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Original und Fälschung II

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Original und Fälschung

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Dichte Bäume (von Urs Schlieper)

Dichte Bäume,

ziehe sie mit

einem ersten Strich aus

dem Papier, auch dem virtuellen,

päpple sie mit guten Worten und

dem Wort Regenwasser auf,

streichle sie, wenn nicht offen, so doch

heimlich.

Und vielleicht wächst ein ganzer

Wald unter deinen Händen,

den du mit den Augen morgens und abends

durchstreifst.

Achte darauf, keine Jäger erschrieben

zu haben,

das wird die Tiere freuen, und wer weiß,

du könntest auch ein, zwei Geschöpfe

erdichten, die es bisher noch nicht gab.

Die Welt würde reicher.

Und dann irgendwann dichte Häuser,

aber nicht zu viele und nicht zu nah

am Wald.

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Aus „Tyrannei in Senfsoße“

PEN-Mitglieder lesen literarische Texte in Zeiten der Pandemie

 

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Pierre Loire und der Coronamord

Mary Pick konnte es nicht fassen. Das da drüben also war der große Meisterdetektiv Pierre Loire. Wie dick er war. Rund. Hoch wie breit. Und er schien nur mit den Pralinen auf seinem Schoß beschäftigt zu sein. Sein Mund war über und über voller Schokolade.

„Ich“, begann Pierre Loire, „bin heute hier.“ Er unterbrach sich und griff nach der Serviette. Wo war sie nur? Dann musste er eben in diesem Zustand bleiben. „Ich bin heute hier, um den Mord an Herbert Heiendickel aufzuklären. Wie Sie alle wissen, ist Herbert Heiendickel an den Folgen des Coronavirus gestorben.“

„Also war es kein Mord!“, rief Mary. Sie konnte es nicht fassen, dass sie sich diesen Schwachsinn hier antun sollte.

„Doch, doch“, sagte Pierre Loire und lauschte. War das sein Magen gewesen. Was für ein Knurren. Großartig. Wie ein Wachhund, der darüber wachte, dass niemand ihm das Essen vor der Nase wegstahl. „Sie, liebe Mary, haben Herbert Heiendickel ermordet.“

„Ich?“ Mary lachte grell auf. „Sie lustiger dicker Mann, welch eine ungeheuerliche Behauptung.“

„Oh, nein“, sagte Loire. „Ich kann beweisen, dass Sie in China waren und dort eine Fledermaus gegessen haben, nur um den Virus auf sich überspringen zu lassen. Nachdem Sie zahllose Menschen in Wuhan ansteckten, reisten Sie über Italien nach Deutschland. Sie haben das Virus verteilt, in der Hoffnung, dass sich Herbert Heiendickel ansteckt und stirbt – was er auch tat. Sie sind die Begünstigte seines Testaments.“

Mary erbleichte. Er hatte es tatsächlich herausgefunden.

 

ENDE

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Auf den Flößen der Filme (Zum 75. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder)

Filmen, bis das Leben zum Film wird, bis alles im Kasten ist, erleuchtet, erhellt, bis die letzte Klappe gefallen ist. Filmen, um sich im Material zu finden, um seine Gefühle zu erlernen, um zu wissen, was man nicht sagen, sagen, wann man schwitzen, weinen, hungern, frieren, schreien soll.

Und dann ist er da, hört die Bomben noch im fernen Rücken der Zeit detonieren, und er beginnt zu laufen, von Schule zu Schule, unzählige Schulen, er wird mit dem Laufen, jetzt da er damit begonnen hat, gar nicht mehr aufhören, wird laufen, bis er irgendwann vor einem Fernseher zusammenbricht und stirbt, die Augen glasig, die Haare verklebt, mit einem Geruch nach zu viel Leben auf der Haut. (Ein Bild, das vor einem Bild stirbt. Gespiegelt bis in die Unendlichkeit, und doch kleiner und kleiner werdend.)

Einer wie er, der sah sich nicht im Spiegel, der filmte sich seinen Spiegel, seinen Lebenslauf, seine Gedanken, seine Erinnerungen, seine Kämpfe, seinen Frohsinn, seine Trauer.
Schon hetzt er zum nächsten Film, denn da ist wieder einer, wieder und wieder muss ein Film gefilmt werden, gelebt, ausgeschwitzt, ausgekotzt, gewürgt und in die Schüssel gesetzt werden.
Atmet Filme, Schauspieler, nimmt sie, notiert sie, platziert sie, weint mit ihnen, ejakuliert mit ihnen, schreit mit ihnen, mit ihnen , die seine Familie sind, seine Filmfamilie, weil am Ende, das weiß er ganz genau, ist alles Film, nichts kann dem Film entkommen, der Kamera, der Notwenigkeit, es mit der Kamera zu fangen.
Was?
Es?
Das Leben. (Das Leben ficken, um es zu spüren, direkt und voller Lust und Schmerz.) Nimm es und zwing es in diesen Kasten, der die Grenzen zeigt, der ehrlich ist, weil er die Grenzen aufzeigt. Leben ist nicht ehrlich. Leben tut so, als hätte es keine Grenzen, dabei läuft es über mit Grenzen. Es steht auf dem Herd der Gefühle und kocht über mit Grenzen, bald schon ist der Herd mit Grenzen überlaufen, bald schon kommt der Lappen, im Film der Schnitt, und wischt die Grenzen fort, indem er bricht, indem er Brüche benutzt, um zu springen, von Bild zu Bild.
Der Schnitt gaukelt uns ein Entkommen vor.

Fassbinder in Berlin. Liebe ist kälter als der Tod. Das Publikum buht – und nein, nein, nein, das will man nicht, und Fassbinder lächelt und weiß, er ist angekommen, denn jetzt hängt er in seinem eigenen Film.

Fassbinder. The Movie. Titelauswahl: Herd der Gefühle, Das Leben ist ein Salzkorn auf deiner Haut, Wehe dem, der sich aus dem Staub macht, ohne sich erklärt zu haben, Auf den Flößen der Filme, Die Angst vor dem Ende der Aufführung, Im Himmel der Drecksäcke, Macht ist ein scharfes Schwert, Gewürzhändler des Todes.

Sein Körper war eine Uhr, an der man ablesen konnte, genauer noch als an allen anderen Körperuhren, wo er gerade war, konnte seinen Verschleiß sehen, sein Dahingehen, Verwehen, sein Nichtwerden; sein Schritt (Schnitt), der ihn unablässig lenkte, der sich durch Deutschland schob, der die Geschichte mit dem Privaten verband, weil es nicht zu trennen ist, weil alles zusammenhängt, enger noch und enger, weil alles Politik und nochmals Politik ist, weil alle in einem Bett liegen und sich ficken und schlagen und sich bejammern und loben und weil es kein Entkommen aus diesem Bett der Geschichte gibt.
Die einen liegen dort, die anderen hier, mach Platz!, schreit eine Gruppe, schon werden Grundstücke verkauft, Teile des Bettes, denn am Bett, da kann man sich, man muss sich nur bemühen, eine Goldene Nase verdienen, nur draufhalten darf keiner, denn die Tränen sollen im Laken versickern, ungesehen.

Name? Fassbinder. Haben Sie das geschrieben?
Ja. Judenhasser, nannten sie ihn, Schwulenhasser, Bettnässer und Nestbeschmutzer, Feind der Gewerkschaften und der Mächtigen, weil einer wie er IMMER einen Grund fand, es in einen Film zu binden, zu weben, weil die Geschichten überall rumliegen, hier und dort, und ALLES, wirklich ALLES, ist eine Geschichte der Macht. Seine doch auch. Seine Geschichte ist es doch auch.

Warnung vor einer heiligen Nutte. Ein Film, jetzt einer über das Ende der eigenen Truppe, über sich als Berserker, über das Ziehen von Strippen, über das Puppenspiel, Theater und nochmals Theater, auch wenn da ein ANTI davor stand.
ALLES ist eine Geschichte der Macht, eine, wie sie funktioniert, im Kleinen, in den Familien, im Großen, im Überall, im Weltall, in der Zukunft, in der Vergangenheit, im Western.

Und er hatte sie ALLE im Blick, auch das Publikum, vergesst das Publikum nicht, zieht es rein, denn leere Kinosäle bringen uns nichts, sagte er und drehte und drehte, drehte das Publikum in seinen Lebensfilm, drehte und drehte, den fallenden Körper durch den Bildausschnitt schiebend, wuchtend, damit er wusste, ich bin kein Mensch, ich bin ein Film, bin das Kino. (Man muss viel wiegen, mit der Last so vieler Filmrollen auf den Schultern.)

Er war ein Sud, der überkochte, der sich verbrannte, der anbrannte, der Titel wie Kalauer schuf, Sprichworte, dessen Titel in aller Munde sind, wie ANGST ESSEN SEELE AUF, ausgesprochen, aber ungesehen.
Er fehlt, weil es nicht das Werk war, sondern das Leben, dieses Schleudern durch den Raum, dieses Klagen und Ächzen, das er uns schenkte.
(Gab sich selbst hin. Rotzte sich vor unsere Schuhsohlen.)
Am Ende gab es kein Ende, weil er noch dort liegt, fern in der Erinnerung eines Films, der wieder und wieder im kollektiven Gedächtnis abgespult wird.

Er liegt dort und stirbt, wieder und wieder, bis sich einer findet, der ihn endlich erlöst, der ihn ins Grab hinab filmt.
Erst wenn das geschehen ist, wird es Zeit, sich WIRKLICH mit seinen Filmen und seiner Zeit zu beschäftigen.

Nicht ruhen, nicht rasten, denn schlafen können wir, wenn wir tot sind.

Rainer Werner Fassbinder (31. Mai 1945 – 10. Juni 1982)

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Hinterfrage alles

– Was für ein Tag ist heute?
– Sonntag.
– Woher willst du das wissen?
– Weil gestern Samstag war.
– Das reicht dir als Beweis?
– Es steht überall. Auf dem Handy, im Computer. Alle glauben daran.
– Ja, weil sie eventuell von höchsten Stellen hereingelegt wurden. Was ist, wenn heute Freitag ist?
– Dann würde das Wochenende erst beginnen.
– Genau. Aber das wollen diese einflussreichen Kreise nicht. Sie wollen, dass wir morgen arbeiten gehen, obwohl morgen Samstag ist. Das alles ist eine gigantische Verschwörung.
– Die gar keinen Sinn ergibt.
– Damit wir nicht dahinterkommen.
– Und was wollen sie damit erreichen?
– Wer die Wochentage beherrscht, der ist Herr über die Menschen.
– Ich weiß nicht.
– Hinterfrage alles. Ist es wirklich die Morgenstunde?
– Ja, die Sonne ist gerade erst aufgegangen.
– Das haben sie uns eingeredet. Aber was ist, wenn sie am Abend aufgeht?
– Deshalb bin ich müde?
– Richtig. Hinterfrage alles.

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Eine offene Wunde – Notizen zu dem Film JOKER

Joaquin Phoenix studiert sein Spiegelbild, er zieht die Mundwinkel nach oben, nach unten, einer, der auf der Suche nach sich ist, der sich fragt, wer er ist. Ungeschminkt, gebändigt von Medikamenten, ist er ein gedemütigter Außenseiter, ein Fantast, der sich ein Leben erträumt, das ihm Liebe, Job, Erfolg vorenthält, die ihm, so mutmaßt er, von Geburt an zustehen. Phoenix spielt die Rolle perfekt, ein Drahtseiltänzer, mal als schüchterner Junge, der doch nur in die Arme genommen werden will, mal als ein bis auf die Grundmauern des eigenen Selbst ausgehungerter Körper, der im nächsten Moment zum Dirigenten eines imaginären Höllenorchesters wird, das er tänzelnd anpeitscht, dem Grinsen des JOKER auf der Spur, jenes diabolische grelle Lachen, das dem Zuschauer im Halse stecken bleiben soll. Der JOKER, eine sich krümmende verlorene Seele, ein Tagträumer, der, so seine eigene schreckliche Logik, keine Logik mehr bedient, ein außer sich geratener Hofnarr, der die Reichen und Schönen mit ihrem eigenen Untergang zu unterhalten gedenkt. Die Kamera stets nah an Phoenix, dessen Züge zu entkommen trachten, die ihm entkommen wollen, die ahnen, dass sie eine neue Person gebären werden, ein neues Wesen. Die Bilder, als würde in ihrem Hintergrund ein Feuer glimmen, eines, das schließlich auf Gotham übergreifen wird, um so zum Beleuchter einer neuen Zeit zu werden. Am Ende brennt die Stadt, der JOKER ist zum Schutzheiligen des Mobs geworden, zum Erlöser der gesellschaftlichen Verlierer, zum Heiligen des Chaos. Ein nihilistischer Diener des Todes, der mit einem blutverzieren Grinsen seine Philosophie des Terrors in die Gesichter derjenigen ritzen will, die ihn stets mit einem wegwerfenden Lachen übergingen, die ihn überschritten, bedrängten, die sich an ihm vergingen. Der JOKER ist überall, er ist der Nachbar, den wir so wohlweißlich übersehen, dass es nicht wundern muss, wenn er dereinst als waffenliebender Phönix aus unserer Asche auferstehen will. Ein Film, der einem mit offenem Mund zurücklässt, einem Mund, in dem das Lachen wie eine offene Wunde klafft.

USA 2019. Regie: Todd Phillips.

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Das Nachleben

„Wenn ich sterbe …“
„Du bist noch jung.“
„Wenn ich sterbe, dann möchte ich, dass du mein Werk verbrennst. So wie Kafka das von Brod verlangte. Aber du hörst nicht auf mich. So wie Brod.“
„Wenn ich es eh nicht mache, brauchen wir keine Abmachung.“
„Das würde sich biografisch gut machen.“
„Biografisch? Du hast überhaupt kein Werk.“
„Das entscheidet die Nachwelt.“
„Und was soll ich dann nicht verbrennen?“
„Meine Lohnabrechnungen.“
„Kann ich machen.“
„Und suche einen Verlag für sie.“
„Dafür wird es keinen geben.“
„Zeig ihnen das Elend, das darin zu finden ist. Den Diebstahl durch den Staat. Es sind mitreißende Kurzgeschichten.“
„Das wird niemand wollen.“
„Versprich mir, dass du nicht auf meinen letzten Willen hörst, der von dir verlangt, meine Lohnzettel zu verbrennen. Und sag ihnen, dass ich für mein Werk hungerte.“
„Die Lohnzettel sind der Beweis, dass dem nicht so war.“
„Weil du auf sie hereinfällst. Stelle dir die Frage, wer erzählt. Ich bin es nicht wirklich. Egal, suche einen Verlag und kümmere dich um mein Nachleben.“