Liebes Tagebuch,
ich weiß gar nicht, ob ich dich so anreden darf. Obwohl du ja mein Kind bist. Ich habe dich gezeugt. Wenn ich näher darüber nachdenke, zeuge ich dich noch immer. Nein! Ich nähre dich. Ich quetsche dich eng an meine Brust, die bisher noch ohne Implantat auskommt. Ich lasse dich saugen, bis dir ganz schlecht von den ganzen Worten ist. Jetzt aber rasch mit dir über die Schulter, denke ich. Ich laufe mit dem Bildschirm auf und ab, bis er ein Bäuerchen gemacht hat. Kein Rülpser zu hören. Das mag daran liegen, liebes Tagebuch, dass du nicht mehr an der Stromquelle hängst. Tot! Ohne Strom wirst du sterben. Ich rufe meine Frau. Gemeinsam beugen wir uns über dich. Atmen unsere Atemluft auf deine Oberfläche. Weg! Da war ein Fleck, der jetzt weg ist. Jetzt rasch das Stromkabel in die Steckdose, und schon flackerst du wieder auf. Geht doch! Ach, mein liebes Tagebuch, ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde. Vielleicht würde ich das Leben genießen. Ich würde lachen. Tanzen. Das wäre was! Unvorstellbar. Stelle es dir lieber nicht vor, denn wer will schon darüber nachdenken, wie gut es den anderen ohne einen gehen würde. Das, liebes Tagebuch, ist etwas zu viel erwartet. Ich entschuldige mich dafür.
Du solltest mich nicht so traurig ansehen. Ich werde mich um dich kümmern. Ich gehöre nicht zu diesen Tagebuchschreibern, die sich nicht um ihr Tagebuch kümmern, die es erst in die Welt setzen, um es dann emotional verkümmern zu lassen. Ich werde auch kein zweites Tagebuch zeugen. Höchstens, du willst das unbedingt. Viele Tagebücher wünschen sich ein zweites oder drittes Tagebuch, mit dem sie spielen können. Die Realität sieht aber oft anders aus. Die älteren Tagebücher kümmern sich nicht um die kleinen Tagebücher, die sich in der Küche mit Mehl einstauben, während sich die missratenen Eltern eine Wiederholung des „Literarischen Quartetts“ ansehen. Die Fernsehlandschaft zerstört die Familien. Inzwischen kann man sich den ganzen Tag über etwas bei Arte und 3sat ansehen. Das zerstört alle Formen der Kommunikation. Viel schlimmer sind noch jene Eltern, die in die öffentlichen Leihbibliotheken gehen, um dort kostenlos die Tageszeitungen zu lesen. Ein erbärmliches Verhalten.
Nein, liebes Tagebuch, das wird dir hier bei mir nicht passieren. Ich werde mich stets um dich kümmern. Ich werde dich mit Hilfe einer unendlich langen Verlängerungsschnur ausfahren. Ich packe dich in einen Kinderwagen, damit du nicht frierst, und dann fahre ich dich zum Spielplatz, wo all die anderen Tagebuchschreiber mit ihren Tagebüchern sitzen. Gut, dass man inzwischen einen Monat Tagebuchschreiberzeit vom Staat bekommt, denn so kann ich mich um dich kümmern, ohne Angst vor dem finanziellen Ruin zu haben. Inzwischen hat ja auch jedes Tagebuch ein Anrecht auf eine Tagebuchtagesstätte. Wir können den Platz für dich einklagen, wenn du magst. In der Tagebuchtagesstätte kümmern sich Erzieher um dich. Sie spielen mit deinen Worten, sie versuchen sogar, dir neue beizubringen. Das wäre doch wunderbar, wenn du dich bald schon selber schreiben könntest. Darum geht es nämlich, liebes Tagebuch. Du sollst erwachsen werden, du sollst in die Welt hinausgehen, du sollst dich um einen Ausbildungsplatz bemühen, und wenn alles gut läuft, wirst du irgendwann ein anderes Tagebuch kennenlernen, und ihr werdet gemeinsam kleine Tagebücher zeugen.
So, das war es für heute, liebes Tagebuch. Und jetzt stelle ich deinen nächsten Eintrag online. Die Leute werden vorbeikommen, und sie werden staunen und sagen: „Was für ein schönes Tagebuch. Und wie groß es schon geworden ist.“ Manche, die neidisch auf dich sind, werden versuchen, dich schlecht zu machen, aber das sollte dich nicht ängstigen. Oder beunruhigen. Die Welt ist so. Es findet sich immer einer, der meint, sein Tagebuch wäre das schönste und beste auf der Welt. Aber das ist Unsinn. Ihr seid alle wunderbar.
Dein Papa Guido