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Mischmasch

Auszüge aus dem Werk des unvergesslichen Urs Schlieper

„Unser erster Tanz im Jenseits. Ich führe sie, muss aber vorsichtig sein, sie nicht zu verlieren. Wir Toten sind nicht ganz bei uns. Ruckzuck hat man den einen oder anderen Knochen in der Hand. Unsere Blicke sind luftig. Sieht sie mich an? Sieht sie mich nicht an? Und die Erotik bleibt auch auf der Strecke. Wir sind längst nackt, abgenagt bis auf die Knochen.“Aus Urs Schliepers Erzählung „Knochentrocken, die Alte – Eine Liebesgeschichte ohne Liebe“

„Schriftsteller kennen keine Gnade. 1993 schrieb ich eine SF-Geschichte, die von einer Gruppe von Schriftstellern handelt, die den Kampf gegen den Konsum, den erbärmlichen, aufgenommen haben. Sie dringen in Warenhäuser ein, metzeln alle nieder, Frauen, Kinder, es ist grauenhaft. Sie errichten ein Literaturregime, wie es schrecklichlicher nicht sein könnte. Nichtautoren werden in Zuschauerlager verfrachtet, um dort auf Großbildschirmen den Lesungen der Schriftsteller beizuwohnen. Am Ende fressen sich die Schriftsteller gegenseitig auf, weil jeder der beste Autor sein will. Die Geschichte wurde – Sie ahnen es bereits – bei allen Magazinen abgelehnt.“ – Urs Schlieper in seiner Autobiografie „Erdleben der Stärke 0“

„1992 schrieb ich eine bis heute unbekannte Geschichte über Einbrecher in Hochwassergebieten. Titel: Die Eintaucher. Sie handelt von Herbert W., der, nachdem er arbeitslos wird, an eine Bande von Verbrechern gerät, die weltweit in Hochwassergebieten in die Häuser einbrechen. Sie tauchen durch die Wohnungen und klauen alles, wirklich alles, weil es so leicht zu transportieren ist, bis sie schließlich ganze Häuser stehlen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu Geld zu machen. Als die ersten Käufer erkranken, kommt man ihnen auf die Spur. Berühmter Satz des Polizisten Kies: „Das ist hier ja alles verschimmelt.“ Herbert W. hängt die Badekappe an den Nagel und flieht nach Osnabrück. Ja, ich erinnere mich gerne daran. Ich schrieb sie während einer Hitzewelle, um mir auf diese Art ein wenig Abkühlung zu verschaffen.“ – Urs Schlieper in seiner Autobiografie „Erdleben der Stärke 0“ 

 

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Funkenmariechen des Todes

Lob der Trägheit

Das Kind sitzt an den Hausaufgaben, ganz verzweifelt, ist es doch erst aus der Schule nach Hause gekommen. Da ist der Kopf bereits über Stunden hinweg gefüllt worden, als wäre er ein Regal, das man mit Biologie und Chemie, Mathematik und Latein bestücken muss, damit, wenn einer nachsehen kommt, ob in dem Laden was zu holen ist, er die Lernpakte in Reih und Glied erblicken kann. Man lernt ja für die Schule. Und nicht fürs Leben. Gute Noten sollen rauskommen, sollen unter einer Arbeit stehen, damit aus dem strebsamen Mädchen später mal eine strebsame Arbeitskraft werden kann.

Lernfabriken sind das, in denen die Kinder an einem Fließband sitzen und auf Begriffe wie Dampf, Hitler, Diogenes starren, ohne Sinn, ohne Verstand, dafür mit Ausdauer. Erschöpft schleppt sich das Kind die Treppen zu unserer Wohnung hoch. So eine Kindheit, die kann man ruhig in der Schule verschleudern, warum also auf dem Fußballplatz oder rauchend hinter einem Wasserwerk rumlungern.

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann vor allem an meine Kunstfertigkeiten im Rumsitzen und Rumstehen. Liegen konnte ich auch wie kein Zweiter. Man Vater, Gott hab ihn selig, hat mich manchmal, wie ich so auf dem Sofa zerfloss, angesehen und gesagt: Wenn du nix kannst, aber fernsehen kannst du. Da lag ich dann, die Augen schon ganz träge vom Müde sein, vom vielen Abhängen. Einer musste auf die Sessel und das Sofa aufpassen. Warum also nicht ich, der sich auf die Bewegungslosigkeit verstand. Nur nicht rühren, lautete mein Motto. Höchstens mal eine Buchseite umschlagen, und weil mir die Schule nicht nur auf den Nerv, sondern auch nicht in den Kopf ging, in keines der Regale, schwänzte ich den Unterricht. Saß hinter einer Garage und las einen Science-Fiction-Roman, rauchte eine Selbstgedrehte, blinzelte in die Sonne, und fühlte mich saumäßig wohl. Schöne alte Zeit der Trägheit.

Und heute? Schnell und schneller soll es gehen, sie können die Jungen und Mädchen nicht schnell genug aufgefüllt haben, um sie auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Da lob ich mir meine Trägheit, mein Kratzen an der Stirn, den Kaffee, die Zigarette, das Starren vom Balkon auf die Straße, das Zählen von Autos, die Gedanken über Vorfälle, die es nie gab.

Währenddessen wird das Kind abgefragt, als säße es bei einem Verhör.

Ach, Kindheit kann so beschissen sein.