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Die Liebe in den Zeiten des Kommunismus

Montag

Montag. Das ist doch kein Tag. Das hat schon meine Mutter gesagt. Am Montag bleibt man besser liegen, hat sie gesagt. Montags sterben die Leut‘. Besser, man bleibt zu Hause. Gesegnet sind die, die einen Luftschutzbunker besitzen. In den sollte man sich zurückziehen. Luft anhalten und abwarten, bis der Montag vorbei ist. Obwohl … Es gibt Stimmen, die behaupten, der Montag würde erst mit dem Tod vergehen. Und andere sagen, er würde ewig andauern. Der Montag wäre alles. Gott habe den Montag geschaffen, sagen sie, und als er sah, dass bereits der Montag so misslungen sei, habe er aufgehört mit den Wochentagen. Er habe sich auch in einen Luftschutzbunker gesetzt und darauf gehofft, dass es kein Montag mehr ist.

Die restlichen Wochentage, die wären eine Erfindung des Teufels. Ebenso die Arbeitgeber. Die hätten einen Pakt geschlossen, erst zu ruhen, bis der letzte Fluss vertrocknet sei. Und Samstag und Sonntag? Die seien eine Illusion. (Ach, wie ich sie liebe, die Illusionen.) Ich solle einen Buddhisten befragen, sagte Mama. Der könne mir das schon bestätigen. Der werde wissen, dass es alles ein Trug ist, dass es nur den Montag gäbe. Der Montag, den gälte es zu überwinden. Ihn müsse man überlisten. Man müsse ihn an der Nase herumführen, bis er begreife, dass es keinen anderen Wochentag außer ihm gibt. Dann bekäme er Angst, so die Mama, und er würde sich zum Sterben hinlegen. So wie die Indianer es tun. Erst an diesem Tag würde der Kreislauf durchbrochen, und alles würde sich in Wohlgefallen beziehungsweise in Nichts auflösen. Ob ich das will? Zuviel Wohlgefallen könnte mir die Lebenssuppe gehörig versalzen.

Montag. Ein letztes Mysterium, das bleibt.

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Das linke Ohrläppchen des Satans

Sonntag II

Mama war da, zurück aus dem Urlaub, den sie mit ihrem Manager Udo K. im Süden verbrachte, in einem Hotel, das so teuer war, dass sie es nie verließen, unter keinen Umständen, weil sie nichts, was dort geboten wurde, versäumen wollten. „Guido!“ rief sie . – Und ich schrie: „Mama!“ – Und sie: „Guido!“ – Und ich: „Mama!“ – Das ging so eine halbe Stunde, unsere Lippen waren schon ganz trocken und spröde geworden. Sie packte die mitgebrachten Geschenke nicht aus. Und was sie nicht alles eingekauft hatte: Mäntel, Augenklappen, Steuerbescheide, Regierungssitze, Ventilatoren. Nichts davon, und ich wollte sie schon fragen, warum sie uns das nicht geschenkt habe, da sprang sie bereits wieder von ihrem Stuhl auf und galoppierte wie ein junges Reh die Treppen hinab, weil sie nach Hause müsste, um sich um das Beet zu kümmern. „Welches Beet?“ fragte ich noch, aber da war sie schon meinen Augen und Ohren entkommen.

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Das linke Ohrläppchen des Satans

Glusemarkt und Reibefleiß

Eine kindische Geschichte ohne Punkt und später noch ohne Komma, dafür mit einer Zeichnung von Daniela Kulot

Der Punkt, so erfährt Viktor, als er an diesem Morgen aufsteht und sich die Augen reibt, ist entkommen, er hat sich aus dem Sprachuniversum geschlichen, er ist einfach abgehauen, entschwunden, vielleicht ist er aber auch entführt worden, sagt Viktors Vater und streicht sich mit seiner rechten Hand über die Glatze, nachdenklich, weil ihm seine Haare ja auch entführt wurden, allerdings ohne dass sich jemals Entführer gemeldet hätten, sodass er seit dem Tag dieses schäbigen Verbrechens ohne Haare durch den Alltag schreiten muss, so wie es nun die Menschen tun sollen, alle Menschen, die doch bis zu diesem Tag mit dem Punkt lebten, die es gewöhnt waren, einen Punkt zu machen, einen zu setzen, wo fortan Kommas wie Stolpersteine hängen sollen, einmal ganz abgesehen von der Erschöpfung, denkt der haarlose Papa, die Erschöpfung, die die Menschen dahinraffen wird, weil keiner mehr einen Punkt macht, weil jeder den Satz, den er begonnen hat weiter- und weiterführt, bis er irgendwann vor lauter Erschöpfung aus den Schuhen kippen wird, ja, flüstert der Papa der Mama ins Ohr, die Menschen werden den Verstand verlieren, sagt er zur Mama, die auf ihren Sohn einspricht, weil sie keinen Punkt setzen kann, weil sie ihren Satz nicht beenden kann, bis ihr einfällt, wie man sich retten kann, nämlich indem man den Satz einfach ins Leere laufen lässt, bis sie sich erinnert, dass ein Satz, der ins Leere läuft, mit drei Punkten dorthin springt, es ist also unmöglich, sie ist gefangen im Reich eines einzelnen unendlichen Satzes, es ist grauenvoll, es wird nicht enden, sie sieht ihren Sohn an, der sie anblickt, der ein Wort mit den Lippen formen will, aber nein, schreit die Mutter und patscht ihre Hand auf seinen Mund, damit er nichts sagt, denn wenn er spricht, dann ist er verloren, so endgültig verloren wie sie alle, die sich zu einem ersten Wort hatten hinreißen lassen, zu einem ersten Wort, sagt sie soeben zu ihrem Sohn, und dann spricht sie von seiner Kindheit und seiner Vor-Kindheit, sie erzählt von den Großeltern, sie sucht nach Klebeband und versiegelt damit den Mund des Jungen, um ihn so nach unten zu führen, in die Küche, wo sie und der Vater auf ihr Kind einsprechen, mit einer Unmenge von Wörtern, bis ihnen die Wörter ausgehen und sie anfangen, neue Wörter zu erfinden, Wörter wie Glusemarkt und Reibefleiß, denn ihr Leben, denn unser Leben, rufen sie gleichzeitig, muss ja weitergehen, und jetzt iss deinen Teller leer, schreien sie, mit Schweiß auf der Stirn, mit Flusen auf der Zunge, die sich in den nächsten Wochen lösen werden, Viktor sieht es vor sich, sie werden aus dem Mund fallen, ihre Zungen werden in der Wohnung liegen, und alle werden ein Fest feiern, weil Ruhe eingekehrt sein wird, man wird sich in die Arme nehmen und die Stille genießen, die Abwesenheit von Worten, denn Reden ist Silber, aber Schweigen ist Gold, sagt der Vater und wedelt aufgeregt mit den Armen, während die Mutter sich plötzlich verschluckt, um dann weiterzureden diesmal ganz ohne Punkt und Komma das kann doch nicht sein sagt sie sie schnattert aufgeregt wie eine Gans kann nicht sein wo ist denn das Komma sie beginnt es zu suchen sie und der Vater aber sie finden es nicht ihr könnt es euch wohl denken

 

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Funkenmariechen des Todes

Montag

Ich habe die ganze Nacht gefeiert, mit Mama und ihrem Manager Leopold R., der sie auf ihren Tourneen begleitet. Meine Mutter ist eine Daseinsdarstellerin, deren Bühne das Leben selbst ist. Man weiß nicht immer, ob sie gerade eine ihrer Rollen spielt oder ob das Stück unterbrochen wurde. Manchmal verbeugt sie sich auf offener Straße, die Passanten bleiben stehen und applaudieren. Erst jetzt erkenne ich, dass es Publikum ist, das bisher so scheinbar achtlos ans uns vorüberging.

Leopold R., ihr Mäzen und Manager, bat uns zum Essen. Mit einer Hand, die ganze Landstriche überschatten kann, wies er  auf unsere Plätze hin, die wir einnahmen, noch nicht ahnend, dass es Tribünenplätze waren. Ich will auf die Aufführung nicht eingehen, die in einem Meer aus Schnaps unterging, kann und darf es doch nicht Aufgabe eines Sohnes sein, als Kritiker der eigenen Mutter die geschwätzigen Feuilletons des Netzes zu füttern, zumal ich in der Art und Weise, wie ich mein Leben in diesem Blog offenbare, bereits genug Kummer und Schande über mich und meinen Namen gebracht habe.

Die trüben Stunden eines neuen Tages lassen die Lippen hängen, verkünden Regen, der nicht enden will, und dies in einer Zeit, die der Sonne vorbehalten sein sollte.

Erst unlängst erhielt ich einen Brief meines treuen Freunds Margret W., der als Sonnenpriester und Vorsteher eines Sonnenstudios, längst das Weite gesucht hat, er und seine Schar Sonnenanbeter, die in diesen Breitengraden keine Zukunft für sich und ihre Religion sahen.

Wer weiß, es könnte sein, dass sie wohl daran taten, das Land mit dem Wunsch zu verlassen, ihrer Gottheit ein Stück weit näher zu sein, die ihren Alterssitz, so W., irgendwo auf einer Südseeinsel bezogen hätte. Betrachte ich die Wetterverhältnisse, könnte seine These mehr als stimmen.

Guten Morgen, Welt!

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Funkenmariechen des Todes

Der Stromausfall

Das war ja mal ein Abenteuer. Ohne Vorwarnung.

Wir haben uns gerade „Totschlag am Bodensee“ angesehen, die Szene, wo der Mörder seinem Opfer den Kopf spaltet, um ein wenig von dem Gehirn zu kosten, da fällt plötzlich der Strom aus. Da saßen wir, die Augen aufgerissen, wie erstarrt. Minutenlang.

Der Fernseher wollte sich gar nicht mehr von seinem Ableben erholen. Auch die Lampen blieben stumm. Also mussten wir (die Frau!) die Taschenlampe holen, um unsere überraschten Gesichter aus dem Dunkel zu schälen.

Die Nacht, so ohne Strom betrachtet, ist eine dunkle Angelegenheit, vor allem in der Wohnung, die alles Licht von den Rollläden aussperren lässt. Wir sind auf den Balkon, um mit der Nachbarschaft zu besprechen, wer sein Handy opfert, um beim Stromanbieter Alarm zu schlagen.

So kann man nicht existieren. Das ist ja ein Axthieb in die Ablenkung. Mit sich selbst zurechtkommen, so weit kommt es noch!

Die ganze Straße lag brach. Keine Laterne ging mehr. Nichts. Zurück in die Erbärmlichkeit der stillen Wohnung. Um uns zu beschäftigen, haben wir (die Frau!) Kerzen entzündet, für jedes Opfer des Stromzusammenbruchs eine. Da kam einiges zusammen: Computer, Haustürklingel, Kaffeemaschine, Zahnbürste, Föhn, Kühlschrank. Im Grund zündeten wir für die gesamte Wohnungswelt Kerzen an, bis alles derart erleuchtet war, dass man von einer Blendung reden musste. Die Schäden an den Netzhäuten werden die Ärzte noch einige Zeit beschäftigen.

Das Kind hat gequiekt wie ein kleines Schwein, ganz aufgeregt war es, das Kind, und hat seiner Freundin gleich eine SMS schreiben müssen. Die Freundin wohnt unter uns. Erstaunlicherweise berichtete uns das Kind, dass die Leute unter uns, laut SMS der Freundin, ebenfalls einen Stromausfall zu beklagen hätten.

Wir haben das Kind alles aufzeichnen lassen, weil wir nicht wussten, ob sich mit dem Stromausfall, das Ende der Welt angekündigt hat. Sie hat also alles der Freundin schreiben müssen, etwa so: Mama tastet sich zum Klo; Papa meint, dein Papa wär gar kein Programmierer, sondern ein arbeitsloser Angeber. Tja, was soll man da sagen? Kinder und Besoffene sind ehrlich.

Nach zwanzig Minuten, wir mussten dem Kind statt eines Konsolenspiels einen Stromausfall für den nächsten Geburtstag versprechen, war der Strom wieder da. Lampen und Fernseher flammten begeistert auf. Die Langeweile vertrieben sie auch sofort.

Gut, wie der Mörder das Gehirn ausgelöffelt hat, haben wir verpasst, dafür belohnte er uns aber mit einem Hammertotschlag, der das Blut eimerweise in einer Kirche verteilte. Endlich, dachten wir, endlich wieder Einblicke in die Realität des modernen Menschen.

Wir (die Frau!) haben uns sogar noch ein Bier geholt. Der Abend war gerettet, und der Stromausfall zum Glück bald vergessen.

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Funkenmariechen des Todes

Aus meinem Leben (3)

Wieder eine Lesung. Frau und Kind mussten sich auf die Küchenstühle setzen und zuhören. Unruhe im Publikum. Das Kind langte nach einem Plätzchen. Kein Sinn für die Kunst. Ich las gerade eine entscheidende Stelle, da klingelte es. Mama, die keine Zeit hatte, und von unten ein „Hallo“ nach oben warf. Danke.

Weiter im Text. Die Familie wird unruhig. Wie lange denn die heutige Lesung noch andauern würde? Ich zählte. Nicht mehr lange, nur noch hundert Seiten. Die packt ihr, baute ich sie auf.

Sie müsse mal, bat meine Frau. Nicht jetzt, bat ich zurück, denn jetzt kommt das, was Spannung erzeugt. Da könne sie doch nicht pinkeln gehen.

Ich ließ sie. Die Frauen haben eben ihre Bedürfnisse. Die müssen sie befriedigen.

Nachdem alle eingeschlafen waren, schlug ich das Buch zu und setzte mich vor den Fernseher.

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Funkenmariechen des Todes

Der Tag, an dem das Seiende gedingst wurde

Beppo ist kein Ich-Erzähler mehr. Jetzt nicht mehr. Es hat sich ausgeicht. Basta. Fortan wird der einzigartige Beschreibungsfinger des Autors die Buchstaben der Tastatur drücken, um die wenigen Seiten, die noch bleiben, mit Beppos Geschichte zu füllen.

Bisher hat Beppo selbst entscheiden dürfen, was mit ihm geschieht. Das ist nun vorbei. Ein für alle Mal.

Mit dem Präsens muss er sich auch erst anfreunden. Alles soll plötzlich Gegenwart sein. Das will er nicht. Nein, nein, nein!

Ihm bleibt aber nichts anderes übrig, denn schon zwingt sich der Wille des Schreibenden in seine Beine, muss der doch noch nachsehen, wer an seiner Tür geklingelt hat (siehe Kapitel mit der Türklingel).

Beppo wehrt sich. So einfach will er sich den Göttern nicht opfern. Warum hat er das alles getan? Die Geheimagentenausbildung muss doch einen Sinn haben. Alle Kampfsportarten beherrscht er.

Beppo hebt verzweifelt den Kopf und müht sich zu sprechen: „Bösartiger Demiurg, lausche mir. Abstrus, zugegeben, war bisher alles. Aber das schlägt dem Fass jetzt den Boden aus.“

Schallendes Gelächter aus der Dichterklause. Über so einen Burschen kann der Erfinder von Romanen wie „Loch der tausend Augen“ und „Dein Leben in meinem Qualmund“ nur lachen. Was will der Bursche denn? Dem wird er es noch zeigen.

Beppo reibt sich die rechte Wange. Die Ohrfeige kam unvermittelt.

„Lauf nun, Blödmann“, meldet sich der Godfather zu Wort.

Beppo ist im Grunde Fatalist. Darum gehorcht er und schleicht knurrend zur Tür, nachsehen, wer Einlass begehrt.

Der Postbote ist es, der ihm zwei Briefe überreicht, einen von seiner Falsch-Mutter, einen vom alten Schweden, der ihn kurz und knapp auf die Möglichkeit seines baldigen Ablebens hinweist.

Der Brief von Falsch-Mama ist mit Tränen übersät, die Falsch-Mama geflissentlich nachgezeichnet hat, damit man auch genau sehen kann, wo sie das Blatt benetzten.

Er solle sich ja immer warm anziehen. Man vermisse ihn. Wenn er seinen ersten Urlaub bei der Kanzlerin einreicht, soll er sich mal sehen lassen. Man würde sich über ihn freuen. Immerhin wäre man ja beinahe mit ihm verwandt.

Beppo nickt den Brief verzweifelt ab. Jetzt hat er sich die Ehe, die sich für ihn hätte ergeben können, durch die Finger gehen lassen. Das Mädchen vom Fitnessstudio wird längst mit einem anderen durch Paris schlendern.

Die Stadt, das muss er zugeben, ist natürlich die Wucht. Stadt der Liebe. Überall liegen sie herum. Lieben sich an allen unmöglichen Orten. Paare, die die Eingänge zur Metro verstopfen. In der Seine treiben sie massenhaft. Sich küssende Münder, die sich gegenseitig auffressen. Was so auch schon vorkam. Man liebt sich eben bis zur Schmerzgrenze. So was kennt man in Deutschland nicht. Da wird stramm gestanden, wenn es die Liebe verlangt. Man fickt nicht, sondern marschiert ein. Da wird nicht französisch gemacht, sondern man nimmt den Mund zu voll. Deutschland ist eben das Land der Nationalsozialisten. Das hängt im Deutschen drin. Das beweist er mit jeder Paulskirchenrede aufs Neue. Wenn der Deutsche ein Lager sieht, denkt er nicht an Ferien, sondern daran, wen er alles hier internieren könnte.

Frankreich dagegen lebt von Wein und freier Liebe, von wilden Lippen, von Rauch, von Diskussionen über die Existenz, von dicken Brillengläsern.

Beppo wagt es kaum, einen Schritt vor die Tür zu setzen. Die Augen muss er zuhalten, unterlässt es aber. Sein Auftrag lautet, den alten Schweden zu finden und zu eliminieren. Das stellt er sich besonders schön vor. Endlich einen Bösewicht totschießen, aufhängen, ausweiden.

Jetzt aber erst mal aufbrezeln. Mit geschwinden Geheimagenschritten durcheilt er den Löffelflur, um sich vor dem Spiegel aufzustellen.

Ah, denkt Beppo, hübsch bin ich schon. Er kämmt sich die Augenbrauen, färbt sich die Haare, schnell noch eine Packung drauf. Die Zähne werden mit einer Bürste geschrubbt, bis sie glänzen, bis sich jede Zunge, die darüber flanieren möchte, in ihnen spiegeln kann. Die Ohren werden mit einem Stäbchen bearbeitet. Was man da alles findet. Es ist eine Schande. Und plötzlich hört er auch besser. Alles so klar. Das Gestöhne der sich vor dem Haus fickenden Paare ist deutlich zu vernehmen. Heureka! Da wird man selbst ja ganz geil. Was soll er tun. Selbstbefriedigen ist ihm keine Alternative. Niemals wird er selbst Hand anlegen. Er ist Beppo. Er ist Geheimagent. Kann man in jedem Dokumentarfilm nachsehen, dass die sich nie selbst befriedigen müssen. Im Gegenteil, sie werden von dunkelhäutigen Dschungelschönheiten verführt, und dies nach allen Regeln der Dschungelkunst. Katzen sind das, ich kann euch sagen. Schmiegen sich wie ein Perserteppich auf den nackten Oberkörper und reiben sich, dass es sich gewaschen hat. So eine Kakaobraut braucht er jetzt. Verzweifelt sieht sich der beste Geheimagent der Kanzlerin um. Das hat man davon, wenn man für die Deutschen tätig ist. An die Liebe (s.o.) wird nie gedacht.

Beppo beendet die Waschungen, er salbt sich die Füße, kleidet sich in Seide und wandelt aus der Wohnung.

Das Treppenhaus ist eine Zumutung. Staub, wohin das Auge blickt. Das kann so nicht bleiben. Er wird die Concierge mit einem Handkantenschlag auf ihre Arbeit hinweisen. Die frisch gewaschenen Ohren hören überall Gestöhne und Geschlabber. Selbst aus der Wohnung des Philosophen dringt es, der seine Partnerin soeben mit den Worten verführt: „Das Seiende will heute gedingst werden.“ Den Rest wollen wir den Augen unserer meist jugendlichen Leser vorenthalten.

Der Geheimagent müht sich darum, nicht zu stolpern. Überall liegen die Franzosen und ficken. Es ist nicht zum Aushalten.

Er schlägt die Tür wild nach innen. Zorn bricht sich Bahn. Es wird Zeit, den alten Schweden zu killen. Beppo muss sich Luft machen.

Und um sich zu beruhigen, entkleidet er sich und fällt über die Concierge her, die sich eben erst von einem Matrosen erholt.

Paris. Die Stadt der Liebe.

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Weiße Tauben

Meine letzten Tage vor dem Auszug aus dem Wirtshaus verbrachte ich mit Spaziergängen in der Umgebung. Noch einmal saugte ich alles auf, betastete ich Blätter und Gräser, die mich in den letzten Jahren so geprägt hatten. Ich dachte an all die schönen Augenblicke, die nie wieder kommen würden, die brutalen Wirtshausschlägereien, die Mäuse, die ich gefangen und gezähmt hatte. Die Welt schien mit einem Mal blauer geworden zu sein, sie lud sich mit Leben förmlich auf, als wolle sie mir den Abschied erschweren.

Die Vögel tirilierten über meinem Haupt und erleichterten sich. Ich nahm es mit Gelassenheit hin, wusste ich doch um das Wesen meiner gefiederten Freunde. Vögel müssen wie Federn sein, wollen sie sich vom Erdengrund lösen, wollen sie zu den Wolken hinauf, um sich in ihnen zu verlieren, in ihrem Weiß, in ihrer Süße, die mein kindliches Herz an die Zuckerwatte erinnerte, die mein Falsch-Vater mir einst auf einem Jahrmarkt gekauft hatte, um mein kindliches Herz durch die Brust springen zu sehen.

Alles war wie verzaubert. Rehe traten an mich heran, verlangten, dass ich sie hinter ihren Ohren kraulte. Sie wussten nicht um meine Vorliebe für Wild mit Preiselbeeren, ahnten nicht, in welche Gefahr sie sich begaben, als sie sich so übermütig an meiner Flanke rieben.

Die Hasen tollten verzückt um meine Füße, und für einen letzten Augenblick wurde es mir schwer um die Seele, die sich nicht lösen wollte.

Erst ein paar gezielte Schüsse vollbrachten, wozu ich selbst nicht in der Lage gewesen war.

Noch am Abend packte ich und fuhr mit dem Zug in die weite Welt.

Falsch-Mama und Falsch-Papa standen am Bahnhof, weiße Tauben schwenkend, die sie auf dem Bahnhofsvorplatz aufgelesen hatten.

Ich suchte mir einen Platz und vergaß sie alle. Anders hätte ich nicht weiterleben können.

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Namenstag

Statt eines Diploms erhielt ich einen Namen. Fortan konnte man mich anreden, ich musste mich nicht länger herbeizitieren lassen, und dies mit Bezeichnungen wie „Du“, „Junge“ oder „Komm“.

Die Feier wurde in der Schankstube zelebriert. Falsch-Papa hatte einen Plattenspieler besorgt, den er unberührt auf einem herbeigeschleppten Hocker stehen ließ. Keine Musik. Nichts sollte die Stimmung dieser Stunden trüben. Falsch-Mama stand hinter mir, schwer atmend und kämmte mir feierlich die Haare.

„Und jetzt?“, fragte ich.

„Warten wir auf den, der kommen wird“, sagte Falsch-Papa.

Es war eine merkwürdige Situation, die mich verunsicherte. Draußen regnete es Bindfäden, Katzen und Hunde. Wir standen wie vergessene Spielfiguren auf einem Brett, während Falsch-Papa auf jedes Geräusch achtete, das den Raum durchquerte. Die Katze sprang von der Theke und sah uns fauchend an. Falsch-Papa zog sein Notizbuch aus der Jackentasche und notierte etwas.

„Alles“, erklärte er mir, „hängt mit allem zusammen. Der Wind“, er hob seinen Finger vor meine Augen und bewegte ihn hin und her, „zieht den Regen. Der Regen transportiert die Tropfen. Und die Tropfen …“

In diesem Augenblick unterbrach er sich. „Horch!“, rief er.

Ich beugte meinen Kopf leicht nach vorne, damit mir nichts, absolut nichts entging.

„Was hörst du?“, fragte Falsch-Papa.

Ich überlegte fieberhaft. Keine Antwort durfte die falsche sein, selbst wenn sie es war. Meine Worte mussten so geschickt gewählt werden, dass Falsch-Papa stolz nicken würde, während Falsch-Mama erstaunt über so viel Hirnschmalz mit dem Kämmen aussetzen würde, bis Falsch-Papa ihr das Signal gab, mit dem Ritus fortzufahren.

„Ich höre das“, sagte ich langsam, jedes Wort wie ein Puzzlestück betrachtend und erst dann ablegend, „ich höre das, was nicht zu hören ist.“

Falsch-Papas Augen weiteten sich. „Und das wäre?“, schrie er mich an.

„Ich vernehme Gespräche in weit entfernten Wohnungen. Das Geklapper von Deckeln, die auf Kochtöpfe gesetzt werden, obwohl sie nicht passen. Ich höre einen Segler, der sein letztes Wort sprechen wird, weil der nahende Sturm sein Boot kentern lassen wird.“

„Wie lautet das Wort?“

„Ach“, sagte ich.

Falsch-Papa zitterte am ganzen Leib, seine langen Finger umschlossen meinen Hals, als er sagte: „Ja, das hat er gesagt. Du bist nun soweit. Du hast alles gelernt, was nötig ist, um im Auftrag der Kanzlerin die Welt vor dem Bösen zu beschützen. Dein Name sei fortan …“

Falsch-Papa blickte zu Falsch-Mama, die den Kamm fallen ließ und eine Melodie summte, die seine letzten Worte untermalen sollten.

„… Beppo B.!“

Da standen wir. Falsch-Mama, Falsch-Papa und ich. Die Stille, die seinen letzten Worten folgte, hätte einen Gehörlosen erregt, sie war so tief und abwesend von allen Geräuschen, dass man sie nicht einmal mehr Stille nennen sollte, diese Stille, die mit konzentrierter Ruhe gefüllt war. „Weg“ hätte man sie taufen können. Oder „Nicht-da“. Ich weiß es nicht. Ich war völlig überfordert. Der Name strahlte mich wie eine goldene Königskrone an. Er war das Kleid, das ich fortan tragen würde. Der Schal, den ich meinem Gegenüber in die Hand drücken konnte.

Beppo B.!

„Beppo B.“, erklärte Falsch-Papa, „ist der perfekte Name für einen Geheimagenten. Du wirst mit ihm weltweit nicht auffallen. Du wirst mit deiner Umgebung verschmelzen können. Er wird dich unsichtbar machen. Er wird dich zum Freund und zur Freundin von jedem machen. Er wird dir die Türen der Paläste und der Hütten öffnen. Frauen werden dir zu Füßen liegen. Deine Ausbildung ist beendet. Nur wenige Tage noch, dann wirst du gehen. Du hast uns stolz gemacht.“ Falsch-Papa schluckte und wischte sich eine Träne aus dem rechten Auge, die er nachdenklich zwischen seinen Fingerkuppen verrieb.

„Und jetzt wollen wir trauern. Du wirst gehen. Das können wir nicht feiern.“

Falsch-Papa zeigte zum Plattenspieler, der verstaubt dastand, unbenutzt und fern seiner Produktionshallen. Dann ging er zur Theke und warf einige Gläser zu Boden, die klirrend in tausend kleine Scherben zersprangen.

„Kämm den Jungen“, sagte er und schluckte abermals.

Der Tag, an dem ich meinen Namen erhielt, war ein glücklicher, ein trauriger Tag, es war ein Tag, an dem mein Haar wie Seide glänzte, ein Tag, den ich nie vergessen werde.

Beppo. Jetzt würde ich mich auch vorstellen können, sollte ich ein Mädchen kennenlernen.

Ich verlor an diesem fernen Tag meine falschen Eltern und meine Unschuld.

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Funkenmariechen des Todes

Im Bauch der Badewannenmutter

Ich lag in der Badewanne.

Mein Körper schmerzte. Die Torturen des täglichen Trainings, das mich stählen sollte, führten mich an den Rand meines Wesens. Meine Muskeln waren zu einem tiefen Tal aus Tränen geworden. Ich versauerte im eigenen Schweiß, leckte meine Wunde, während ich meinen Körper unter die heiße Badewasseroberfläche drückte. Für Sekunden fand ich Abstand von mir und meinem Geheimagentenleben, das noch nicht einmal wirklich begonnen hatte, das sich noch in den letzten Zügen seiner Ausbildung befand.

Die Töne rückten unter Wasser von mir ab, die Welt entfernte sich ein Stück, ein trügerisches Stück, das mit einem kleinen Schritt zu überbrücken gewesen wäre. Blind war ich dort unten, ich presste die Lider über die Augen, bis der Saft der Bilder aus ihnen gelaufen kam, um sich mit dem Schaum zu vermengen. Nichts sollte übrig bleiben von einem solchen Tag, als einzig das Glitzern der kleinen Seifenberge, inmitten derer ich lag und ruhte.

Ich trieb in einem trügerischen Schaumaugenblick, der, ließ ich kein heißes Wasser nach, rasch abkühlte.

Falsch-Mama klopfte bereits an der Tür, sie wollte auch ihr Bad nehmen. Ihre Stimme drang wie ein Stilett tief in mein Ohr und verletzte mein letztes Empfinden für Stille.

Ich seufzte und erhob mich, tropfnass, als wäre ich aus dem Bauch einer Mutter geschlüpft, in deren Leib ich Abend für Abend wieder zu flüchten trachtete.

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Funkenmariechen des Todes

Schaumschläger

Alle zwei Wochen war Badetag. Falsch-Mama, Falsch-Papa und ich stiegen in die Wanne und tauchten in ein Reich aus Schaum. Wunderbar war es dort, heiß und sinnlich. Ich vergaß meine Bauchschmerzen, die Frauenmagazine, die Tapete in meinem Zimmer, die sich nach und nach von mir löste. Vergaß die Krümel in der Ecke, die sich rar gemacht hatten, seit eine Maus zwischen der Stehlampe und ihrem Loch emsig hin und her wanderte, die Hände hinter dem Rücken, so wie es der Geheimrat Goethe in seiner Stube getan hatte, während Gedanken ihn bedrängten, die er in der doch äußerst fragwürdigen Form, in der sie seinen Kopf betraten, ungern aus dem Mund entlassen wollte.

Wir planschten aufgeregt und warfen uns Hilfsverben an den Kopf, dass es eine Freude war.

Nach zwei, drei Stunden stiegen wir verschrumpelt wie alte Hexen aus der Wanne, uns die Rücken rubbelnd, als wären sie Glückslose.