Schriftsteller leben die meiste Zeit über von der Hand in den Mund
Schlagwort: mund
Die Stimmen (6)
Samstag, 17. August 2013
Er kann gar nicht glauben, was er plötzlich tut. Er sitzt da und schreibt ein Kinderbuch, nein, kein Kinderbuch, sondern ein Noir-Märchen.
Die Seiten tippen sich von ganz alleine, sie entstehen wie nebenbei. Alle seine Bücher, die ihm etwas bedeuten, entstanden so, aus der Gewissheit heraus, geschrieben werden zu wollen.
Seine Frau hängt mit der Tochter, die ihn an diesem Morgen eine ihrer Geschichten lesen ließ, Wäsche auf. Sie unterhalten sich, während der Wind ihre Haare anhebt, ganz sacht, als wolle er deren Schwere spüren.
All diese Momente sind es, die ich aufbewahren will, denkt er, und schnell öffnet er die Datei, um darüber in seinem Tagebuch zu berichten. All die flüchtigen Momente der Schönheit sind es, die er einfangen will.
Und schon hat er es getippt.
Das Leben ist schneller als seine Finger, denn während er noch die Vergangenheit an die Oberfläche hebt, hat die Gegenwart ihn bereits wieder eingeholt. Seine beiden Frauen stehen neben ihm, eine schöner wie die andere, und sie beugen sich über ihn, der er schreibt, und küssen ihn auf die Stirn und sagen wie aus einem Mund: „Wir lieben dich!“
Dienstag
Ja, was soll ich dazu sagen? So ist das halt. Da! Da kommt der Morgen. Der kommt halt so um die Ecke. Quasi um die Ecke der Nacht. Nein? Ist das nicht richtig? Würden Sie da eher von einem Übergang reden? Von einem sanften Dahingleiten des Morgens. Einer Landung. Der Morgen landet also lautlos am … Morgen. Ja, aber das geht auch nicht. Der Morgen kann nicht auf sich selber landen. Das ist einfach gegen die Gesetze der Physik. Und wenn nicht gegen die, dann zumindest gegen die Gesetze der Philosophie. Der Morgen kann nicht auf dem Morgen landen. Das ist sprachlich unmöglich.
Auf jeden Fall ist der Morgen jetzt angebrochen. Nein. Der Tag ist angebrochen. Der Morgen hat erst begonnen, da kann er nicht schon kaputt sein.
Sie sehen schon, das ist kompliziert mit so einem Morgen. Da kann man nicht einfach sagen, der ist so und so. Da muss man eine gewisse Vorsicht walten lassen.
Die Sprache ist etwas, was man sehr ernst nehmen muss. Und wenn man jetzt sagt, dass der Morgen begonnen hat, stellt sich die Frage, womit er denn begonnen hat? Was macht denn so ein Morgen? Morgend der Morgen? Oder morgenz er? Morgt er sich? Nein, das habe ich noch nirgends gehört. Er ist mehr eine grobe Zeiteinheit, so wie eine grobe Mettwurst. Da wird die Zeit durch einen Sprachfleischwolf gepresst, und am Ende kommt grobe Zeit heraus. Der Morgen, der wäre so eine grobe Zeit. Oder der Vormittag, der auch.
Sie sehen schon, das ist alles sehr eigen. Aber die Leute, sie kennen ja die Leute, die machen sich da keine Gedanken darüber. Da wird gesagt, der Morgen habe begonnen, er sei angebrochen, er habe Gold im Mund … Ja, verfluchte Scheiße, was wollen sie mit dem armen Morgen denn noch alles anstellen? Das ist ja eine Art von Zustandsvergewaltigung mit den Mitteln der Sprache.
Da sehen Sie mal, wie es einem wie mir geht, der schon am frühen Morgen das Unbedenkbare bedenkt. Ja, wie soll es mir da schon gehen? Scheiße! Da hast du gleich keine Lust mehr auf den Morgen, wenn du dir derart viele Gedanken zu einem eigentlich belanglosen Wort machen sollst. Und warum mach ich das? Ja, was weiß ich denn? Irgendwie muss man ihn ja rumkriegen, den Morgen.
Bücherbordell
Eine Bücherei ist ein Bordell, in das der Leser schlendert, die Romane abschätzend betrachtend, sie an Dicke und Dünne auf ihren Wert überprüfend, bis er nach einem greift, das schon oft ausgeliehen wurde.
Ganz abgegriffen ist es. Von jedem, dem danach war und der über einen Leihausweis verfügte, durchgelesen. Abgenutzt steht es zwischen einer Liebesschnulze und einer Lachnummer. Der Atem des Leser speit Duftwolken, die durchdrungen sind von den scharfen Zutaten des Mittagessens.
Dieses wird er nehmen, er wird es in einer einsamen Nacht in seinem Bett zu sich holen, wird, da er sich unbeobachtet fühlt, Eselsohren knicken, damit das Buch spürt, wem es zu gehorchen hat. Seine Augen werden über den Rücken des Romans wandern, die Hände werden es drehen, um die Vorderseite zu begutachten, den Einband, denn auf den kommt es diesem gemeinen Leser an, er will sich ein Bild von dem Buch machen, bevor er seinen Finger tief zwischen die Seiten schiebt. Er schlägt es auf, irgendwo, was schert es ihn, auf welcher Seite er landet. Ein gutes Buch muss jederzeit überzeugen können, zu jeder Uhrzeit, an jedem Ort, auf jeder Seite, mit jedem Wort. Gierig spießen seine Augen das erste Wort auf, eine erste Hülle, die fallen muss, unbedingt. Worte sind ihm Reizwäsche. Unter ihr muss blankes Fleisch glühen.
Die Haut muss ihn anziehen, sie muss ein Magnet sein, auf dem sich seine Zunge verlieren will, denn dort, auf der Zunge, muss der Roman schmecken.
Fühlt er sich getäuscht, wirft er das Buch wütend, angewidert gar, aus seinem Bett, mit einem solchen Wesen will er sein Lager nicht teilen. Er wird es zurück in die Bücherei bringen. Nicht weiter schlimm, denkt er. Es war nur geliehen, wurde in einer schwachen unbedeutenden Sekunde aus dem Reigen der anderen Romane erwählt. Andere warten, und vielleicht, unter seinen Schläfen pocht aufgeregt die Geilheit, wird er seinen Traumroman noch finden, jenen, der ihn erfüllen wird, der ihm Lustschreie aus dem Mund reißen wird. Unruhig, gequält von der Unwürdigkeit der Situation, erniedrigt von der Hässlichkeit, derer er ansichtig werden musste, versucht er sich in den Schlaf zu drehen, wie ein Verschluss, der auf die falsche Flasche soll.
Morgen ist auch noch ein Tag, denkt der Leser, er wird in die Bücherei fahren, wieder einmal, er wird den Raum salopp betreten, wie ein Unschuldsengel, und er wird sich den Büchern zuwenden, all den kleinen Huren, die in Reih und Glied stehen und warten, und die darauf hoffen, dass einer kommen wird, der sie entführt, der sie mit sich nimmt, um sie zu lieben, der sie lesen will, wieder und wieder, alle Tage, bis der Tod sie scheidet.
Erstaufführung am 22.12.2012 gegen 19.48 Uhr
Die Kinder sitzen vor dem Fernsehgerät. Starr, weil ein Wolf sich in ihren Gesichtern verbeißt. Gras wiegt sich. Sie sehen sich tiefer und tiefer in die Bilder. In der Küche sitzt A, deren Schwester eingetroffen ist. Die Stimmen mischen sich mit denen aus dem Film. Die Musik, gehämmerte Geigen, steigern die Spannung des Küchengesprächs, das nun ansteigt, dessen Töne sich erheben, um gegen das Wohnzimmer anzukommen. Ein Krieg der Worte. Ein Schuss ertönt. Die symphonische Musik versiegt. Endet. Auftritt unseres Wellensittichs, der sich überhört wähnt und in den Vordergrund des Geräuschstückes kreischt.
Nur dasitzen und lauschen. Eine wahrhaft vollendete Komposition, die vom Augenblick gedichtet wird.
Selbst ich bringe mich ein, mit einem Räuspern, nicht bewusst aus dem Hals in den Mund gesogen.
Erschrocken blicken alle mich an: Schwestern, Kinder, Wellensittich.
Ich senke den Blick, gebe mich unbeeindruckt, schreibe an diesem Text weiter.
Das Musikstück nimmt seinen Lauf wieder auf. Die Küche setzt mit einem Lachen ein, gefolgt von einem Kanonenschlag des Films, den die Kinder mit einem bangen Schweigen runterschlucken, während der Wellensittich in seinen kleinen Käfigspiegel blickt und wahrhaft davon überzeugt ist, einen anderen Vogel darin zu erblicken. Schon vertieft er sich in ein Gespräch mit seinem vermeintlichen Gegenüber.
Für einen kleinen Moment gleichen der Vogel und ich uns vollkommen.
Bruder Leichtfuß
Kleine Abendmeditation
Ich bin mir an diesem Tag aus dem Weg gegangen.
Sah ich mich liegen, die Zehen wippend, weil ich vielleicht Musik hörte oder einem gartenschlauchähnlichen Geräusch lauschte, das in meinen Ohren eine seltsam traurige Melodie spielte, setzte ich vorsichtig – so wie man unbezahlbare Vasen abstellt – Fuß für Fuß sacht auf, mich rasch in die Küche stehlend, um mich dort auf einem Küchenstuhl abzusetzen. Irgendwo musste ich ja mit mir hin.
Dort saß ich dann mit einer heißen Schokolade, den Mund mit Süßigkeiten gefüllt, ein überlaufendes Lebensmittellager, bis sie plötzlich hilfesuchend seitlich an den Lippen zu sehen waren, sich streckend, winkend, um sich schließlich todesmutig auf den Tisch zu stürzen, der bereits von zahllosen anderen gebrochenen Bröselleibern übersät war. Stille lag über den Körpern. Ein Massaker hatte sich ereignet, man könnte von einem Völkermord sprechen, würde man damit das Wort nicht entwerten, was hiermit nicht geschehen soll, und nicht geschehen ist. Sprache ist kein Leichtsinn, sondern ein Schwersinn.
Und dann denke ich darüber nach und schüttele den Kopf, jetzt fallen noch mehr Krümel, so kann ich das nicht stehen (und liegen) lassen. Natürlich ist die Sprache ein Leichtsinn, ein Bruder Leichtfuß, der über alles laufen kann, auch über glühende Kohlen – probieren Sie es doch aus.
Beredtes Schweigen
Das zu führende Gespräch ist angekommen.
Ich wollte es aus dem Mund ziehen, in dem es sich verbarrikadiert hatte. Dort saß es hinter Türmen aus Wortunrat und verschanzte sich. Nein, so das Gespräch, es wolle nicht geführt werden. Es vermute da eine Art des Faschismus. Allein das Wort: Führen! Das sage bereits alles. Es werde sich nicht beugen. Niemals.
Härtere Mittel mussten eingesetzt werden. Mit Zigarettenqualm räucherte ich das widerspenstige Geschöpf aus, bis es hustend ins Zimmer stolperte, dort ich es mit ein paar Backpfeifen an seinen Wortlaut erinnern konnte.
Schicksalsergeben sprang es mein Gegenüber an, warf sich ihm in die Arme, und dies mit den Worten: „Nimm mich!“
Nein, das wolle er nicht haben, so mein Besuch. Mit einem solchen Gespräch könne und wolle er nichts anfangen. Es sei nicht in seinem Sinne. Das Gespräch sei zu beenden (an dieser Stelle zitterte das Gespräch wie Espenlaub). Es sei an anderer Stelle fortzuführen.
Dieser Hinweis warf die Frage auf, wo das Gespräch, wenn es denn demnächst fortzuführen, hinzuführen sei. Antwort erhielten weder ich noch das Gespräch.
Ein Gespräch besteht aus zwei Partnern, deren einer sich hier – man lese es an obig beredtem Schweigen ab – aus dem Gespräch stahl.
Beleidigt, keine Auskunft erhalten zu haben, auch verängstigt ob der Zukunft, sprang das Gespräch aus dem geöffneten Fenster und ward bis dato nicht mehr gesehen.
Warnung vor der Warnung
Eine Warnung
Es sind die Warnungen, die sich verkleiden und abhalten wollen. Sie schlüpfen in die verschiedensten Rollen, füllen alles aus. Hören Sie lieber nicht zu! Lauschen Sie ihnen nicht! Denken Sie nicht darüber nach! Die Warnungen beugen sich mit einem Lächeln zu unseren Köpfen hinunter und flüstern. Niemand, der sie aus der Ferne sieht, würde vermuten, dass sie tun, was sie tun. Meist sind die Warnungen noch mit etwas anderem beschäftigt. Mit unterrichten. Mit regieren. Mit dem Setzen von Steinen. Normal wirken sie, unscheinbar. Sie führen Leben, die wie Tropfen im Gesellschaftsmeer aufgehen, die darin verschwinden. Sie sind das Meer. Behaupten es von sich. Deshalb, weil sie die große Wassermasse zu vertreten meinen, warnen sie ja auch. Sie beobachten unablässig. Das Beobachten ist ihnen kein beobachten, sondern ein hinsehen. Wie sollten sie wegsehen, so argumentieren sie, wo die Augen doch auf die Dinge fallen. Die Ohren auch. Alles an ihnen fällt nicht auf, aber auf die Gegebenheiten, um sie bald schon mit einem Warnschild zu besetzen. Da die Warner vor allem warnen, warnen sie auch vor Warnschildern. (Dieses und jenes könne nicht sein, es ginge nicht an. Wo käme man denn hin, wenn Brachland zur Verbotszone würde, und dies nur eines Warnschilds wegen.) Sie warnen davor, sich vor der Warnung abschrecken zu lassen, denn die Warnung ist dem Warner kein Beruf. Sie ist seine Lebensaufgabe, sein Steckenpferd, seine Leidenschaft, sein Leben. Der Warner atmet die Warnung. Sie fliegt aus seinem Mund, nicht, weil sie einen Sinn ergeben, sondern weil sie ausgesprochen werden muss. Was bliebe vom Warner übrig, könne er nicht mehr warnen? Nichts! (So sieht es der Warner und warnt davor.) Ein Kellner, ein Lehrer, ein Politiker, ein Schriftsteller. Er wäre nur einer von vielen. Ein Opfer. Er weiß es. Was mit ihm geschehen könnte, dürfte er nicht mehr warnen, liegt ihm klar auf der Hand. Es ist ihm eine Warnung, die er so nicht stehen lassen kann.
Gewarnt sollte man sein, wenn man auf Menschen trifft, die einen warnen wollen.
Nur kurz zu Hause. Es wird angeschnitten. Ein Stück Wohnung auf die Schaufel. Auf den Teller. Rein in den Mund. Kauen. Das Zuhause kauen, schmecken, runterschlucken, nachspülen. Kaffee. Der muss sein. Nur auf dem Sprung. Die Wohnung als Sprungbrett in die Tiefe des Abends. Denn an dem gibt es etwas auf die Ohren. Da wird etwas in die Ohren gequetscht. Geflötet. Gezwitschert. Auf unsichtbaren Luftbrücken werden die Töne ins Ohr transportiert. Eine Klarinette. Eine Orgel. Keine Stalins. Wohl aber eine Gottes. Nicht direkt von ihm. Zu seinem Lobe. Ob sie ihn heute loben wird? Ich weiß es nicht. Muss man Gott denn überhaupt loben? Zufrieden muss er mit sich sein. Schmort in seinem Egosaft. Beweihräuchert sich selbst. Ich bin Gott, wird er denken, wer will mir schon an den Karren fahren? (Abschweifendes Gedankengut. Überdenken. Zur Not aus dem Text streichen.)
Jetzt futtern, den Kurzaufenthalt in der Wohnung genießen. Zur Not nachbuchen.