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Der Autor, den sie Horse nannten

Sonntag II

Wir haben gewählt.

Wir sind in den Kindergarten hinein, den man zweckentfremdet hatte. Das war jetzt ein Wahllokal.

Wenn das die Kinder erfahren, werden sie hier nie mehr spielen. Sie werden mit Lappen anrücken, um die Plätze, auf der die Wähler saßen, zu reinigen. So viele Erwachsenenärsche verträgt kein Kinderstuhl.

Ich habe meinen Ausweis vorgezeigt, um mich vorzustellen. Das sei ich auf dem Bild, sagte ich, auch wenn ich mir heute nicht mehr ähnlich sehe. Prüfende Blicke, ob sich hier eventuell ein Wahlbetrüger einzuschleichen gedachte. Dann die Freigabe, indem man mir die Wahlunterlagen aushändigte.

Ich schritt hinter die Absperrung, hinter die Pappwand. Wählen ist Geheimniskrämerei. Ein Versteckspiel.

Ich breitete die Wahlzettel vor mir aus. Zwei an der Zahl, weil der Hesse am Wahltag nicht genug Zettel bekommen kann.

Und dann malte ich, weil ich ja in einem Kindergarten war, meine Kreuze in die Kreise. Noch einen Baum dazu. Eine Sonne, damit die Wahlhelfer etwas finden, was ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Faltete die Zettel wie Straßenpläne, die ich nicht verstand, zusammen und warf sie in den Schlitz des großen Wahlabfalleimers.

Froh mein Handwerk des Bürgers ausgeübt zu haben, und ohne weitere Schäden an meiner Seele genommen zu haben, verließ ich den Ort des Grauens – und ging heim; ganz ohne Straßenkarte.

Guten Abend, Welt!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Samstag II

Also, ich habe gar nichts gegen die Masse, weil ich sie gar nicht kenne, die Masse, von der ich nicht weiß, wer sie sein soll, vor allem, wenn andere sie benennen, die sich nicht zu ihr rechnen, na klar, weil sie ja außerhalb der Masse stehen, die ich gerne mal kennenlernen würde, weil, ich zähle mich nicht zu ihr, Sie wahrscheinlich auch nicht, mein Nachbar nicht, der Blogger, der ein Autor ist und sich in seinen Blogbeiträgen über sie erregt, ebenfalls nicht, sodass am Ende niemand übrigbleiben wird, der sie kennt oder ist, die Masse, die mir weiterhin unbekannt bleibt, die arme Sau, die ja irgendwo sein muss, die wahrscheinlich in der Masse untergetaucht ist, damit ich sie nicht entdecke, die Masse.

Ein Massenphänomen, darüber müsste man einmal schreiben, über das Phänomen Masse, das es ja gibt, aber eben nur, wenn es als Masse, z.B. vor Fußballstadien, auftritt, aber eben nicht nachher, wenn man sich verstreut, wenn man sich zerstreut, in alle Himmelsrichtungen, heim ins Eigenheim streut man sich, in die Luxusvilla, in die Hundehütte, um alles zu sein, nur eben keine Masse mehr. Daher gibt es auch keinen Massengeschmack. Die Masse müsste viel zu lange zusammenbleiben, müsste vor dem Stadion leben, stets als Masse, um einen Massengeschmack zu entwickeln, den es nicht gibt, auch wenn es ein einheitliches Kaufverhalten gibt, das gesteuert wird. Das ist dann aber wieder ein ganz anderes Thema.

Was ich damit erzählen wollte? Keine Ahnung!

Guten Abend, Welt!

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Mischmasch

Neue Rezi zu UNTAT

„Rohm geht mit seinem auch sprachlich ungeheuer konzentriert daherkommenden Roman der Frage nach,wie viel Mitschuld jemanden trifft, der – in bester aufklärerischer Manier – eigentlich nur hinsehen will auf die Unzulänglichkeiten dieser Welt.“ Dietmar Jacobsen

Die komplette Rezension können Sie >>>HIER lesen!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Mein Balkon

Wenn ich auf meinen Balkon hinausgehe, kommt einem natürlich Hitler in den Kopf, der Papst, der auch. Der Balkon als solches hat eine Geschichte aufzuweisen, die erst noch geschrieben werden müsste. Vielleicht hat es auch einer getan. Woher soll ich das wissen? Alle Bücher dieser Welt kann man nicht lesen, man kann sie höchstens verbrennen. Versucht wurde es. Mit dem Verbrennen kannte sich Hitler aus. Die Kirche ebenfalls. Despoten neigen eh zum Verbrennen.

Mein Balkon, der ist mein fliegender Teppich. Leider fliegt er im Standgas. Er ist mein Rettungsboot, das noch auf die Not wartet. Auf das Loch im Schiffsrumpf. Um ein Rettungsboot genießen zu können, muss man erst einmal untergehen.

Mein Balkon, der ist eine vorgeschobene Unterlippe. Eine ohne Oberlippe. Ein verstümmelter Mund, der keinem was sagt, obwohl er bestimmt etwas zu erzählen hätte.

Ich stehe dort droben und rauche. Rauchzeichen, die keine Nachricht senden, außer der meines eigenen Verschwindens. Ein Raucher raucht seine eigene Vergänglichkeit in die Luft hinaus. Der Rauch, das ist ein Aufschrei, dass alles sinnlos ist. Drum raucht der Raucher auch. Um sich und die Zeit und die Sinnlosigkeit des Daseins umzubringen.

Tag für Tag steige ich in mein Rettungsboot, auf meinen fliegenden Teppich, auf meine Unterlippe und blicke nach unten auf die Straße, auf der die Autos hin- und herfahren, auf der die Fußgänger hin- und herlaufen.

Von hier oben aus betrachtet, ist die Straße ein Fluss. Daher auch der Begriff Verkehrsfluss, der stocken kann, als hätte man zu viel Gelatine hineingeworfen.

Ich sitze auf meinem Balkon, meinem Felsvorsprung, und angle mit den Augen ein paar Gesichtszüge, den Ruf eines Kindes, das Quietschen von Fahrradbremsen. Rauche und angle, und kehre am Abend heim, mit einem Korb voller Gebärden und Geräusche, die ich genussvoll im Kopf verspeise. Der Mensch lebt ja nicht vom Brot allein.

Mein Balkon ist ein verlängerter Arm, ein Gedanke, der in die Breite geht, der aus dem Haus wächst. Ein Tumor ist er. Ein Geschwür.

Und weil man von seinen Krankheiten nicht genug bekommen kann, stehe ich auf ihm, auf meinem Schmerz, und rauche, in der Hoffnung, die Botschaft meines Rauchs eines Tages verstehen zu können.

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Der Autor, den sie Horse nannten

Dienstag II

Das Interview, vor der mich alle Welt warnte, es zu geben, ist erschienen. Zahllose Anrufe entrüsteter Nachbarn, die mich ein Scheusal nannten. So einen wie mich, den müsste man verbrennen und in alle Himmelsrichtungen verstreuen.

Unbeirrt tippte ich weiter an meinem neuen Roman über die Sitten und Gebräuche der Finlanja-Indianer, die nördlich der Steppe wohnen. Kapitel 7 beendet mit dem Aufruf eines alternden Cowboys, sich die Füße zu hobeln, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Grandiose Abschlusssätze: Korn setzte den Hobel an und schmatzte zufrieden. Hornhaut fiel in den Staub. Es war nicht nur Hornhaut, oh nein, es war die Geschichte seines Lebens, die vom Wind verweht wurde. All seine Märsche, seine Arschritte. „Hinfort“, murmelte Korn. Und dann noch einmal, diesmal lauter: „Hinfort!“    

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Der Autor, den sie Horse nannten

Samstag II

Den ganzen Nachmittag den dritten Teil meiner Tagebücher überarbeitet, die einen nicht unerheblichen Teil meines Werks ausmachen.

Buchstabe für Buchstabe ging ich mit den Augen ab, bald auf diesem, bald auf jenem verweilend, die Beine über die Ränder streckend, um die Tiefe, die ein Wort aufzuweisen hat, auszuloten. Vögel schossen über mein Haupt hinweg, sich in den gleißenden Strahlen einer dubiosen Sonne verlierend, die nicht viel mit dem uns bekannten Gestirn gemein hatte. An den Rändern stiegen Rauchwolken auf, als würde Sol verbrennen, als hätte jemand in seinem Inneren Feuer gelegt. Möglich wäre es, würde es mir doch eine Begründung für die enorme Hitze liefern, derer ich mich ausgesetzt fand. Hitze und Sonne. Da konnte etwas nicht stimmen.

Also drückte ich mich vom Buchstabengrund nach oben und hopste hinüber zum nächsten Buchstaben, einem G, in dessen Rundung ich es mir gemütlich machte. Ein G lässt sich als Schaukelstuhl gebrauchen, missbrauchen, das kommt auf die Sicht an, die man im Falle des G einnimmt. Nutzt man es, um sich in einem Wort zu bewähren, wird man nach dem tätigen G verlangen. Ist man ein Anhänger der gestammelten Sprache, wird einem das vergammelte G reichen, das man bisweilen, achtet man nicht auf seinen Werdegang, unter Brücken findet. Ein G, das sich g-ehen ließ, das sich dem Trunk und der unentwegten Schaukelei hingab, wird es schwer haben, ins Alphabet zurückzufinden. Genug der Belehrungen über die Lebensläufe mancher Buchstaben.

Guten Abend, Welt!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Montag

Es gab einen Montagsbeitrag, den ich gelöscht habe. Irgendwie hat er mir nicht gefallen, er war falsch im Ton. Nicht meine Sprache, dachte ich. Mumu, meine Frau, konnte gar nicht verstehen, warum ich das tat. Aber mir war nicht zu helfen. Ich löschte ihn, ich radierte ihn aus. „Weg damit!“, brüllte ich, bis die Kinder wach wurden. Kreischend saßen sie in ihren Betten. Alle achtzehn Kinder. Im Alter zwischen 12 und 32. Saßen da und baten mich, nicht zu schreien. Beschämt senkte ich meine Stimme. Ich nahm sie in meine Arme, die kleine Hannah (27), den Robert (14) und den Klaus (32). Sie nuckelten an ihren Daumen. Sahen mich mit ihren großen Rehaugen an.

Früher war ich auch mal Kind. Vor vielen Jahren. Ich musste in einem Kinderzimmer spielen. Meine Kinder können das gar nicht glauben. Sie bezweifeln meine Worte. „Und wir hatten nur eine Dusche und eine Badewanne.“

Die Kinder können das nicht verstehen. Die Armut, die kleine Wohnung (8 Zimmer, Küche, Bad).

Ja, aber so war es.

Guten Morgen, Welt!

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Der Autor, den sie Horse nannten

Sonntag III

Meine Frau liebt mich. Sie steht in der Küche, so sehr liebt sie mich. Sie will nicht, dass ich mich an Tassen und Gabeln verschwende. Sie ist eine gute Frau. Während ich im Schweiße meines Angesichts um Worte kämpfe, die sich nicht einfinden wollen, genießt sie das Spülwasser. Ihre Hände tauchen tief hinein. Lippen und Stirn glänzen. Eine gewisse erotische Note ist nicht zu verleugnen.

Sie erinnert mich an meine Mutter, die auch schon an einem solchen Spülbecken stand, während mein Vater seine Füße besah, die er auf dem Wohnzimmertisch abgelegt hatte. Ein großer Mann, der noch größer wurde, wenn er aufstand. Er verstand sich auf Frauen, lobte meine Mutter, wenn das Geschirr sauber und ordentlich verstaut war.

Ich spiele mit dem Gedanken, es meinem Vater gleichzutun. Ich könnte jetzt aufstehen, um meiner Frau ein Lob in Form eines Kusses an die Backe zu kleben. Will ich das? Hält es mein Schreibfluss aus? Ein jeder muss sich irgendwann überwinden, auch ich, der ich den fleißigen Händen lausche, die Töpfe ins Nass packen, in die Lauge, um den Dreck, der sich wie eine Geschichte in die Topfböden brannte, zu entfernen, um ihn mit einem Lappen abzuhobeln.

Ermattet von all meinen Gedanken bleibe ich sitzen.

Guten Abend, Welt!

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Motorsäge des Schicksals

Donnerstag II

Die große Müdigkeit. Die Augen im Sinkflug. Sie wollen unbedingt landen, wenn möglich im Tiefschlaf.

Gedanken müssen gejagt, festgenommen und abgeführt werden, damit sie sich nicht in Luft auflösen. Myriaden von Gedanken. Welcher ist wichtig? Welcher hat am meisten auf dem Kerbholz? Wessen Aussagen könnten den Durchbruch im eigenen Fall bringen?

Nebenher Kaffee, um sich anzupeitschen. Eine Tasse für den Nigger, damit er Steine aus seinem Kopf schlägt. Aus diesem Steinbruch, den er Hirn nennt.

Und draußen wildert die Hitze. Sie betäubt die Fußgänger, die sich über die Gehwege quälen. Als wäre sie ein Großwildjäger, der sein Fleisch zur Strecke bringt.

Ob ich heute noch viel schaffe? Ich bezweifle es. Die Umstände haben mich geschafft. Sie haben mich geschaffen. Sie schreiben mich ans Ende des Tages, um mich dort auf Ruhe lauern zu lassen. Wird man erst beschrieben, kann man sich bald schon abschreiben.

Guten Abend, Welt!

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Motorsäge des Schicksals

Montag II

Ich trinke zu viel Kaffee. Mein Arzt Dr. Stegenstegen meint, ich müsse ihn reduzieren. Dringend. Unsinn. Was weiß der Mann schon von Kaffee. Das sage ich auch. „Du hast doch nur Medizin studiert.“

Am Nachmittag die üblichen siebzehn Kannen. Macht mich kein bisschen nervös, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das Radschlagen einstellen soll. Die Hände sind schon ganz blutig. Harmonie (Name geändert), mein mich treu umsorgendes Eheweib, sitzt derweil im Rotgrünvioletten Salon, den ich demnächst umstreichen lassen will. Sie scheint mir etwas rammdösig. Wie Sie alle aus meinen letzten Einträgen wissen, leidet sie an einer schweren Form der Schlafsucht. Sie fällt von einem Moment zum anderen in eine Art Trancezustand. Meistens während meiner Lesungen. Sie könne nichts dafür, bestätigte sie mir erst nach der letzten. Sie könne die Anfälle nicht kontrollieren. Ich machte ihr kaum Vorwürfe. Das würde ich auch nie machen. Ich bin in meinem gesamten Umfeld als Gefühlskrüppel bekannt, und wie jeder weiß, sind gerade Krüppel sehr empfindsame Menschen. Martina (Name geändert) bestätigt mir das auch immer wieder aufs Neue. Sie bezeichnet mich nicht nur als Gefühlskrüppel, sondern auch als emotionale Achterbahn, was den Spaß, den ich ihr bereite, zum Ausdruck bringen soll.

Eine großartige Frau.

Guten Abend, Welt!

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Motorsäge des Schicksals

Freitag II

Als Kind wollte ich ein Zuggeräusch sein. Durch die Nacht poltern, bis ich von einem Ohr gefangen wurde. Rein in das Ohr und drin die Fantasie anstecken, bis sie brennt, wie ein loderndes Haus. Als Geräusch hat man, dachte ich, gute Chancen, wahrgenommen zu werden. Ich hätte später beim Film unterkommen können. „Wo ist das Zuggeräusch?“, hätte der Regisseur gerufen. Im nächsten Moment wäre ich um die Ecke getönt gekommen. Er hätte mir die Szene erklärt. Ich hätte vor Ort gearbeitet, um die Schauspieler einzustimmen, und nachher im Nachvertonungsstudio hätte ich alles gegeben. Wurde nichts draus. Ich wurde kein Zuggeräusch. Lange trauerte ich der vertanen Chance nach. Lag in den Nächten wach und lauschte den Zügen, die in der Ferne die Leute durch die Dunkelheit trugen. All die Geschichten, all die Lieben, die Hoffnungen, das Begehren, die Todsünden, die Morde. Ein Zug voller Menschen ist ein Regal voller Romane. Und was liegt näher, als das Geräusch zu sein, das mich derart erregte. Ein Zuggeräusch ist wie ein Stöhnen, das aus einem Fenster dringt, an dem man vorübergeht. Man bleibt stehen und schon springt der Kopfprojektor an. Man sieht alles, ohne etwas zu erblicken. Körper, die sich ineinander verknäulen, die tausend Hände und noch mehr Zungen haben. Geräusche sind der Brennstoff für Träume.

Guten Abend, Welt!

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Motorsäge des Schicksals

Dienstag III

Zähneputzen. Darauf verstehe ich mich. Ich habe es von meinem Vater gelernt, der mir früh schon einen Eimer in die Hand drückte. Einen Lappen in die andere. Und jetzt putzen, sagte er. Wir stiegen voll ein, direkt ins orale Geschäft. Putzten nicht nur unsere Zähne, sondern auch die Zähne der Nachbarschaft. Morgens vor der Arbeit standen sie an. Öffneten wir die Tür, strömten sie ins Badezimmer, in dem mein Vater und ich warteten, um ihnen die Zähne zu putzen. Wir benutzten auch Zahnseide. Wir trugen die Anzüge mit einem gewissen Stolz. Wir haben es weit gebracht, sagte Vater. Sieh uns an. Stehen da, mit unseren Anzügen aus Zahnseide und werden von aller Welt bewundert. Die Bewunderung bewirkte, dass alles in Erfüllung ging, was wir uns wünschten. Auch die Sache mit dem toten Hund vom Nebelmaier, der uns ständig angebettelt hatte, ihm auch die Zähne zu putzen. Aber Hundezähne? Ausgeschlossen. Tatsächlich starb der Hund, als ihn ein Auto überfuhr. Zufällig. Und das dreimal.

Sie sehen. Zähneputzen bringt Sie voran.

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Motorsäge des Schicksals

Freitag

Sollte ich es tun? Sollte ich mich fortan der Dichtung widmen, voll und ganz ihr, nur ihr, der meine erste Liebe gegolten hatte.

Wie oft hatte ich als Kind unter dem Tisch in der Küche gesessen, während meine Eltern sich über die Lage in der Nachbarschaft unterhielten. Interessierte es mich? Überhaupt nicht! Ich war zwei Jahre. Was kümmerten mich die schalen Handlungen meiner Umwelt! Ich lebte in einer anderen Welt. Ich hatte bereits zweimal das Gesamtwerk von Arno Schmidt gelesen. Die Werke des spanisches Mundartdichters Jose Soja. Ich konnte über das Leben, das sich oberhalb der Tischkante abspielte, nur lachen. Und oft tat ich es. Tauchte unvermutet auf und lachte. Meine Eltern lachten selbstverständlich mit. So stand ich da, sie saßen, und wir lachten, bis sich die Balken bogen; so lange natürlich nicht, und die Balken hätten wir auf dem Dachboden beobachten müssen, um darüber eine Aussage treffen zu können.

Um in die Gegenwart zurückzukehren. Ja, ich denke, dass ich nicht länger an Romanen arbeiten werde. Das macht doch heutzutage jedes Schwein. Keiner, der nicht an einem Roman arbeitet. Versuchen Sie es aus, sprechen Sie jemanden auf der Straße an, er wird Ihnen gerne bestätigen, dass er momentan an einem Roman arbeitet.

Dichter muss man werden. Das ist das Gebot der Stunde. Ein kryptischer Dichter, denn einen Dichter, den man versteht, ist kein Dichter, sondern eine Schande für seinen Berufsstand. Rätsel müssen Rätsel folgen. Ich werde mir einen Morgenmantel zulegen, denn der Morgenmantel ist des Dichters Tracht. Ich werde in meinen Hölderlinturm hinaufsteigen, werde mich einschließen, werde mich vor aller Welt verstecken, um in die alten Mythen einzutauchen. Ich werde mit Platon palavern, mit Sokrates. Wenn er mich anfasst, bekommt er den zarten Hinweis, es woanders zu versuchen. Ich werde auf Berge steigen, in Seen tauchen.

Betrachten Sie mich nicht länger als Romancier, betrachten Sie mich als eine Wiedergeburt von Hölderlin, Novalis, Tragegurt, Semmelweiß.

Heinrich Semmelweiß. Wie tragisch er starb. Wie konnte es ihm passieren, dass er ausgerechnet vom Bauch seiner Geliebten so unglücklich auf den Boden fiel, dass er sich alle wichtigen Knochen im Körper brach? Das war es nicht. Es war die Geliebte, die Verräterin, die ihn dort beließ, die sich in die Nacht schlich, die in ihr verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Da lag er! Semmelweiß. Durstig, hungrig. Und so starb er, weil niemand wusste, wo er sich aufhielt. Später kam es zu Verhören. Alles kam ans Tageslicht, aber da war es längst zu spät. Semmelweiß war tot, was blieb waren seine unsterblichen Gedichte wie „Ich will dich besteigen“, „Mein Hammer will hämmern“ und „Ergüsse“.

Dichter. Dichter muss man sein.

Guten Morgen, Welt!