bett liegen, tief unter der Decke, warm muss es sein und behaglich, weil man doch flüchtet, man sehnt sich nach etwas, will er erklären, das hat gar nichts mit dem Konsalik zu tun und seinen Romanen, die ich gar nicht kenne, müsste er noch nachschieben, die vielleicht einen schlechten Ruf haben, der mir gefallen würde, weil ich viele sogenannte schlechte Bücher mag, ich bin ein Anhänger der schlechten Literatur, würde er den Leuten erklären, die doch lieber von Rom und den Kirchen erzählen würden, von der Kultur, die einem dort an jeder Straßenecke an die Nase springt, an die Nase und in die Nase hinein, der ganze Körper, erzählen sie fiebrig, wird von der Kultur geflutet, eine Stadt, wie ein großer Stall, wo haben sie das nur gelesen, sie können sich nicht erinnern, und auch Rohm wird es bekannt vorkommen, bei Nizon, es könnte in Nizons Tagebüchern gewesen sein, aber er ist sich nicht sicher.

Rohm! Er sitzt stumm vor seinem Bildschirm, die Hände liegen vor der Tastatur, vor seinem Schrein, er will ja beten, er kann es nicht, die Worte für das Gebet fehlen, die Geschichte fehlt, die Idee, und warum, denkt er, warum muss da immer eine Geschichte sein, eine Idee, als ob das Leben nur aus Ideen bestehen würde, aus Geschichten, die eine Spannungskurve habe. Unsinn, denkt er, und denkt an seinen Vater, bei dem die Spannungskurve mit 63 plötzlich ins Grab zeigte, sie fiel einfach ab, die Spannungskurve, ohne je Spannung besessen zu haben, eine gänzlich spanungslose Spannungskurve, weil sein Vater ein Leben in der Vermeidung von Leben geführt hatte; nur nicht leben, hatte sein Vater gedacht, denkt Rohm jetzt und weiß es nicht, nicht sicher, aber er will es denken, weil es seinem Begriff von Wahrheit noch am nächsten kommt, weil er ja eine Antwort auf das Leben seines Vaters bekommen möchte, dass er so nicht versteht. Warum, denkt er, während die Hände noch ruhen, während sie nicht schreiben, keine Silbe, keinen einzigen Buchstaben, nichts, weil sie nicht wissen, was sie schreiben sollen, was sie beten sollen, warum, denkt Rohm, setzt sich einer in sein Haus und rührt sich nicht, warum wird einer zum Tempel für die Angst, für die Angst im Allgemeinen, für die Lebensangst, die ihn so einschüchtert, dass er am liebsten auf seinen vier Buchstaben sitzt und sich nicht rührt. Konsalik könnte er gelesen haben, und warum auch nicht, eine Portion eines Fremdtraums braucht doch jeder, wir wollen doch fliehen, irgendwie, und auch wenn wir uns nie von der Stelle bewegen. Aber so tun, als wären wir geflohen, das wollen wir auch.

Über all das denkt Rohm am Sonntagmorgen nach, während der Kaffee, der neben ihm steht und den er beim Schreiben trinkt, längst kalt geworden ist; nicht weiter schlimm, denkt er, ich werde mir frischen nachgießen.

Er senkt den Kopf und ist ein wenig traurig, weil er wieder nichts geschrieben hat, er hat nicht gebetet, nicht ein Wort, keine Geschichte, keine Idee. Und wenn ich mich schreibe, denkt er, und schüttelt innerlich den Kopf, so ein Unsinn, wieso sollte ich über mich schreiben, weil sie das an den Literaturinstituten lehren, nein, die sollen mal lehren und vermitteln und es gibt da, denkt er, bestimmt eine Menge großartiger Talente und lernen kann man immer etwas, auch wenn die Gefahr besteht, denkt er, dass sie eine Sprache erschaffen, die gleich ist, die sich ähnelt, eine Sprache wie ein Plastiklöffel, der plötzlich von unzähligen Schriftstellern hergestellt wird. Was geht mich das an, denkt er, heute ist Sonntag und ich will entspannen, will meine Ruhe, wir bekommen nachher Besuch.

Er lehnt sich nach hinten und besieht sich das leere Word-Dokument. Nichts! Kein Wort! Aber eins, eins muss er doch wenigstens schreiben, und er überlegt, was könnte ich schreiben, bis er sich plötzlich für Ich entscheidet, das ist gut, es wird eine Ich-Geschichte, sehr gut, auf einem Ich kann ich aufbauen, mit einem Ich ist etwas anzufangen, und er speichert das Ich unter dem Namen Ich ab und denkt, das wird was, mein großer Ich-Roman, und ihm fällt Hilbig ein, und dass er den auch mal lesen müsste, den Hilbig, der in seinem Bücherregal steht.

Rohm fährt den Computer herunter, etwas, denkt er, etwas habe ich geschrieben, ein Wort, ein einzelnes Wort, aus dem etwas entstehen könnte: Ich!

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Funkenmariechen des Todes

Die Liebenden

Emmi beugt sich mit dem Handtuch aus dem Fenster, mit einem kritischen Blick zum Himmel hinauf. Regen, denkt sie, den Regen kann keiner gebrauchen, den Regen hatten wir schon früher, wir hatten ihn in solchen Massen, in solchen Mengen, denkt Emmi, dass ich den Kindern davon erzählen muss.

Sie entdeckt einen Krankenwagen am Ende der Straße, der, denkt sie, vor dem Haus der Russen steht. Das haben sie davon, denkt Emmi, ihr Handtuch aus dem Fenster haltend, als wollte sie kapitulieren, schlaff, als würde sie beim Kapitulieren kapitulieren, die müssen ja auch immer auf dem Balkon stehen und rauchen und trinken, die Russen, das haben sie jetzt von ihrer Lebensart, kein Wunder, denkt Emmi, wenn da einer stirbt oder ins Krankenhaus kommt, vielleicht mit einer Lungenentzündung oder einer Leberzirrhose oder so etwas in der Art. So ein Morgen, denkt Emmi und will das Fenster schließen, so ein Morgen, erst der Regen, der in solchen Mengen vom Himmel fällt, wie sie es nur aus ihrer Kindheit kennt, und jetzt noch die Russen, die am frühen Morgen sterben oder eingeliefert werden müssen. Auf der anderen Seite, denkt Emmi, immer noch besser, als wenn hier gar nichts geschehen würde. Kein Regen, kein Krankenwagen, das wäre doch auch nichts, da würde sie ja vor Langweile eingehen, denkt Emmi und schließt das Fenster, während Harald aus der Küche fragt, was sie so lange im Bad macht? Emmi verzieht das Gesicht, der hat gut reden, denkt Emmi, wenn ich nicht wäre, würde das Bad in seinem Dreck ersaufen, untergehen würde alles, wenn ich nicht wäre, denkt Emmi, und ruft: „Fang schon mal an. Ich komm gleich!“

So ein Morgen, denkt Emmi, so ein Morgen, und dann denkt sie daran, dass es morgen wieder einen Morgen geben wird, wahrscheinlich mit Regen, aber ohne Krankenwagen. Dann lieber so einen Morgen, denkt Emmi, lieber einen Morgen mit Krankenwagen, über den ich nachher beim Frühstück mit Harald reden kann, sonst fällt uns ja nichts ein, denkt Emmi und dankt im Stillem dem Herrgott für die Russen und ihren unsteten Lebenswandel. Sie schlurft, in der Hand das Tuch, in die Küche und denkt, ich hätte Edwin heiraten sollen, mit dem Edwin wäre ich besser dran, der würde mit mir am Fenster stehen, der wäre meiner Meinung über den Regen und die Russen und die Zeiten früher, der würde mich in seinem Arm halten und gemeinsam würden wir flüstern: Was für ein Morgen! Mit dem Harald, denkt sie, mit dem ist das nicht möglich, nicht mit dem Harald, wie der schon dasitzt und sein Brot kaut und sie nicht beachtet, wie sie den Raum betritt, der Harald, denkt sie, der hat für nichts ein Auge, nicht für die Russen, nicht für den Regen, nicht für den Krankenwagen, nicht für das Früher, nicht für sie. Betroffen steht sie im Türrahmen und denkt, sie muss jeden Augenblick kotzen, sie muss sich übergeben, das ist doch kein Leben, mit so einem Mann, der sich für nichts, was vor dem Badezimmerfenster geschieht, interessiert. Wie er schon sein Brot mustert, denkt Emmi, als ob es ein Fußballspiel wäre, denkt Emmi und setzt sich mit einem lauten Schnaufen neben ihn, denkt, ein Leben ohne Harald wäre ein besseres Leben, denkt, ich will das nicht. Sie nimmt ein Brot und bestreicht es mit Butter, dick drauf die Butter, noch eine Lage, und noch eine Schicht, von etwas muss man ja sterben, denkt die Emmi, während sie Harald anlächelt, der es nicht sieht, der sein Brot anblickt, als wäre es eine Pyramide oder der Eifelturm, der Harald, der denkt, ich wäre ohne die Emmi schlechter dran. Das Bad, der Flur, das Wohnzimmer, alles müsste er selber putzen, denkt Harald, er beißt in sein Brot und denkt, eine Putzfrau könnte ich mir gar nicht leisten, nicht bei meinem Lohn, denkt Harald. Er hebt den Kopf und lächelt Emmi an, die denkt, was lächelt er jetzt schon wieder, der heckt doch was aus, egal, lass dir nichts anmerken, lächel zurück, und das tut sie auch, sie lächelt ihren Harald an und sagt: Ich liebe dich! Und der Harald kaut und murmelt beim Kauen: Ich liebe dich auch!

Stumm verspeisen sie ihr Frühstück, die Gedanken rasen hin und her, sie denken daran, was heute noch alles zu erledigen ist.

Emmi denkt an die Russen, an den Regen, an den Krankenwagen, sie dankt dem Herrgott ein weiteres Mal. Ohne ihn und seine Schicksalsschläge wäre sie ärmer dran, denkt sie, ohne die wäre sie längst vor Langeweile gestorben. Sie lächelt Harald ein weiteres Mal an, den es irritiert, der denkt, was heckt sie jetzt schon wieder aus, egal, ich werde nachher auf den Fußballplatz gehen.

„Ich liebe dich!“, sagt Harald.

„Ich liebe dich!“, sagt Emmi.

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Funkenmariechen des Todes

Geh Vater, ich glaub, jetzt kommts

Als der Karl geboren wurde, haben die Wehen erst eingesetzt, da war er schon längst auf der Welt. Die Mutter wollte sich gerade aufs Entbinden vorbereiten, da verkündete man der erstaunten Frau, sie habe bereits ein Kind zur Welt gebracht. Gerade erst. Vor einer halben Stunde.

Ja, wie? Ja, wo? Ja, was? So ginge es aber nicht, stammelte sie. Nein, nein, nein. Davon habe sie gar nichts mitbekommen. War eben immer schon sehr eigen, die gute Frau. Und weil sie es partout nicht einsehen wollte, dass ihr Kind bereits schreiend auf der Säuglingsstation weilte, ihrer hoffend und harrend, vor allem ihrer Brüste, musste die Geburt Schritt für Schnitt wiederholt werden.

Verblüffte Hausmeister standen um sie herum, weil die Ärzte sich geweigert hatten, einer Irren diesen Gefallen zu tun, und dies trotz der großzügigen Bezahlung durch den Kindsvater.

„Press!“

Und wie sie presste.

„Seht ihr es schon?“, fragte sie zwischenzeitlich nach.

„Den Kopf, ein wenig davon zumindest.“

Die gespielte Entbindung zog sich über fünf Tage hin, das luftige Kind wollte und wollte nicht kommen. Die eine Hausmeistersschicht wechselte sich mit der anderen ab. Getränke wurden ausgeteilt. Einer mit einem kratzigen Dreitagebart trank ein Bier und tätschelte der verzweifelten Mutter die Hand und sagte, sie solle sich nicht so aufregen, es sei eben noch kein Meister vom Himmel gefallen

Ihr Mann nahm es stoisch hin, er zündete der passionierten Kettenraucherin ihre Zigaretten an, die sie – gegen den Rat der Ärzte – selbst in diesem Endstadium der Schwangerschaft massenhaft paffte.

„Noch eine!“, verlangte sie.

Der Vater als Mann des Fernsehens, setzte sich zwischenzeitlich in ihr Zimmer ab. Es gab eine besonders spannende Quizshow, die konnte und wollte er sich nicht entgehen lassen.

In den Werbepausen besuchte er Karl und entschuldigte sich im Stillen bei ihm. Er solle es seiner Mutter nachsehen. Die Zigaretten hätten alles verstopft. Sie habe es nicht so mit dem Denken.

Unten schrie sich die Mutter derweil die schwarze Lunge aus dem Leib.

Der verfluchte Balg wolle sie umbringen. Das sei ein Monsterbaby. Seit drei Tagen nur der Kopf. Das halte ja die stärkste Entbinderin nicht aus. Sie verlange einen Kaiserschnitt. Jetzt, hier, sofort. Sie haben die Faxen dicke. Nicht mit ihr. Sie sei schließlich eine Frau mit einer gewissen Lebensart. Die könne sie nicht seit Tagen schleifen lassen. Sie verlange augenblicklich ihren Wein, die Pfeife. Ja, die Geburt, die scheinbare, sie schlug ihr merklich ins Gehirn.

Bis sie plötzlich keine Lust mehr hatte und erstaunt feststellte, die Augen weit aufgerissen: „Da ist es ja!“ Sie zeigte auf den Fußboden. „Bringt es fort, hoch, ich kümmere mich später darum.“

So kam der Karl laut dem Krankenhaus am Sechsundzwanzigsten um sechs Uhr in der Früh. Laut seiner Mutter aber erst fünf Tage später.

Von nichts hätten die dort eine Ahnung, nicht mal vom Kinderkriegen, geschweige denn vom rechten Zeitpunkt des Auswurfs, erklärte sie ihm später hustend.

„Ein schäbiges Krankenhaus“, sagte sie und ließ sich von ihrem Mann aufs Zimmer führen.

Kurz vor der Tür hielt sie sich den Bauch, sah ihn erstaunt, dann entsetzt an und stöhnte kleinlaut: „Geh Vater, ich glaub, jetzt kommts.“

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Funkenmariechen des Todes

Der Lauf der Zeit(ungen)

Ich fand mich in der heutigen Zeitung, mit einem Ausdruck fehlender Überraschung in meinem Gesicht, wusste ich doch von dem Artikel, der mein neues Buch vorstellen sollte. A stürmte die Treppen zu unserer Wohnung hinauf und hielt mir den Bericht unter die Nase.

Jetzt ist er bereits gelesen, er wird archiviert, also fein zur Seite geräumt, in eines der Fächer eines Schrankes, der schon so einiges über mich beinhaltet, so etwa … Drücken wir es mal so aus: Es ist noch Platz im Schrank.

Und all die Zeitungen, die heute ausgeliefert wurden und in denen ich stehe und warte, dass mich sehnsüchtig ausgebreitete Leserhände abholen, was geschieht mit ihnen, sind sie erst leer gelesen, oder überblättert, durchgeblättert? Fallen Sie der Zeit zum Opfer, ihrem eigenen Herbst, der sie aus den Händen auf die Straße, in den Mülleimer wehen wird? Manche werden die Zeitung, also auch irgendwie mich, zum Schuhausstopfen benutzen. Andere werden sie sammeln, ohne zu wissen, warum sie das tun. Zeitung auf Zeitung verstauen sie in einem Winkel des Kellers, auf die Rente, den Lebensabend wartend, den sie lesend verbringen wollen, stöbernd in alten Erinnerungen, in Zeitungen, die ihnen dann gar nichts mehr sagen werden, weil die Meldungen, die sie finden, so gnadenlos austauschbar sind. Sie werden sich wundern, dass man nicht täglich die Meldungen von gestern druckt, die denen von Morgen doch eh gleichen werden.

So werde ich dann zum Teil einer sinnlosen Sammlung, zum Ort für nasse Schuhe, zum gefüllten Stauraum eines Mülleimers. So teile ich mich, gehe ich in die Welt hinein, die mich zwar nicht bemerkt, immerhin aber benutzt. Das ist doch schon mal etwas.