Als es losbricht, als sie sich lösen, sagt ein Tropfen namens Kai zu ihm: „Du musst loslassen, musst dich fallen lassen, musst ganz Teil dieses Absturzes werden.“ Und im nächsten Augenblick springen sie, der Regentropfen, den sie Uwe nennen, ziert sich, hält sich an einem anderen (Jan?) fest und will ihn überzeugen: „Ein Tandemsprung kann nicht schlimm sein.“ Sie taumeln, sie spüren die Gravitation, die an ihren „Füßchen“ zerrt, es ist so großartig, denkt Uwe, man fühlt sich so frei, da platzen sie bereits einem Kind ins Gesicht, direkt auf die Stirn, das Tandem wird getrennt. Uwe zerreißt es. Ein Teil seines Körpers kann er schon gar nicht mehr sehen, der hängt an der Nase des Kindes. Der Rest von ihm wird in ein Tuch gewischt.
Monat: Januar 2021
Über Billigflieger bei Tabuk Air
Als wir in den tabukischen Luftraum eintreten, muss ich austreten. Ich suche das stille Örtchen. Aber es ist nirgendwo zu finden. Kann das sein?
Ich erkundige mich bei der Stewardess, die mir mitteilt, dass in den Billigfliegern von Tabuk Air keine Toiletten eingebaut sind. Man spart bei den Flugzeugen, wo es nur möglich ist.
„Es gibt keinen Ort, wo ich mich erleichtern kann?“
„Nein“, sie schüttelt verneinend eine Flasche Wasser.
Ich wippe, weil der angestaute Urin nach Bewegung verlangt.
„Wir haben eine kleine Tanzfläche“, erklärt sie mir.
„Unser Alleinunterhalter Alfons erwartet Sie.“
Ich überlege kurz, spüre aber, dass ich ein Tänzchen wagen muss. Als ich auf die Tanzfläche trete, dröhnt von der Seite die Stimme von Alfons: „Willkommen, mein tanzwütiger Freund!“ Im nächsten Moment lässt er seine Orgel dröhnen. Schrecklich. Weil ich aber so dringend muss, bewege ich mich zu den schaurigen Terrorklängen. Alfons blinzelt mir zu, als sich ein weiterer Tänzer zu uns gesellt.
„Sie müssen auch?“, fragte ich einen älteren Herrn im Anzug.
„Ich muss tanzen. Ich fliege seit Jahren, wenn ich weiß, dass Alfons die Orgel bedient.“
Ja, denke ich, bedient bin ich auch. Sparen beim Klo, aber eine Tanzfläche haben sie.
Kein Hobby
Du weißt, sagt Achim, dass ich immer schon Zahnarzt werden wollte. Er steht vor dem offenen Fenster und beobachtet den Himmel, der so blau ist, dass er für Sekunden Angst hat, sich darin zu verlieren. Zahnarzt, sagt er noch einmal, dieses Mal etwas nachdenklicher, als würde er einer Erinnerung nachhängen, während Sarah ihn vom Sofa aus beobachtet und sich fragt, warum er aus seinem Hobby nun unbedingt einen Beruf machen muss, wo er doch so viel Spaß hat, in seinem Keller die Nachbarn zu untersuchen, sich über ihre offenen Münder zu beugen, um sie mit einer Spritze schmerzunempfindlich zu machen, was bitter nötig ist, bohrt er erst. Ach, sie hat sich an das Geräusch des Bohrers so sehr gewöhnt, dass sie es vermissen würde, wenn er nach der Arbeit am Bau, in seine Praxis geht, um sich seinem geliebten Hobby hinzugeben. Und er hat, das muss sie sagen, und alle gestehen es ein, er hat so viel Gutes bewirkt, hat Zähne gezogen, die bestimmt irgendwann einmal zu Sorgenkindern geworden wären, zu kleinen garstigen Kindern im Mund, die gequengelt und genörgelt hätten, sodass man sie eh hätte ziehen müssen, obwohl ihr jetzt, da sie es denkt, das Beispiel mit den Kindern etwas obszön vorkommt, zumal sie doch selbst keine haben. Sie wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich nicht recht bändigen lässt, die sich immer und immer wieder vor die Stirn schiebt, wie ein defekter Scheibenwischer. Achim, lass es doch, aber Achim, der den Himmel mit seinen Blicken löchert, der hofft, etwas darin zu entdecken, was hinter all dem Blau lauert, nämlich die Schwärze des Weltalls, die Abgründe des Universums, will es nicht lassen, er möchte den Job beim Bau aufgeben, um sich endlich voll und ganz der Zahnarztheilkunde zu widmen, weil es für ihn eben nicht nur ein Hobby, sondern vor allem eine Passion ist.
Kalt, sodass man seine Hunde nicht anleinen, sondern nur kurz am Laternenpfahl lecken lassen muss. Geduld beim Entfernen ist gefragt. Vielleicht mit einem batteriebetriebenen Föhn arbeiten. Beim Spaziergang einer älteren Dame begegnet, die uns aus Angst vor Corona so extrem auswich, dass sie sich jetzt vermutlich in einer anderen Stadt befindet. Hoffen, sie findet zurück.
Merz konnte sich glücklicherweise nicht gegen Laschet durchsetzen. Jetzt freut man sich schon über den Sieg von Cholera über Pest. Schlimme Zeiten. Dann der Schock: Merz will Wirtschaftsminister werden. Das ist, als würde ein Alkoholiker die Bar übernehmen wollen. Versteckt die Flaschen, lautet jetzt das Motto.
Übungen am Fenster, um das Stoßlüften zu verbessern.
Aus dem Tagebuch Ulf Uschmanns
12.01.2021: Wir fanden heute beim Betreten des Hauses das Treppenhaus nicht vor. Wegen Wartungsarbeiten sei es ausgebaut. Das Knirschen der Stufen müsse nachgestimmt und das Treppengeländer gefettet werden, um die Geschwindigkeit, rutscht man darauf hinab, zu erhöhen. Die Stufen seien nicht in der richtigen Reihenfolge vorgefunden worden. Dies werde nachgebessert. Bei Wanderstufen sei stets mit einem Wechsel innerhalb der Stufenordnung zu rechnen. Man bat uns, derweil ein anderes Treppenhaus zu benutzen.
Demnächst erhältlich

Text der Verlagsseite:
Double Noir: SUPER PULP Mondo Fiction bringt zwei rabenschwarze Kurzromane von Guido Rohm – in einem Band!
In „Fleischwölfe. Der Roman zum Film“ erzählt der Autor, wie die grausamen Verbrechen eines Menschenfresser-Klans irgendwo in einer strahlenverseuchten Wüste zur Kinofiktion und schließlich zum literarischen Splatter-Text gerinnen; während es in der Noirvelle „0“ um Protagonisten und -innen geht, die sich unabhängig voneinander in Luft auflösen, deren Schicksale jedoch auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft sind …
„Normale Mordfälle sind nicht der Fall von Guido Rohm. Der Mann aus Fulda schreibt freche, harte Texte, die allen Gewissheiten des Krimis widersprechen.“ Thomas Klingenmaier (Stuttgarter Zeitung)
Hier kann man das Buch vorbstellen >>>>Blitz Verlag
Dem Nachwuchs zur Warnung
Torben wird mit 19 zum Verbrecher. In einer Seitenstraße bedroht er einen Kerl, der Flyer für eine Disco verteilt.
„Her damit!“, herrscht er ihn an. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zückt er ein Werbebild von einem Messer und erklärt, dass er ein solches in der Hosentasche habe und bereit sei, es zu benutzen. Der junge Mann, froh, so schnell alle Flyer an den Mann gebracht zu haben, übergibt sie bereitwillig.
Torben stopft sich die Beute vorne in die Hose und stürzt davon. Nur weg hier, denkt er und versteckt sich drei Tage bei einem Freund, der ihm erklärt, dass die Flyer nichts wert sind.
„Unsinn“, sagt Torben. „Die gehören der Disco, denen fehlt das Werbematerial.“
Eine Stunde später ruft er dort an.
„Ich habe Ihre Flyer. Wenn Sie sie zurückhaben wollen, sollten Sie 100 Getränkegutscheine an einer von mir noch zu benennenden Stelle hinterlegen.“
„Arschloch“, sagt eine leicht angetrunkene Stimme. Man legt auf.
Torben ist entsetzt. Sollte er als Warnung einen zerschnittenen Flyer an die Adresse der Disco senden? Es muss ihnen doch etwas daran liegen. Später wird er die Flyer an einem Rastplatz aus dem Auto werfen. Sie landen in einer Pfütze und ersaufen.
Torben fährt traurig davon.
Er hatte ein Auto entworfen und gebaut, das endlich auf einem vollkommen umweltfreundlichen Stand war. Als er es präsentierte, kam es zu Buhrufen, regelrecht zu Tumulten, nur weil er einen Wagen vorstellte, der ganz ohne Motor auskam, weil das Gefährt von Menschen gezogen wurde. Es war nicht nur gut für das Klima, sondern es würde auch noch die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Aber nein, sie sagten, es wäre unmenschlich, sodass er den neuen TURBO HUMAN nicht weiter in Produktion gehen lassen musste. Er war enttäuscht. So viele Versuche mit seiner Familie, die sich nun umsonst abgerackert hatte.
Es muss doch hier sein, denkt er und wühlt die Schubladen durch, seine Hand fährt unter die Unterhosen, er ist sich sicher, dass er es hier versteckt hat. Oder ist es doch dort drüben, vielleicht unter der Matratze, oho, sie werden erleben, was es heißt, sich mit ihm anzulegen, und schon steht er am Bett und versucht die Matratze zu heben, bei Gott, warum ist die so schwer? Er müht sich, er kämpft, er ist ein Fighter, komm schon, du Mistding, es gelingt ihm, aber nur ein, zwei Zentimeter, er müsste sich nach unten beugen, um einen Blick darunter zu werfen. Ist es da? Er bräuchte eine Taschenlampe, er ruft nach Melania, ach, die ist gar nicht da, nie ist sie da, wenn er sie braucht, dafür immer, wenn er sie nicht braucht, was oft ist, sehr oft. Also ist da was oder nicht?
Er will sich gar nicht erst im Spiegel sehen, bestimmt sieht er grauenhaft aus, ganz orange wegen des Wuthochdrucks, beruhige dich, denkt er, was ihm nur gelingt, wenn er … Er müsste einen Hamburger essen, ein paar Minuten vor dem Fernseher und alles wäre … Unsinn, reiß dich zusammen, denkt er, du suchst nach dem Zeug, diesem Covfefe. Wenn er nur wüsste, wie es aussieht oder riecht, nur, dass es existiert, das weiß er, schließlich hat er darüber getwittert. Es ist bestimmt ein Teufelszeug, das er auf die Menschheit loslassen wird, wenn er es erst gefunden hat. Er lässt die Matratze fallen, geht hinüber uns Bad, weil es hier sein könnte, bestimmt hat er es hier versteckt, hinter dem Klo, er müsste auf die Knie, nein, nein, das wird nichts werden, wenn er auf die Knie geht, kommt er nie wieder hoch, außerdem geht er nicht auf die Knie, er lässt auf die Knie gehen. Also was soll er tun? Eine von diesen Playmates anrufen, haha, schallt es durch seinen Kopf, und anschließend verdreht er die Augen, über sich, darüber, dass kein Playmate da ist, wenn man mal etwas hinter dem Klo sucht, da fällt es ihm ein. Ja, das verfluchte Covfefe ist bestimmt, er reißt das Türchen des Arzneischrankes auf, es ist … Und tatsächlich, da ist es. Er greift zu und denkt, scheiß der Hund drauf, heute setze ich es ein.
Komm und sieh

Komm und sieh. Komm und tritt ein. Komm und tritt in die Welt dieses Films, die deine Welt ist. Und meine. Unsere. Komm und sieh. Öffne die Augen. Blicke dich um. Im Weißrussland des Jahres 1943. Komm und sieh den Jungen Fljora. Buddel mit ihm nach Waffen. Nimm sie, die Waffen der Toten. Lass uns spielen. Alle Welt will Krieg, alle Welt will spielen. Komm und sieh. Tritt näher. Tritt in den Film. In die erdfarbene Welt. Tritt Eier entzwei, aus denen schon bald Vögel geschlüpft wären. Komm und sieh die Bomben, wie sie fallen, wie sie die Welt entzweireißen. Wie sie die Welt entkernen. Wie sie die Welt umpflügen. Wie sie Tote säen in dieser umgepflügten Welt, um noch mehr Tote wachsen zu lassen.
Komm und sieh. Tritt in diese Welt. Tritt in diesen Film. Folge dem Jungen Fljora, der von Alexei Krawtschenko gespielt wird. Nein, er spielt nicht. Er lebt diese Rolle. Er lebt Fljora. Er lässt ihn leiden. Er leidet in und mit ihm. Er wird mit ihm zum Leid, zu einem Gesicht, das älter und älter wird. Verlorener. Verbrannter. Ein Gesicht, das mehr und mehr Leid sieht. Entdeckt. Frisst.
Grauen. Es ist das pure Grauen, das dieses Gesicht sieht. Und wir mit ihm. Wie blicken in eine Welt, die auflodert, die von den deutschen Soldaten verbrannt wird.
Ausgebrannt. So viele weißrussische Dörfer, die verbrennen. Die verbrannt wurden. Und mit ihnen die Bewohner. 1943 in Weißrussland. Das überall ist. Ein Grauen, das keine Vergangenheit und keine Zukunft hat, sondern immer war und immer sein wird.
Komm und sieh. Sieh in die Gesichter, die immer wieder in die Kamera blicken, die uns ansehen, denn wir sind die Kamera, die das Grauen besichtigt, die den apokalyptischen Reitern bei der Arbeit zusehen.
Komm und sieh die Leuchtkugeln, die zum Himmel steigen, die zum Stern über Bethlehem werden, einem Bethlehem des Teufels, wo es zur Umkehrung der Geburt kommt.
Es geht um die Vernichtung des Menschen, das Tilgen des Antlitzes. Der Blick, er soll verschlungen werden.
Kein Film, den man so einfach besprechen könnte, daher diese Annäherung, dieses Fühlen und Tappen, dieser Versuch mit dem Film in Kontakt zu kommen, ins Gespräch, um mit dem zu sprechen, was unaussprechbar scheint, all die Blicke, die Körper, die Kinder, die ihre Leben nicht leben, weil der Tod sie zu sich ruft, weil das Grauen sich austoben will.
Komm und sieh die Bewohner eines Dorfes, die zusammengetrieben und verbrannt werden.
All die Leiber, die den Flammen zum Fraß vorgeworfen werden, den Zungen der Flammen, die ihre Häute ablecken, ihre Träume und Hoffnungen, ihre Lieben. Sieh das, was man hören muss, sieh die Schreie, sieh diesen Film, sieh ihn nicht, sei gewarnt.
Komm und sieh, wie die Welt aus den Angeln gehoben wird. Alles, was wir sehen, ist eine langer grausamer Geburtsakt, ein Pressen und Stöhnen und Jammern, um die Hölle zu gebären.
Komm und sieh nicht weg, auch wenn es schmerzt, denn das muss es.
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Also, ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen war, aber bei uns haben sie geböllert, wo man doch darauf hingewiesen hat, es nicht zu tun. Und trotzdem haben sie in unserer Straße Raketen steigen lassen, dass mir ganz übel geworden ist, übel von all der Intoleranz uns Sterblichen gegenüber, uns Altsterblichen, die sich jederzeit mit Corona infizieren können. Und das geht nicht. Früher hätte es so etwas nicht gegeben, da hätte man mit solchen Silvesterdösköppen kurzen Prozess gemacht, die hätte man an den nächsten Baum gehängt, zur Abschreckung und zum Zeichen, dass es wichtig ist und bleibt, wie wir als Menschen miteinander umgehen.
In diesem Sinne,
Ihre Renate Tepo
31.12.2020
Was für ein Jahr, sagt Urs Schlieper, was für ein Jahr, das glaubt man nicht, sagt er und rückt seine Brille wie ein Möbelstück zurecht, das näher an die Wand muss, ein Möbelstück, das sich unaufhörlich verschiebt, weil sein Gesicht ein Erdbebengesicht ist, eines, das unaufhörlich in Bewegung ist.
Was für ein Jahr, wiederholt Urs Schlieper, um seine Entrüstung zum Ausdruck zu bringen, den hohen Grad seiner Entrüstung, und um es noch einmal zu sagen, wiederholt er es ein drittes Mal, was für ein Jahr.
2020, sagt seine Mutter, und Urs verdreht die Augen, Mensch, Mama, sagt er, das war doch keine Frage, das war eine Aussage, ich wollte damit, sagt Urs, meinen Unmut über das Jahr zum Ausdruck bringen.
Unmut?, fragt Mutter Schlieper, auf ihrem Schoß die Fernbedienung, die sie jeden Moment wie ein gealterter Revolverheld ziehen könnte, auf den Fernseher zielend, um das laufende Programm zu töten und ein anderes zum Leben zu erwecken. Eine Göttin, die solches vermag.
Ja, Unmut, Mama, sagt Urs Schlieper, der ihr gegenüber in einem Sessel sitzt, in dem er wie in einem Moor versinkt. Es beginnt stets langsam, aber der Sessel zieht einen nach und nach tiefer nach unten, bis er einen verschluckt, bis er einen in die Sesselunterwelt zerrt.
Aber warum, sagt Mutter Schlieper, warum sagst du dann, was für ein Jahr? Das ist eine Frage, mein Junge. Was für ein Jahr? Und die Antwort lautet 2020.
Na, Mama, wenn das mal so einfach wäre, sagt Urs, wenn das mal die Antwort wäre, aber das ist sie nicht, die Antwort lautet nämlich: Pandemie, Corona, Scheiße.
Nicht solche Wörter, Urs, sagt Mutter Schlieper, das soll und darf es in ihrem Wohnzimmer nicht geben, nicht in ihrem Heiligtum, ihrer Kirche, obwohl sie auch gerne in der Küche sitzt, die ihr Dom ist, ja, in der sitzt sie noch lieber, andächtig dem blubbernden Wasser lauschend, das, wenn es aufkocht, auf seine ganz eigene Art mit ihr spricht.
Was soll ich nicht sagen?, fragt Urs, wohl wissend, das sie das Wort Scheiße meint, aber man darf ja mal blöd nachfragen und Mama damit auf die Palme bringen.
Pandemie, du frecher Bursche, sagte Mama, das will ich hier nicht hören, das klingt so beschissen nach Weltuntergang, sagt sie und kichert, denn nun hat sie ihn vorgeführt, damit hat er nicht gerechnet, was er auch tatsächlich nicht hat, sodass er sie erstaunt anblickt, wieder seine Brille in die rechte Position schiebend.
Mama, sagt Urs Schlieper, und sie sagt, Urs, und beide sitzen da und denken, was für ein Jahr.
01.01.2021
Mama, sagt Urs Schlieper, Mama, das neue Jahr ist da, jetzt hoffen natürlich alle, dass es besser wird, dass das Virus so bekämpft wird, dass niemand mehr stirbt, vor allem die Gefährdeten, sagt Urs und zeigt auf seine Mutter, die abwinkt. Es ist das perfekteste und nachhaltigste Abwinken, das Urs kennt.
Pah, atmet Mama Schlieper aus, pah, sage ich. Gefährdet? Sieh dich mal an, mein Junge, und sie zeigt mit ihrem alten Zeigestockzeigefinger auf ihren Sohn zurück, der genau weiß, was sie meint, der sein Zuviel an Gewicht und Haaren und Augenbrauen kennt, sein Zuviel an Chips und Zigaretten, die er heimlich draußen oder im Badezimmer raucht, sein Zuviel an Alkohol und Cola, sein Zuviel am Zuwenig von Bewegung und Sport und guter Ernährung, sodass sein Bluthochdruck manchmal durch die Decke schießt, eine Rakete von Bluthochdruck, eher ein Weltraumreisender, einer, der so richtig durchstartet, man könnte sagen, das ist ein Bluthochdruck, der ständig die Charts stürmt, was nicht gut ist, weiß Urs auch, der mit offenen, angstvollen Augen Mama und ihren Zeigestockzeigefinger ansieht.
Du, mein Junge, sagt seine Mama, du gehörst zu den Gefährdeten, denn sollte Corona dich erwischen, dann Gnade dir Gott, und du bist noch jung, ich dagegen habe schon eine Menge erlebt, sagt sie und blickt versonnen zur Lampe empor, die in diesen frühen Morgenstunden des 1. Januar die Küche und das Gespräch von Mutter und Sohn ausleuchtet.
Jaja … ich, stottert Urs und schiebt seine Brille den Nasenberg hinauf. Da soll man sich nicht wie ein Sisyphos vorkommen, wenn man ständig sein Brillengestell eine Nase hinaufrollt, aber nie richtig das Ziel erreicht, weil das verfluchte Ding wieder nach unten will.
Mama hat recht, das weiß Urs, aber schuld ist doch vor allem das Virus, vor dem man sich wie ein kleines Kind verstecken muss, ja, es ist wie ein Spiel, bei dem man im Schrank sitzt und hofft, dass das Virus einen nicht findet.
Sagen wir es mal so, sagt Urs, wir sind beide gefährdet, das kommt der Sache schon nahe, nur, dass du schon am Ufer zum Jenseits campst, also rein deines Alters wegen, ich aber auch, weil ich dich da nicht alleine zelten lassen möchte. Mama, du und ich, wir sind in dem Ferienlager, das sich ganz in der Nähe des Todes befindet.
Papperlapapp, sagt Mama, so ein Blödsinn, soll das etwa irgendwie poetisch sein? Wir sind hier in meiner Küche am 1. Januar 2021 und trinken Kaffee und hoffen, dass wir das Jahr überstehen. Und das schaffen wir auch. So wird ein Schuh draus.
Ja, stimmt, Mama, sagt Urs, und Mama nickt, das muss in diesem Moment reichen.