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Mischmasch

Die Nase

Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
„Wir waren so gut drauf“, sagte sie zu dem Journalisten, der sie wegen der „Vorfälle“ vor dem Tempel befragte.
Es war jetzt drei Tage her, aber der Shitstorm wollte und wollte sich nicht legen.
„Sie haben doch bestimmt gewusst, dass die Nasalen ihre Nasen stets unter einem Tuch verbergen.“
Helena überlegte. Natürlich hatten sie es gewusst, aber sie hatten es vergessen.
Haben wir es vergessen? Sie überlegte.
„Ich habe vor den Nasalen Respekt“, sagte sie.
Oh ja! Und ob sie den hatte. Immerhin hatten die Nasalen, die daran glaubten, dass der Allmächtige wie eine Nase aussah, bereits zahlreiche Anschläge weltweit verübt. Sie schnitten all denen die Nasen ab, die sie hochmütig trugen. Oben, im Gesicht.
Aber wo soll man sie denn sonst tragen?, dachte Helena.
Im Grund versuchten sie, allen Menschen die Nase abzuschneiden, die sie nicht bedeckten.
Die mächtigste Terrororganisation nannte sich NASA. NASA stand für NASE AB, SAGT ARTHUR. Arthur war ihr Anführer. Ein gewalttätiger Terrorist, aufgewachsen in einer Familie von Schönheitsoperateuren.

„Man beschimpft mich fürchterlich. Die sozialen Netzwerke laufen über mit Drohungen …“

Helena wischte eine Haarsträhne zur Seite. Das tat sie, wenn sie nervös war. Die Haarsträhne schien keine andere Aufgabe zu haben, als die, dass sie zur Seite gewischt wurde, wenn Helena nervös war.

Sie konnte das alles gar nicht verstehen. Millionen Menschen in aller Welt liebten sie. Sie hatten sie als gehbehinderte Selma in „Selma kann wieder laufen“ geliebt. Oder als Nonne in „Liebe deine Nächste“. „Liebe deine Nächste“ war von der katholischen Kirche kritisiert worden, ein wenig zumindest, aber es war nichts gegen das, was momentan geschah.

„Arthur“, sagte der Journalist.

Helena machte große Augen.

„Nicht der Film, sondern der Terrorist.“

Helena lächelte.

„Arthur ist eine der wenigen, der seine Nase nicht verdeckt. Er hat seine Nasenhaare wachsen lassen, so wie es das Buch NASI vorschreibt. Haben Sie das Buch NASI je gelesen?“

Da war sie wieder, ihre Nervosität. Sie wischte die Haarsträhne zur Seite.

„Nein“, gab sie zu. „Ich weiß, man sollte sich mit allen Religionen voller Respekt beschäftigen.“

„Sollte man?“, fragte der Journalist. „Immerhin gibt es so viele Religionen, da hätten Sie eine Menge zu tun.“

Sie saßen am Pool eines der zahlreichen Häuser, die Helena in Malibu besaß. An einem solchen Pool hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Sie hatte mit Justin und einigen anderen gefeiert, und dann war irgendjemand, vielleicht war es sogar Justin gewesen, auf die Idee gekommen, dass sie sich ruhig mal einen kleinen Trip gönnen könnten. Rüber in eines dieser Länder, in denen die Sonne besonders heiß brannte, in denen die Menschen ihre Nasen verdeckten, in denen es Märkte gab, auf denen es sonderbar roch.

Sonderbar roch? Wer hatte das gesagt? Robert? Patrick? Sie sollte das nicht erzählen, das würden sie ihr als eine Form von Rassismus auslegen.

Ihr war das alles furchtbar peinlich. Sie hasste es, jetzt hier sitzen zu müssen und über all das sprechen zu müssen, und das nur, weil sie ein paar Fotos ohne ihre verdeckten Nasen vor einem Tempel gemacht hatten. Das konnte doch nicht so schlimm sein. Doch war es. Alle Welt ließ es sie spüren.

Die Bilder an sich waren ja noch nicht so schlimm gewesen. Schlimmer war es, sie auch noch bei Twitter hochzuladen. Das hatte die Sache erst ins Rollen gebracht. Eine Gruppe verwöhnter Hollywoodjugendlicher, die mit ihren Nasen vor einem Tempel posierten.

Bob, ihr Agent, hatte sie gleich angerufen.

„Wo bist du? Malibu? Das blaue Haus? Ich komme! Du sitzt ganz schön in der Scheiße, nein, schlimmer, du sitzt ganz tief in der größten Scheiße deines Lebens. Die sind verrückt. Die schneiden Leuten die Nasen ab, weil sie sich beleidigt fühlen.“

Helena hatte wie betäubt dagesessen. Es war doch nur eine Nase, eine verfluchte Nase. Eine Nase!

„Ich möchte mich noch einmal bei allen Nasalen entschuldigen“, flüsterte Helena.

Der Journalist nickte und packte seine Sachen zusammen.

„Sie sollten noch ein paar Bilder und Filmaufnahmen machen, die sie mit verdeckter Nase zeigen“, sagte er. „Das könnte die Leute beruhigen.“

„Meinen Sie?“

Da saß sie. Helena Gomez. Sexsymbol, obwohl sie im Grunde noch ein kleines Mädchen war. Sie saß am Rand einer Liege und drückte ihre Arme durch.

Später, als der Journalist schon längst wieder in seinen Redaktionsräumen saß und an seiner Story schrieb, rief Bob sie an. Er sei aufgehalten worden, er betreibe Schadensbegrenzung. HONY habe den Vertrag über die nächsten zwei Filme gekündigt.

„Was?“, fragte Helena ungläubig. Ihr war schlecht, sie kam sich wie in einem drittklassigen Film vor. Das konnte doch alles nicht wirklich geschehen, auf keinen Fall, das hatte sie nicht verdient.

„Du hättest es wissen müssen“, sagte Bob. „Du hast sie und ihre Religion beleidigt. HONY hat Angst, dass es zu Anschlägen kommen könnte.“

„Anschlägen?“

„Du bist ja sicher.“

Sicher? Sie sah sich um. Sie hatte momentan sieben Bodyguards im Haus. Sie überlegte. Hatte der eine von ihnen nicht besonders langes Nasenhaar? War das ein Hinweis? Sie würden sie töten, abschlachten.

„Am besten, du schließt dich ein, bis ich da bin“, sagte Bob und legte auf.

Sie würde es nie wieder tun. Sie blickte zum Himmel. Oh, große Nase, verzeih mir. Ich habe gesündigt, aber ich will es nie wieder tun.

Justin, dieser verdammte Schweinehund war an allem Schuld. Wäre er nicht auf die Idee mit dem Flug gekommen, wäre heute noch alles gut. Der Vertrag mit HONY wäre nicht geplatzt, sie müsste nicht um ihre Zukunft bangen, ach, dieser Hund.

Sie schlang ein Handtuch um ihre Hüfte und watschelte gesenkten Kopfes ins Haus zurück. Sie fühlte sich so allein, so allein. Ob sie Mama anrufen sollte? Papa?

Die Terrassentür, sie hatte die Terrassentür vergessen, aber das war jetzt egal. Erst mal ins Schlafzimmer, dort befand sich auch ihre Waffe, dieser kleine, niedliche Revolver, mit dem sie schießen konnte. Sie hatte es für „Heiß geliebt im Bombenhagel“ geübt. Ein großer Film über die Liebe und den Krieg.

Sie kramte den Revolver raus und schloss die Schlafzimmertür. Sie setzte sich aufs Bett und weinte. Das war alles so unfair, aber sie würde ihre Nase verteidigen, komme, was da wolle. So einfach würden die sie nicht bekommen.

Irgendwann schlief sie ein. Sie träumte von einer großen, haarigen Nase. Die Nase verfolgte sie den WALK OF FAME hoch und runter.

„Es tut mir leid“, schluchzte sie im Schlaf. „Es tut mir leid.“

Als sie am Morgen erwachte, musste sie niesen. Noch niemals zuvor hatte sie sich über einen Schnupfen so sehr gefreut, wie an diesem Morgen in Malibu.

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Die Liebe in den Zeiten des Kommunismus

Montag

Montag. Das ist doch kein Tag. Das hat schon meine Mutter gesagt. Am Montag bleibt man besser liegen, hat sie gesagt. Montags sterben die Leut‘. Besser, man bleibt zu Hause. Gesegnet sind die, die einen Luftschutzbunker besitzen. In den sollte man sich zurückziehen. Luft anhalten und abwarten, bis der Montag vorbei ist. Obwohl … Es gibt Stimmen, die behaupten, der Montag würde erst mit dem Tod vergehen. Und andere sagen, er würde ewig andauern. Der Montag wäre alles. Gott habe den Montag geschaffen, sagen sie, und als er sah, dass bereits der Montag so misslungen sei, habe er aufgehört mit den Wochentagen. Er habe sich auch in einen Luftschutzbunker gesetzt und darauf gehofft, dass es kein Montag mehr ist.

Die restlichen Wochentage, die wären eine Erfindung des Teufels. Ebenso die Arbeitgeber. Die hätten einen Pakt geschlossen, erst zu ruhen, bis der letzte Fluss vertrocknet sei. Und Samstag und Sonntag? Die seien eine Illusion. (Ach, wie ich sie liebe, die Illusionen.) Ich solle einen Buddhisten befragen, sagte Mama. Der könne mir das schon bestätigen. Der werde wissen, dass es alles ein Trug ist, dass es nur den Montag gäbe. Der Montag, den gälte es zu überwinden. Ihn müsse man überlisten. Man müsse ihn an der Nase herumführen, bis er begreife, dass es keinen anderen Wochentag außer ihm gibt. Dann bekäme er Angst, so die Mama, und er würde sich zum Sterben hinlegen. So wie die Indianer es tun. Erst an diesem Tag würde der Kreislauf durchbrochen, und alles würde sich in Wohlgefallen beziehungsweise in Nichts auflösen. Ob ich das will? Zuviel Wohlgefallen könnte mir die Lebenssuppe gehörig versalzen.

Montag. Ein letztes Mysterium, das bleibt.

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Der Autor, den sie Horse nannten

Mittwoch II – Die Roulade

Rauchen ist nicht die schlechteste Alternative. Man könnte stattdessen einen Menschen erschießen. Oder foltern. – Ein Text, der entsteht, entsteht ja in der Zeit, also Buchstabe für Buchstabe, und dieser hier wurde eben von meiner Frau unterbrochen, die mir einen Löffel hinhielt, Soße darin, die ich probieren sollte. „Da wehrt man sich doch nicht, oder?“, fragte sie. Und ich murmelte: „Nein!“ Beschloss es gleich hier einzubauen, so wie man etwas in ein Auto einbaut, von denen ich nichts verstehe. Oder in einen Computer. Von denen verstehe ich ebenso wenig. – Wo war ich? Bei meinem Rauchvorgang, der längst abgeschlossen ist, von meiner Zigarette, die ich draußen auf meinem Balkon rauchte, dort, wo ich sitze und in die Luft starre, in die Wolken, ins Grau, während aus der Ferne Geräusche rollen, so wie Wellen, die sich langsam auf meinen Strand zubewegen, bis sie im Sand meines Hirns versickern. Und von den Alternativen wollte ich erzählen, von den Dingen, die man gewöhnlich und ungewöhnlich tun kann, wie einen Menschen retten oder töten. Davon, was ich alles nicht so tue, weil ich ein Unterlassungstäter bin, ein Sitzenbleiber und Ausdenker. Es wird ausgedacht, bis im Denken kein Tropfen mehr drin ist, bis das Denken wie ein Schwamm ausgedrückt ist, immer mit dem Hintergedanken, gar nicht mehr denken zu wollen, weil das nicht die schlechteste Alternative in dieser mit Alternativen überlaufenden Welt wäre. – In der Küche klappert es jetzt, und es wird nicht mehr lange dauern, bis ich zum Essen gerufen werde, und ich werde hinüberschlendern, als käme ich zufällig vorbei. Ich werde die Nase in den Duft hängen, weil man seine Nase in fremde und nichtfremde Küchenangelegenheiten stecken soll.

Guten Abend, Welt!

Roulade 002

Vertilgt. Die Roulade auf dem Bild, die ist ein Blick in die Vergangenheit.   

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Die Stimmen

Die Stimmen (5)

Samstag 17. August 2013

Ist er erwacht, niest er. Eine Allergie, und manchmal denkt er, dass es eine allergische Reaktion auf den Tag sein könnte. Die Pollen des Lebens kriechen in seine Nase, diese kleinen Pollen, die in der Luft umherschwirren, die von den Autos stammen, und vom Licht, und natürlich muss er über sich selbst lachen.

Nach dem Aufstehen folgt er einem Weg, der sich täglich gleicht. Der Flur müsste an diesen Stellen ganz ausgetreten sein. Er geht von der Küche, wo er die Kaffeemaschine anschaltet, hinüber ins Esszimmer (das auch als Arbeitszimmer dient), das Teil eines großen Bereichs ist, der aus Wohn- und Esszimmer besteht, und beugt sich nach unten, um den Rechner hochzufahren. Ist das erledigt, schlurft er auf den Balkon, um dort eine Zigarette zu rauchen.

Er raucht jetzt schon lange, viel zu lange, bestimmt schon seit seinem sechzehnten Geburtstag, und er wird diesen Monat noch dreiundvierzig, höchste Zeit also, denkt er, aufzuhören. Er will nicht sterben, auch wenn es Phasen in seinem Leben gab, wo es ihm egal gewesen wäre. (Ob es das dann wirklich gewesen wäre, kann er nicht beantworten. Man kann das Sterben nicht ausprobieren, man kann es nicht überstreifen und sagen: Das passt mir nicht. Es gibt verschiedene Größen. Gefallen wird einem vermutlich keine. Es gibt den Herzinfarkt, ein Kostüm, das rasch an- und abgelegt wird. Es gibt aber auch die verschiedenen Krebsgrößen, lauter Tücher, in denen man sich verfängt, bis man Panik bekommt.)

Er denkt an diesen Roman von Vonnegut, der in der deutschen Übersetzung den Titel ZEITBEBEN trägt. Gibt es so etwas? Ja, und ob, denkt er. Er hat es doch erlebt, als sein Vater starb. Es war zu einem Zeitbeben gekommen, weil er dachte, die Welt müsse den Atem anhalten. Die Welt nahm vom Tod seines Vaters keine Notiz. Sie sprang mit der gleichen geschäftigen Miene, die sie täglich aufzusetzen pflegt, durch die Innenstadt. Und während er auf einer Bank saß – und die Trauer ihn und sein Zeitempfinden lähmte -, rannten die Menschen an ihm vorüber. Es war, als würde er in einer Zeitblase hocken, in einer Seifenblase, in der der Sekundenzeiger sich mühsam wie ein alter Mann über die Uhr quälte, während auf den Uhren der anderen ein Jogger befestigt war, dem es gar nicht schnell genug gehen konnte.

Damals hatte er ein Zeitbeben erlebt. Die Zeit war durch den Tod erschüttert worden, und während er sein Zeithaus zerstört hatte, sodass er sich plötzlich von einem Augenblick zum anderen ohne ein Dach über dem Kopf wähnte, war das der Nachbarn unberührt geblieben. Dabei wird niemand vor den Zeitbeben verschont.

Er überliest seinen heutigen Tagebucheintrag.

Ein bisschen viel Tod für einen Samstagmorgen, denkt er. Die Sonne scheint, der Wellensittich erwacht. Er meldet sich mit zaghaften Tönen. Ein Quietschen, wie man es aus den alten Folgen mit den Waltons kennt, die er sich als Kind ansah. Der Vogel hört sich wie die Hupe eines dieser alten Autos an.

Ein bisschen viel Tod, denkt er. Auf der anderen Seite, sollte man ihn nicht außer Acht lassen, denn er ist die feste Größe, an der wir all unsere Handlungen messen sollten.

Wenn er etwas hasst, sind es pathetische Gedanken. Diese hehren und großen Gedanken, die, niedergeschrieben, bereits eine traurige Lächerlichkeit zum Ausdruck bringen. Man kann sie ebenso wenig wie Pornofilme karikieren, man kann sie nicht ironisch überzeichnen, weil sie das bereits selber tun. Sie haben ihre eigene Satire schon im Gepäck.

Also überliest er sich. Lachen kann er nicht.

Mist, denkt er.

Sein Kaffee ist leer. Zeit, den Tag anzugehen.

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Lesereise des Grauens

Donnerstag

Nebel lag über der Straße. Den Häusern. Den Wiesen. So war das heute Morgen. Ich stand draußen auf meinem Balkon und starrte, Kippe zwischen den Lippen, in die Morgentrübe hinein. Kein Laut war zu hören. Nichts! Nicht einmal eine Autotür. Oder ein Tier.

Tiere gibt es hier viele. Rudelweise. Dreht man sich mal kurz um, kann es geschehen, dass eine Herde Elefanten die Straße kreuzt. Was weiß denn ich, wo die hinwollen! Vielleicht zum nächsten Wasserloch. Oder ins Unterholz, weil direkt hinter unserem Haus liegt ein großer Wald. Ein wahrer Märchenwald, in dem ich früher spielte. Damals ritten wir mit unsichtbaren Pferden.

Und während die Ruhe auf der Straße lag, so wie eine Decke, kitzelte mich etwas in meiner Nase. Das geht mir jeden Morgen so. Das ist der Heuschnupfen.

Und HATSCHIIIIIIIIIIIIIIIIII! So dröhnte es die Straße hinauf und hinab. Klar, dass da alle wach wurden. Lichter wurden eingeschaltet. Vögel flogen auf. Ein Vogel, der weiß nichts von so einem Heuschnupfen, also bekommt er es mit der Angst zu tun und fliegt auf. Richtung Ruhe!

Hat mein Heuschnupfen erst angefangen, gibt es für mich und meine Nase kein Halten mehr. Niesattacke auf Niesattacke. So einer wie ich, der niest seine Umgebung in die totale Einsamkeit hinein. Nicht mehr lange und ich werde allein sein.

Um nicht die gesamte Nachbarschaft aufzuniesen, bin ich wieder rein in die Wohnung, weil ich schreiben wollte. Das habe ich dann auch getan. Vor diesem Eintrag. Ob Sie es glauben (oder nicht!), aber vor diesem Tagebucheintrag habe ich bereits vier Seiten für einen neuen Krimi (der im Bauernmilieu spielt) geschrieben. Vier Seiten! Und das um 5.30 Uhr am Morgen. Vier!

Um 6.00 Uhr waren sie fertig. Um 6.00 Uhr lagen die ganzen Buchstaben vor mir. Gelesen habe ich es nicht. Nein, das könnte die ganze Morgenstimmung versauen. Ich habe lieber ein wenig geniest, nicht weil ich es wollte, sondern weil es sein musste. Weil mein Körper es einforderte. Meine Nase. Und so ist der Mensch, sind wir doch einmal ehrlich, ein Opfer seines Körpers. Wir stehen unter der Knute von Mutter Natur. Wenn der Körper sagt, du bekommst jetzt einen Krebs, dann bekommst du ihn. Opfer! Wir alle sind Opfer!

Guten Morgen!

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Funkenmariechen des Todes

Outlaws

Karl kann sich erinnern, gut sogar, es tickert alles lebensecht durch seinen Kopf, wie er und Herbert damals in den guten alten Tagen mit den Müller-Brüdern geritten sind. Das waren raubeinige Zeiten, in denen noch jedes Barthaar einzeln aufgemalt werden musste. Sie hatten ihre unsichtbaren Pferde draußen auf der Blumenwiese zugeritten.

Karl schüttelt den Kopf bei dem Gedanken daran. Die Strahlen der Mittagssonne kitzeln ihn an der Nase.

Er hatte seinen Hengst BLUTRACHE getauft. BLUTRACHE war kaum zu bändigen gewesen. Karl hatte BLUTRACHE die Sporen in die Seite getrieben und ihm vom Pferdemetzger erzählt. Besonders die Erzählungen, wozu der Metzger fähig war, wenn seine Frau schlecht gelaunt war, zähmten BLUTRACHE schließlich. Mann, war das ein Pferd. Schnell wie der Wind, ein Schweif, der Feuer fing, wenn er mit ihm über die Gräben sprang. Herbert stand am Gatter, die Arme auf dem grauen Holz, und beobachtete alles.

„Hätte nie gedacht, dass du den unter Kontrolle bekommst. Das ist ein verfluchter Teufel. Der wird noch dein Tod sein.“

Herbert schwang sich auf VULKANAUSBRUCH. Sie warteten, bis die Müller-Brüder vorbeikamen und dann ritten sie, die Fäuste vor der Brust, auf ihren imaginären Pferden runter ins Dorf.

Sand wehte vom nahen Kinderspielplatz über die Straße. Irgendwo knirschte ein Schaukelstuhl. Die Sonne stand im Zenit. Sie trabten langsam die Straße entlang. Die Augen der gesamten Dorfbevölkerung klebten wie eine eklige Kaugummimasse auf ihren Gesichtern. Die Leute mochten sie nicht. Die Müller-Brüder waren dafür bekannt, Unfrieden zu stiften. Sie bemalten die Straßen mit Kreide, überfielen Banken und warfen sie ins Gras.

Ganz langsam wippte Karl im Takt des Tieres. Er zog seinen unsichtbaren Hut tiefer in die Stirn. Der Schweiß floss über seinen gesamten Körper. Er drohte an einer Überschwemmung zu krepieren.

Die Müller-Brüder lachten sich schlapp. Sie hatten keinen Respekt vor den Bürgern. Sie verachteten die Art, wie sie lebten, wie sie ihre Strümpfe stopften, wie sie auf ihren Autos saßen, wie sie sich ankleideten, wie sie die Wolken anstarrten. Sie hassten einfach alles.

Willi Müller gab ein Zeichen und sie zogen ihre Gäule an den Zügeln in eine Seitenstraße. Dort stiegen sie ab.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Karl.

Emil Müller spuckte einen Schwall roten Bonbonsaft auf die Straße. Er war ein seelenloser Bandit, ein lupenreiner Outlaw, den die Gesetze nur daran erinnern, welches Verbrechen er noch nicht begangen hatte.

„Wir könnten die Apotheke überfallen“, schlug er mit piepsiger Stimme vor. „Da liegen kostenlose Prospekte, direkt wenn du reinkommst, die greifen wir uns.“

„Aber sie sind doch eh kostenlos“, erwiderte Karl, dem diese Schurkerei nicht ganz einleuchten wollte.

„Schon!“, sagte Emil Müller. „Aber die haben die Dinger doch nicht gedruckt, damit wir sie uns greifen. Nein, das haben sie nicht. Ein solches Verbrechen wird sie sauwütend machen. Sie werden noch in Jahrhunderten davon sprechen.“

Weiter wurde nichts beratschlagt. Es war alles gesagt. Nun zählte einzig die Tat noch.

Man ging über die Straße, betrat den Laden und stand unschlüssig vor der Theke.

„Na, Jungs?“, strahlte Apotheker Sommer sie an.

Eine tödliche Ruhe lag auf dem Geschehen. Man spürte förmlich die Kugeln, die jeden Augenblick die Stille zerreißen würden. Blut würde fließen. Der Tod würde sich die Hände reiben. Hier gab es Arbeit für den Gevatter, die nicht unerledigt bleiben durfte.

„Jungs?“

Keiner der Outlaws brachte ein einziges Wort hervor. Sie schluckten Bilder ihrer Zukunft hinunter: Zuchthaus, Straßenarbeit in Ketten, schließlich das Ende durch das Messer eines Mitgefangenen.

Emil Müller flüchtete zuerst, dann folgten ihm die anderen. Sie sprangen auf ihre Pferde und galoppierten wie die Teufel aus der Stadt.

Sie hielten erst an, da waren sie schon tief in der Waldwüste. Sie zitterten. Das war knapp gewesen, so knapp, es hätte in die Hosen gehen können.

„Gott“, flüsterte Herbert, „habt ihr seinen Blick gesehen. Die Augen haben geleuchtet. Und seine Winchester. Er hat mich hier erwischt.“ Herbert zeigte ihnen eine Sommersprosse.

„Wir müssen ihn versorgen“, sagte Emil Müller. „Er wird uns sonst krepieren.“

Sie entfernten neunzig Kugeln aus Herberts Unterarm. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Ein Wunder. Nach der OP priesen sie den Gott der Verbrecher. Dann lösten sie die Runde vorübergehend auf, weil Emil auf die Tatsache hinwies, dass sie zum Abendessen müssten.

Noch mehr Schläge könnte sich sein Körper nicht leisten. Sie nickten und trennten sich mit dem Versprechen, grausam Rache zu nehmen.