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Die Stimmen

Die Stimmen (1)

Samstag, 3. August 2013

Man müsste, denke ich, man müsste ein Tagebuch, also ein künftiges, eins, das vor den Leser:innen bestehen kann, ganz anders angehen, man müsste es, denke ich, von außen betrachten, man müsste es tatsächlich voll und ganz in die literarische Form überführen, und deshalb, denke ich, sollte ich es mit einem ER ausstatten, mit einem ANDEREN, mit einem, den ich auf mich und meine Welt blicken lasse, und der mit einem unbestechlichen Blick ausgestattet ist, den es gar nicht gibt, weil ich mir ja nicht entkommen kann, denke ich, aber ich könnte es versuchen, ich könnte es vortäuschen, weil, darum geht es doch in der Literatur, um die Vortäuschung, um die Fälschung, was mich daran erinnert, etwas über den neuen Roman von Daniel Kehlmann gelesen zu haben, ein Roman mit dem Titel F, der mich wiederum, denke ich, an Orson Welles und seinen Film F WIE FÄLSCHUNG erinnert, ohne dass es da eine Verbindung geben muss, aber auffällig ist es schon, augenfällig, wenn man das so sagen kann, es fällt einem eben so direkt und schonungslos ins Auge. Aber davon wollte ich heute gar nicht erzählen, sondern davon, wie mein neues Tagebuch aufgebaut sein soll, davon, dass es nicht ICH sein soll, der hier erzählt, sondern ER.

Die Hitze der letzten Tage liegt noch bleischwer auf allem und allen, es liegt auf den Dingen wie auf den Menschen, denkt er, während er sein Tagebuch mit Worten füllt, die ihm etwas über ihn und seine Welt verraten sollen, denn wenn sie das nicht tun, denkt er, macht so ein Tagebuch doch gar keinen Sinn; es macht keinen Sinn, und wenn es keinen Sinn macht, wäre es doch besser, man würde es gleich lassen, und das würde er ja auch gerne tun, wenn da nicht dieser Zwang wäre, zu schreiben, auch wenn es wie ein Klischee klingt, aber der Zwang ist da, der Zwang führt ihn jeden Tag zu seinem Schreibtisch hin und lässt ihn schreiben, lässt ihn in den merkwürdigsten Tönen reden, mal mit der Stimme eines Humoristen, mal mit der eines Beerdigungsunternehmers, und es stört ihn nicht, keine eigene Stimme zu haben, weil es seiner Ansicht nach in der Literatur doch eben darum geht, Stimmen zu imitieren, um so viele Leben wie möglich zu leben, aber auch, um den verschiedenen Leben auf die Spur zu kommen, um zu verstehen, was es heißt, wenn man als Mörder oder Opfer lebt, was es heißt, ein Rassist oder keiner zu sein.

Jetzt muss er noch seinen ersten Eintrag überlesen, er muss ihn lesen, um zu entscheiden, ob dies die neue Form ist, mit der er arbeiten will.

Ja, sie ist es!

Sonntag, 4. Juli 2013

Er hatte an diesem Morgen lange geschlafen, er hatte, sagen wir es mal so, für seine Verhältnisse lange geschlafen. Er war so gegen neun Uhr aufgestanden, die Augen zugequollen, sodass er sich durch die Wohnung tasten musste. Erst mal pinkeln, hatte er gedacht, der Rest wird sich dann von selber finden. Seine Frau saß bereits in der Küche, der Kaffee, der ihm wichtig ist, den er braucht, um zu sich und in die Welt zu finden, tröpfelte bereits in die Kanne.

Jetztzeit! Wie ein Asthmatiker steht die Kaffeemaschine da und ackert, während er sich auf den Balkon quält, um seine erste Zigarette zu rauchen.

Das ist doch krank, denkt er und nimmt einen tiefen Zug.

Sie wohnen an einem Berg, keinem Berg, es ist eher ein Hügel, vielleicht sollte man ehrlich sein und es STEIGUNG nennen. Eine Steigung. Im Rücken ihrer Wohnung lauert ein Wald, der Rauschenberg heißt und den er als Kind für seine Spiele missbrauchte. Er hatte den Wald, diesen deutschen Märchenwald, der angefüllt mit Albträumen war, als Cowboy durchwandert. Das war sein Traum gewesen, sein großer Traum. Ein Cowboy werden. Mit seinem Pferd einen Treck anführen, um die Leute, die sich alle auf ihn verließen, nach Kalifornien zu bringen. Hin ins gelobte Land.

Er sitzt da und saugt verzweifelt an seiner Zigarette, während unten Familien ihre Autos beladen, um ihren Treck zu gründen, der sie ins gelobte Freizeitland bringen soll.

Nicht mit ihm.

Er schlendert rüber an seinen Computer und überprüft die Mails, um festzustellen, dass er keine Mails bekommen hat. So wichtig ist er also, dass er nicht eine verschissene Mail erhält. Rasch klickt er sich durch die verschiedenen Seiten. Es sind immer dieselben Seiten. Sollte er daraus schließen, dass er ein langweiliger Mensch ist? Immer dieselben Seiten. Er ist eben ein Gewohnheitstier. Alles muss sich gleichen, sonst macht ihn die Welt nervös. Vielleicht schreibt er ja deshalb, weil er kein Abenteurer ist. Er erlebt alles in seinem Kopf. Da sitzt man sicher, da kann nichts geschehen.

Neben seinem Schreibtisch sitzt ein Wellensittich, der wieder einen Heidenlärm verursacht. Das kleine Vieh, das einem Bekannten zugeflogen war, kreischt sich seine kleine Seele aus dem Leib. Vielleicht seine Art, auf seine Einsamkeit aufmerksam zu machen. Sie müssten sich unbedingt einen zweiten dazu kaufen, aber sie haben es bisher unterlassen, weil der eine bereits Dreck und Lärm für drei Vögel macht.

Während er schreibt, schreiten die übrigen Bewohner an ihm vorüber, seine Tochter und seine Schwägerin, die zu Besuch ist, und die nachher wieder abreisen wird.

Mann, all der Lärm, all die Leute, wie soll man da arbeiten, wie soll man da in Ruhe Weltliteratur verfassen? Hatten andere auch dieses Problem. Hey, saß Marcel Proust, wenn er nicht gerade in seinem Bett lag, neben einem verrückten Wellensittich, um seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ wieder und wieder zu unterbrechen, um diverse Familienmitglieder zu begrüßen? Bestimmt nicht!

So kann er nicht arbeiten. Er muss das Tagebuch für heute abbrechen. Morgen mehr! Oder übermorgen! So schnell wird er nicht aufgeben.

Montag, 5. August 2013

Und wieder ein weiterer Morgen, und das ist gut so, denkt er, denn das ist der Beweis, dass ich noch nicht ins Gras gebissen habe, denkt er. Er hat geschrieben, nicht viel, drei Seiten vielleicht, etwas über drei Seiten, aber das ist in Ordnung so, denkt er, denn der Morgen und die drei Seiten sind der Beweis, dass er noch nicht tot ist, tot wie seine Oma und sein Vater, deren Gräber sie momentan gießen, damit die Blumen nicht eingehen, die Gräber, die sie gießen, damit die Lebenden etwas haben, auf das sie blicken können.

Dort unten ist nicht mein Vater, denkt er, wenn er dessen Grab gießt, wenn er sich den Stein ansieht, der wie ein Mahnmal in der Gegend steht, und ein Mahnmal ist es ja auch, ein Mahnmal, das ihn mahnt, darauf aufzupassen, was er tut. Achte auf dich und deine Handlungen, achte darauf, das Leben so zu leben, dass du ein gutes Gefühl hast, wenn du sterben musst. Als ob man ein gutes Gefühl haben wird, wenn man stirbt. Nichts weiß man, auch nicht, wie man sterben wird. Hoffentlich geht es wenigstens schnell, denkt er. Er will nicht leiden, und zu früh will er auch nicht sterben. Nicht momentan. Die Dinge laufen einfach zu gut, zu gut, denkt er, und dann denkt er an den Film zurück, den sie sich am gestrigen Tag angesehen haben, diesen Film mit Al Pacino und Christopher Walken und Allan Arkin, der vom Abschied erzählte, der wie ein langsamer Blues-Song vom Abschied dreier Gangster erzählte. STAND UP GUYS hieß er. Und er saß da und hätte heulen können, und eine Träne lief bestimmt auch, während er mit seiner Frau und seiner Tochter im Wohnzimmer saß, im dunklen Wohnzimmer, das von Abwesenheit erfüllt war, das von Abschied erfüllt war, vom Abschied eines weiteren Tages und vom Abschied dreier Schauspieler, und genau darüber schreibt er jetzt in seinem Tagebuch, während sich seine Frau plötzlich über ihn beugt, ihr Haar, eine Strähne davon, fällt ihm ins Gesicht, und sie sagt ihm, dass sie einkaufen gehen würde, und nachher müsse sie noch an die Bank, wegen des Girokontos, da gebe es etwas zu klären, sie hole die Tochter noch ab, sagt sie zu ihm, der aus seinen Gedanken auftaucht, der sie wie einer ansieht, der eben erst erwacht ist, es braucht Zeit, bis die Worte in seinem Ohr ankommen, sie brauchen noch viel länger, bis sie in seinem Hirn eintreffen, jetzt müssen die Worte noch verarbeitet werden, aber sie werden erst mit Sinn gefüllt, da hat sie die Wohnung bereits verlassen. Er beschließt, es in sein Tagebuch einzubauen, das Leben ist so, also sollte man es genau so ins Tagebuch einbauen, und dann denkt er, einbauen, wie das klingt, das klingt, als ob ich an einem technischen Gerät bastle, an einer Apparatur. Die Gedanken zischen durch seinen Kopf, und natürlich denkt er auch an gestern, daran, dass sie bei seinem Cousin zum Grillen waren, seinem Cousin, der wie ein Halbbruder für ihn ist, der sich die Haare abrasiert hat und meditiert, der das Glück für sich entdeckt hat, als müsse man das Glück nur vom Boden aufheben und in seine Tasche stopfen. Vielleicht ist das ja auch so, denkt er, während der Vogel seine Schreie ertönen lässt, als wolle er auf sich aufmerksam machen, als würde er vor etwas warnen, das er nicht in Worte fassen kann, weil er ein Vogel ist, der alles in Schreie fasst, und der verzweifelt ist, weil er ihn nicht versteht, weil sein Besitzer (wie abscheulich das klingt) ihn nicht versteht, dabei wäre es so wichtig, dass er, sein Besitzer, ihn, den Vogel, versteht.

Die Tage schreiten voran, sie sind Schritte, die das Leben setzt; kleine, große Schritte. Schritte, die zurück führen, die in eine Nebenstraße führen, die zu einem See führen. Es gibt für das Leben kein Geradeaus, außer dem Geradeaus, das uns in unsere Gräber legen will. Das denkt er, und denkt dann, das reicht für heute.

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2 Antworten auf „Die Stimmen (1)“

Ich bin auch sehr gespannt, was er so zu erzählen hat, und auch darauf, wie er das, was er vielleicht zu erzählen hat, erzählen wird.

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